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«Das Leben leidenschaftlich lieben, Gerechtigkeit leidenschaftlich suchen» – Theologie und Politik bei Marga Bührig (1915-2002)
«Das Leben leidenschaftlich lieben, Gerechtigkeit leidenschaftlich suchen» – so lautete das Motto eines Symposiums zu Marga Bührigs 80. Geburtstag am 21. Oktober 1995 an der Paulus-Akademie in Zürich, das ich in Vertretung von Brigit Keller gemeinsam mit Reinhild Traitler vom Evangelischen Tagungs- und Studienzentrum Boldern organisiert hatte. Freundinnen und Kolleginnen aus der weltweiten Frauenökumene wie Bärbel Wartenberg Potter, Aruna Gnanadason, Mary Hunt, Diann Neu, Elisabeth Schüssler Fiorenza und Herta Leistner waren als Rednerinnen eingeladen und ehrten zusammen mit unzähligen Kolleg:innen aus der Schweiz das Wirken einer Frau, die zu den Pionierinnen der kirchlichen Frauenbewegung in der Schweiz zählt, weltweit vernetzt war und bis heute für viele theologisch und feministisch engagierte Frauen herausforderndes und mutmachendes Vorbild geblieben ist.
Teil I: «Der Kern ist die leidenschaftliche Suche nach Gerechtigkeit» Sehnsucht – Leidenschaft – Gerechtigkeit sind die Schlüsselworte für das, was Marga Bührigs Engagement als Christin, als Pionierin der kirchlichen Frauenbewegung und später als Feministin charakterisiert hat: eine Sehnsucht, die über das Machbare oder Erreichte hinausdrängte und gespiesen war vom uneingelösten Traum eines «Lebens in Fülle» für alle Menschen; ein Feuer der Leidenschaft, das aus dem klaren und nüchternen Blick auf die Ungeheuerlichkeiten unserer Welt immer wieder den Funken der kämpferischen Hoffnung schlug und eine unermüdliche Arbeit für Gerechtigkeit, die die leidenschaftliche Sehnsucht nach Gerechtigkeit in konkrete Projekte und Schritte des Handelns umsetzte. Die leidenschaftliche Liebe zum Leben und die leidenschaftliche Suche nach Gerechtigkeit am Leben zu halten, war auch für Marga Bührig nicht immer leicht. An ihnen festzuhalten angesichts der Katastrophen dieser Welt, sie nicht aufzugeben trotz vieler enttäuschter Hoffnungen, sie nicht zu verlieren im schwierigen und schmerzvollen Prozess des Altwerdens, das war auch Arbeit, Widerstandsarbeit. Gefragt, was es denn sei, das sie nicht resignieren lasse, meinte sie: «Der Kern ist die leidenschaftliche Suche nach Gerechtigkeit.» Dass Marga Bührig auch mit Gefühlen der Resignation und Hoffnungslosigkeit und mit den Begrenzungen durch das Alter gerungen hat, das machte sie nicht kleiner, sondern als Vorbild grösser für uns. «Uns»: Damit ist eine kleine Gruppe von feministischen Theologinnen in Basel gemeint, die sich 15 Jahre lang fast monatlich mit Marga Bührig und ihren Lebensgefährtinnen Else Kähler und Elsi Arnold getroffen und ein Stück Leben miteinander geteilt und gefeiert hat – bis zu Marga Bührigs Tod 2002. Wie oft haben wir in unserer Frauengruppe über den Zustand der Welt geklagt, unsere Gefühle der Angst und Ohnmacht ausgetauscht, und wie oft hat uns Marga aus dem Lamentieren herausgerissen, mit ihrem beharrlichen «Trotzdem» das Feuer unserer gemeinsamen Träume und Visionen wieder angefacht, so wie wir umgekehrt auch sie in Zeiten der Mutlosigkeit aufgerichtet und ermutigt haben. «Frauenkirche» nannten wir uns – eine kleine Gemeinschaft von Gerechtigkeit suchenden Freundinnen verschiedenen Alters – Marga war die Älteste von uns. Es sind diese persönlichen Erfahrungen mit Marga Bührig, das gemeinsame Auf-dem-Weg-sein als feministische Theologinnen sowie ihre Schriften, in denen meine Würdigung des theologischen und politischen Engagements dieser aussergewöhnlichen Frau wurzelt. In einer Rede am Deutschen Evangelischen Kirchentag 1997 in Leipzig, in der sie ihr «Vermächtnis» vorgetragen hat, sagte sie: «Ich habe mir immer gewünscht, zu Bewegungen und Gruppierungen zu gehören, die auch über meinen Tod hinaus weitergehen würden, sozusagen als Bestätigung dafür, dass all das, was ich mit anderen zusammen versucht habe, nicht vergeblich gewesen ist. Nach meiner Überzeugung ist mir dieser Wunsch erfüllt worden.» Die Bewegungen oder Lebensströme, von denen sie damals sprach, waren «die Frauenbewegung in verschiedenen Phasen und Gestalten; in den letzten mehr als zehn Jahren vor allem der Zweig, der sich trotz allem Vorwärtsdrängen immer wieder zurückbesinnt auf die Verwurzelung in der jüdisch-christlichen Tradition. Ich brauche gerne die Ausdrücke feministische Theologie und Frauenkirche dafür. Der zweite Strom ist der tragende Grund und die befreiende Bewegung göttlicher Liebe auch in einer Welt voll grauenhafter Vernichtung und Zerstörung und die Vision einer Menschengemeinschaft nach dem Vorbild Jesu.» Getragen vom Glauben, dem Geborgensein in der Gottes- und Menschenliebe, «die ich nicht voneinander trennen kann», wie sie einmal schrieb, und verankert in der Frauenbewegung und später im Feminismus hat Marga Bührig zeit ihres Lebens zur Schaffung einer anderen, friedvolleren, menschen- und frauengerechteren Welt beigetragen: als Leiterin des Reformierten Studentinnenhauses Zürich, als Mitbegründerin des Evangelischen Frauenbundes der Schweiz und als Redaktorin seines Mitteilungsblatts «Die Evangelische Schweizerfrau», später als Redaktorin der ökumenischen Zeitschrift «Schritte ins Offene», als Studienleiterin und spätere Gesamtleiterin des Evangelischen Tagungs- und Studienzentrums Boldern, als Mitbegründerin der «Frauen für den Frieden» in der Schweiz und später als Mitgründerin der cfd-Frauenstelle für Friedensarbeit sowie als eine der sieben Präsident:innen des Ökumenischen Rates der Kirchen. Mit ihren Büchern und Vorträgen zu feministischer Theologie, ihrem Mit-Dabei-Sein an Veranstaltungen und ihren klaren, engagierten Voten hat sie auch einen unverzichtbaren Beitrag zur Entwicklung feministischer Theologie und Frauenkirche in der Schweiz geleistet. Überwindung des Patriarchats, Einsatz für die Rechte homosexueller Menschen und für die volle gesellschaftliche und rechtliche Anerkennung verschiedener Lebensformen, Suche nach neuen Formen der Beziehung von Frauen und Männern, ohne Diskriminierung, ohne Herr-schaft: Dies sind für sie keine leeren Worte gewesen, sondern zentrale politische Anliegen, die sie mit ihrer Arbeit als Theologin und Publizistin verfolgt hat. Und anders als viele andere arrivierte Frauen hat sie sich nicht gescheut, sich in der Öffentlichkeit als Feministin zu bezeichnen und für die Ziele des Feminismus einzutreten. Sie hat uns Jüngeren eindrücklich vorgelebt, dass sich Altersweisheit und Radikalität nicht auszuschliessen brauchen. Marga Bührig hat aber auch ein Stück Geschichte der feministisch-theologischen Bewegung in der Schweiz geschrieben. Mit ihrem Aufruf am 1. Schweizer Frauenkirchenfest in Luzern 1987 «Wir Frauen sind Kirche – worauf warten wir noch?» hat sie den Gefühlen vieler Frauen Ausdruck verliehen und sie ermutigt, ihre eigene religiöse und theologische Definitionsmacht in Anspruch zu nehmen. Nicht mehr länger Bittstellerinnen sein, draussen vor der Tür. Nein, wir Frauen sind schon längst da, mittendrin, waren immer schon Kirche. Wir Frauen sind Kirche! Dieser Ausspruch von Marga Bührig wird wohl als einer der meistzitierten Sätze in die Annalen der kirchlichen Frauenbewegung der Schweiz eingehen. Er ist zum Motto einer schweizweiten Bewegung von christlichen Frauen geworden, die in den letzten gut 40 Jahren neue feministische und politische Räume geschaffen und gestaltet und immer wieder Frauen-Menschenrechte in Kirche und Gesellschaft eingefordert hat, die eine Fülle feministisch-theologischer Projekte, Vereine, Netzwerke und Veranstaltungen ins Leben gerufen und Spuren im Leben unzähliger Frauen hinterlassen hat.[1] Marga Bührigs Theologie war das, was wir heute als kontextuelle Theologie bezeichnen. Sie bezog sich auf aktuelle Probleme und Fragen von Menschen in unserer Gesellschaft, mehrheitlich Frauen, deren Situation von der akademischen Theologie kaum theologisch reflektiert wurde. Ihre theologischen Überlegungen hatten zudem meist einen Bezug zu ihrer eigenen Lebensgestaltung, die sie in einem grösseren gesellschaftspolitischen Rahmen zu erhellen versuchte. Marga Bührig hat kein grosses systematisches Werk geschaffen. Zu ihrer Zeit – sie wurde 1915 geboren und studierte ab 1945 Theologie – gab es kaum Frauen, die Theologie studierten und sich theologisch äusserten. Zudem hatte sie «nicht die ökonomische Absicherung einer akademischen Karriere, um in der Abgeschiedenheit von Studierzimmern kluge Bücher zu schreiben»[2], sondern verdiente ihren Lebensunterhalt während der Zeit ihres Theologiestudiums als Lehrerin für Deutsch und Geschichte. Denn sie hatte in ihrem Erststudium Germanistik und Neuere Geschichte studiert. Auch nach Abschluss des Theologiestudiums führte ihr Weg nicht in den universitären Bereich, sondern in die kirchliche Bildungs- und Frauenarbeit. Ihre Theologie fand ihren Niederschlag daher in einer Vielzahl grösserer und kleinerer Aufsätze, Artikel und Vorträge zu aktuellen gesellschaftlichen und gesellschaftspolitischen Fragestellungen, die sie in Beziehung zum Evangelium brachte. Ihre Theologie war so gesehen stets politisch. Marga Bührigs theologisches und politisches Denken lässt sich auch in zwei Büchern erfassen, die sie beide im Jahr 1987, im Alter von 72 Jahren publiziert hat: «Spät habe ich gelernt, gerne Frau zu sein – Eine feministische Autobiographie», in der sie ihren persönlichen und beruflichen Werdegang reflektiert, sowie «Die unsichtbare Frau und der Gott der Väter. Eine Einführung in die feministische Theologie», die auf Vorlesungen basiert, die sie im Sommersemester 1986 an der Theologischen Fakultät Luzern zum Thema gehalten hatte.
Teil II: Wie wurde Marga Bührig zu der Frau, als die sie in die Geschichte der kirchlichen Frauenbewegung eingegangen ist? Was waren ihre theologischen und politischen Anliegen? Diesen Fragen möchte ich im zweiten Teil meines Vortrags anhand ihrer Autobiographie nachgehen. Ihr persönlicher Rückblick auf ihren Werdegang kann dabei zugleich als ein Stück Geschichte der Frauenbewegung im 20. Jahrhundert gelesen werden. Da und dort stütze ich mich auch auf das Buch von Evelyne Zinsstag und Dolores Zoé Bertschinger: «Aufbruch ist eines, und Weitergehen ist etwas anderes», in dem Evelyne Zinsstag u.a. Marga Bührigs Bedeutung für die Entstehung der kirchlichen Frauenbewegung in der Schweiz untersucht hat. Zentrale Themen, mit denen Marga Bührig sich im Laufe ihrer Berufstätigkeit auseinandersetzte, waren die Stellung der Frau in Beruf und Kirche, die «ledige» bzw. alleinstehende erwerbstätige Frau, Haus- und Lohnarbeit, Ehe und Ehelosigkeit, Homosexualität und Liebe unter Frauen, das Sichtbarmachen von Frauen und ihrer theologischen Stimmen, die weltweite Ökumene und die Ökumene der Frauen und in den letzten zwei Jahrzehnten ihres Lebens der Feminismus als Patriarchatskritik und als Arbeit für den Frieden. Mit einigen dieser Themen war sie ihrer Zeit weit voraus. Doch fangen wir mit dem Anfang an: Geboren wurde Marga Bührig 1915 in Berlin, als Tochter eines deutschbaltischen Vaters und einer aus dem polnischen Adel stammenden Mutter. Von 1922 bis 1926 lebte sie mit ihren Eltern in Baden-Württemberg, bevor die Familie 1926 aufgrund der kriegsbedingten Lungenkrankheit des Vaters nach Chur zog.[3] Marga Bührig absolvierte dort die Kantonsschule und legte 1934 die altsprachliche Matura ab. Im gleichen Jahr liess sie sich einbürgern und studierte dann fünf Jahre Germanistik und neuere Geschichte in Zürich, Bern und Berlin. 1939 promovierte sie zum Thema «Hebbels dramatischer Stil». Gleichzeitig erwarb sie sich das Diplom als Mittelschullehrerin.[4] In ihrer Autobiographie erzählt sie, dass ihr Weg von vielen Brüchen und Aufbrüchen und drei Bekehrungen geprägt war: «einmal zu einem sehr engen Christentum, zu einer nur persönlich verstandenen Frömmigkeit, einmal zurück zur 'Welt', aber auch zur Sprachlosigkeit, zum Fragen und Hören und Ernstnehmen gesellschaftlicher Realitäten, einmal zum Feminismus. In jeder 'Bekehrung' war etwas von mir selbst, und von jeder ist etwas geblieben und weitergegangen.»[5] Ich möchte im Folgenden die drei Bekehrungen etwas näher beleuchten, da sich in ihnen auch ihre Entwicklung von einem frommen und engen Christentum zu einem sozial, politisch und feministisch engagierten christlichen Glauben ablesen lässt.
1. Bekehrung zum christlichen Glauben Während ihres Studiums der Germanistik und Geschichte (1934-1939) fand durch ihre Liebesbeziehung zu einem verheirateten Pfarrer das statt, was sie ihre 1. Bekehrung nannte: die Bekehrung zum christlichen Glauben. Aufgewachsen ohne Bezug zur Kirche, da ihre Eltern nicht zur Kirche gingen, ja dieser kritisch gegenüberstanden, liess sie sich als Jugendliche 1931 konfirmieren, um in ihrer Klasse dazuzugehören. In Erinnerung geblieben ist ihr der Konfirmationsspruch, der sie durch ihr Leben begleitet hat: «Selig sind, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit, denn sie werden gesättigt werden» (Mt 5,6). Der Same für ihr späteres Lebensmotto – die leidenschaftliche Suche nach Gerechtigkeit – wurde so bereits in ihrer Jugend gelegt. In die Studienjahre fällt dann die bereits erwähnte Beziehung zu einem verheirateten Pfarrer, durch den sie zu einem persönlichen Glauben findet. Sie fängt an, in der Bibel zu lesen, hört Predigten und Vorlesungen von Emil Brunner, bei dem sie auf ein Denken trifft, das auch ihren Verstand befriedigt, und gleichzeitig auf eine Frömmigkeit, die sie überzeugt.[6] Als Folge ihrer Bekehrung tritt sie Frauen- und Mädchenbibelkreisen bei und arbeitet dort eifrig mit, erlebt die Kraft einer Gemeinschaft. Ihr Glaube wird nun enger, wie sie rückblickend meint: «Wir lasen die Bibel wörtlich, nach dem Schema: Sünde – Busse – Erlösung – Freude. Wir waren entschlossen, ein Christus-gemässes Leben zu führen, wir verabscheuten die 'Welt'.»[7] Auch der Zweite Weltkrieg, der in dieser Zeit tobte, berührte ihren Glauben nur insofern, als sie das Böse und Grauenvolle, das da geschah, mit der Sünde, dem Abgefallensein der Menschen von Gott in Verbindung brachte. «Glaube hatte damals für mich nichts mit Politik zu tun oder eben nur insofern, als er Kraft zum Durchhalten auch in schrecklichen Zeiten gab.»[8] Die «Flüchtlingsmutter» Gertrud Kurz und der Flüchtlingspfarrer Paul Vogt waren für sie ferne Heldengestalten; die wirklichen politischen Zusammenhänge begriff sie, ein Kind des deutschen Idealismus, nicht, wie sie selbstkritisch schreibt.[9] Auf der Ebene des persönlichen Glaubens war Christus ihr persönlicher Erlöser, und als Mitarbeiterin einer evangelischen Wochenzeitung schrieb sie unbekümmert um Sachkenntnis über Gott und die Welt. Ihre Texte von damals beurteilt sie im Nachhinein so: «Wenn ich das heute lese, erschrecke ich über meine Härte und Intoleranz, über die starre Moral (…) und über die Absolutheit der Aussagen. Eine zweite Bekehrung war fällig, war überfällig.»[10]
2. Bekehrung zur «Welt» In dieser zweiten Bekehrung, der Bekehrung zur Welt, die ein jahrelanger Prozess war, ging es für Marga Bührig darum, die gesellschaftlichen Realitäten wahr- und ernstzunehmen sowie Bibeltext und Lebensrealitäten zusammenzubringen. Ein erster Schritt in Richtung Öffnung auf die Welt war ihr Entschluss, Theologie zu studieren. Denn sie hatte in ihrer Arbeit in den von der Kirche unabhängigen Mädchen-Bibelkreisen erkannt, dass die sog. Laien in der Kirche «niemand» waren. Sie veröffentlichte daher 1943 ein Büchlein mit dem Titel: «Und wir? Ein Wort zur Not unserer Kirche». Sie schreibt dazu: «Die Trennung von Verkündigung und Leben, die Kirche als Pfarrer- und Sonntags-Kirche, die Problematik der Volkskirche – das waren die Ansatzpunkte meiner Kritik, und was ich suchte, war eine Gemeinschaft, eine Kampfgemeinschaft in einer schwierigen Zeit (das Büchlein erschien 1943), eine Gemeinschaft der Seelsorge und der gegenseitigen Hilfeleistung, des gemeinsamen Gebets.»[11]
Theologiestudium als Öffnung auf die Welt Das Studium der Theologie, das Marga Bührig 1945 in Zürich begann, sollte ihr helfen, den Gesprächen mit den Pfarrern gewachsen zu sein, sich theologisches Wissen anzueignen und Zusammenhänge zu erkennen, um ebenbürtig zu sein und sich besser für die Laien einsetzen zu können. Pfarrerin werden wollte sie nicht – was damals allerdings auch noch gar nicht möglich war – da ihre Skepsis der Institution Kirche gegenüber zu gross war.[12] Im Theologiestudium lernte sie, dass man die aus dem Germanistikstudium bekannte Methode der Textkritik auch auf biblische Texte anwenden kann. Gleichzeitig wurde sie in ihren Bibelarbeiten mit Frauen von einer Laiin dazu gebracht, «etwas zu tun, was aller damaligen Universitäts-Theologie widersprach: einen Bibeltext unter ein Lebensthema zu stellen, (…) beide sehr nah miteinander zu verbinden, nicht nur zu fragen, was die Bibel zum Leben sagt, sondern Lebenssituationen ernst zu nehmen, ein Gespräch zwischen Text und Leben zu führen».[13] Mit diesem Ansatz nahm sie eine Methode der Bibelauslegung vorweg, die heute in Bibelarbeiten, auch feministisch-theologischen, weit verbreitet ist. Auch das Thema einer theologischen Doktorarbeit, mit dem sie sich gegen Ende des Studiums auseinandersetzen wollte, wird später eines der zentralen Themen feministischer Theologien sein: die biblische «Lehre von der Frau», der Frau in der Bibel oder in der Theologie. Doch sie stiess mit ihrem Vorhaben bei Emil Brunner auf kein Gehör, gedemütigt und verletzt gab sie ihr Vorhaben auf – eine Erfahrung, die viele Studentinnen bis in die jüngste Zeit hinein machten, da «Frauenthemen» bzw. feministische Fragestellungen bei vielen männlichen Theologen als unwissenschaftlich galten.[14] Marga Bührig gründete deshalb gegen Ende ihres Lebens 1997 eine Stiftung, die Forschung auf dem Gebiet der feministischen Befreiungstheologie fördern sowie Forschungsergebnisse einer breiten Öffentlichkeit bekanntmachen will und seit 1998 einen Förderpreis für Forscherinnen ausrichtet (www.marga-buehrig.ch). Sie selber kam 50 Jahre nach ihrem Theologiestudium dann doch noch zu einem Doktortitel in Theologie: Die Theologische Fakultät der Universität Basel verlieh ihr 1998 die Ehrendoktorwürde.
Theologie im Kontext der kirchlichen und gesellschaftlichen «Frauenfrage» Ein weiterer wichtiger Schritt zur «Bekehrung zur Welt» war die Zeit im Reformierten Studentinnenhaus, das sie 1945 gründete und ab 1949 zusammen mit ihrer Freundin, der Theologin Else Kähler, leitete. Von 1945-1959 übte sie mehrere berufliche Tätigkeiten gleichzeitig aus: Neben dem Theologiestudium verdiente sie ihren Lebensunterhalt als Lehrerin für Deutsch und Geschichte, leitete das Wohnheim für Studentinnen, engagierte sich im Nachgang zum Dritten Schweizer Kongress für Fraueninteressen in der evangelischen Frauenarbeit, gründete 1947 den Evangelischen Frauenbund mit und wirkte 24 Jahre als Redaktorin seines Mitteilungsorgans «Die Evangelische Schweizerfrau», das monatliche Beiträge von Expert:innen zu gesellschaftspolitischen und religiösen Themen bot, hielt Vorträge und schrieb Artikel. Vierzehn Jahre lang, von 1945-1959 – davon elf gemeinsam mit Else Kähler – lebte sie im reformierten Studentinnenhaus mit jungen Frauen in einer vom Evangelium geprägten Lebensgemeinschaft. Seit den 1950er Jahren war die «Frauenfrage» für Marga Bührig ein wichtiges Thema. Ausgangspunkt war um 1950 die theologische Reflexion der Situation der «ledigen», unverheirateten, berufstätigen Frau. Haushalt und Ehe galten in der damaligen Zeit als natürliche Aufgaben der Frau, Berufstätigkeit war nur für unverheiratete Frauen möglich, nach der Heirat erfolgte die Kündigung. Auch in der reformierten Kirche galt die Zölibatspflicht für Frauen, d.h. verheiratete Pfarrerinnen waren nicht wählbar.[15] Auf der anderen Seite wurden unverheiratete Menschen pathologisiert und die Bedeutung der Ehe medizinisch, psychologisch und auch theologisch betont.[16] Vor dem Hintergrund dieses Frauenbildes der 1950er Jahre suchten Marga Bührig und Else Kähler ihre Situation als ehelose, berufstätige Frauen theologisch zu reflektieren und positiv zu deuten, ja allgemein ein positives Rollenbild der ehelosen Frau zu entwickeln und Anerkennung für diese Form der Lebensgestaltung zu gewinnen. Biblische Anknüpfungspunkte fanden sie in der Gottebenbildlichkeit der Frau (Gen 1, 27), der Ehelosigkeit in der Bibel als Freisein zum Dienst, wie sie bei Jesus und Paulus verstanden wird (Mt 19,10-12; 1 Kor 7,25-38), sowie in der Möglichkeit, zwischen Ehe und Ehelosigkeit zu wählen und der Relativierung der Ehe bzw. Aufwertung der Ehelosigkeit bei Paulus (1 Kor 7,25ff.).[17] Wie Marga Bührig rückblickend meint, stellten sie dabei das vorherrschende patriarchale Frauenbild nicht in Frage, sondern deuteten es auf ihre eigene Situation hin um. Das andere Thema, mit dem sie und Else Kähler sich damals vertieft auseinandersetzten, war der Beruf, die Berufstätigkeit der Frau, wodurch sich ein immer stärkeres «Einbeziehen der gesellschaftlichen Verhältnisse» in ihr Denken ergab. 1952 organisierten sie eine Tagung zum Thema «Berufung und Beruf», und 1958 publizierte Marga Bührig eine Broschüre mit dem Titel «Wie wird unser Leben ganz? Ein Büchlein für und über die berufstätige Frau». Sie kritisiert darin u.a., dass die bürgerliche Frauenbewegung den Fokus auf die rechtliche Gleichstellung der Frau lege, dabei aber die Doppelaufgabe der Frauen in Beruf und Familie, Öffentlichkeit und privatem Leben zu wenig berücksichtige. Sie propagiert ein 3-Phasen-Modell – Ausbildung, Familienphase, Wiedereinstieg – und fordert Frauen auf, sich politisch zu engagieren und gesellschaftliche Strukturen mitzugestalten, damit sich an ihrer Situation etwas ändere.[18] Ab den 1960er Jahren finden dann auf Boldern viele Veranstaltungen zu den geschilderten Themen statt. Ein wichtiger Meilenstein für die gesellschaftliche Anerkennung der Frauenarbeit und der berufstätigen Frau war die Schweizerische Ausstellung für Frauenarbeit SAFFA 1958 in Zürich, an der auch Marga Bührig als Vertreterin des Evangelischen Frauenbundes mitwirkte. Sie schrieb zudem die Texte für Informationstafeln, die den Eingangsweg ins Ausstellungsgelände säumten und den Weg der Frau durch die Jahrhunderte illustrierten. Anhand dieser Tafeln wurde die Situation der Frau historisch, aber auch in Bezug auf die Gegenwart reflektiert und vermittelt, dass Frauen nun die Bühne der Welt betreten und an der Öffentlichkeit und am Arbeitsmarkt partizipieren. Ein eigens für die SAFFA konzipiertes SAFFA-Kirchlein wurde vom Evangelischen und vom Katholischen Frauenbund sowie dem Verband Christkatholischer Frauen der Schweiz gemeinsam betrieben und gilt als Geburtsort der ökumenischen Frauenbewegung der Schweiz.[19] An der SAFFA organisierten sich Frauen also politisch und konfessionell bzw. interkonfessionell und ökumenisch. Das ökumenische Engagement hatte bei Marga Bührig aber auch eine weltweite Dimension und war ein weiterer wichtiger Schritt in ihrer Hinwendung zur Welt.
Weltweite Ökumene und Ökumene der Frauen Marga Bührigs weltweites ökumenisches Engagement oder wie sie es in ihrer Autobiographie betitelt: «Erste Schritte in der weltweiten Männerkirche» hatten 1954 mit ihrer Teilnahme an der 2. Vollversammlung des ÖRK in Evanston begonnen – nicht als offizielle Delegierte, sondern als Besucherin, delegiert vom Evangelischen Frauenbund der Schweiz.[20] An der Vollversammlung des Reformierten Weltbundes, die kurz zuvor in Princeton stattgefunden hatte und an der sie ebenfalls teilnahm, wurde sie für den unbezahlten Posten einer Europa-Sekretärin der neu gegründeten Frauenabteilung vorgeschlagen und gewählt. Dieser Alibi-Posten, wie sie es im Rückblick nennt, ermöglichte es ihr aber, an Sitzungen des Exekutiv-Komitees teilzunehmen sowie weitere Reisen zu unternehmen und Kontakte mit Frauen zu knüpfen, die ihren weiteren Weg in der Ökumene prägen.[21] Eine von ihnen war Madeleine Barot, die später die Abteilung «Zusammenarbeit von Mann und Frau in Kirche, Familie und Gesellschaft» des ÖRK leitete. Marga Bührigs ökumenisches Engagement führte sie aber auch zur Mitwirkung in der Ökumenischen Vereinigung der Akademien und Laienzentren in Europa, deren Präsidentin sie von 1976-82 war. Als solche hat sie zahlreiche ökumenische Prozesse in der Schweiz und Europa mitgestaltet. Marga Bührig war auch eine der 14 Frauen, die 1968 WELG (Women's Ecumenical Liaison Group) gründeten, und hat als Co-Präsidentin viel Herzblut in diese ökumenische Frauen-Verbindungsgruppe investiert.[22] An den Vollversammlungen des ÖRK nahm sie weiterhin teiI. Im Lauf der Jahre fanden die Anliegen der Frauen auch im ÖRK mehr Gehör, wie Marga Bührig schreibt. So fand 1974 innerhalb des ÖRK eine Frauen-Konferenz zum Thema «Sexismus in den siebziger Jahren» in Berlin statt, auf der die Forderungen von Frauen sehr deutlich und lautstark zur Sprache kamen. Als Folge davon drängte der ÖRK auf eine stärkere Vertretung von Frauen in den Delegationen für die Vollversammlungen. So konnten an der Vollversammlung 1975 in Nairobi, an der Marga Bührig als Vertreterin der «Ökumenischen Vereinigung der Akademien in Europa» teilnahm, die anwesenden Frauen erstmals ihre Anliegen an einer ganzen Plenarversammlung darstellen. Von 1978 bis 1982 lief zudem eine Studie zum Thema «Die Gemeinschaft von Frauen und Männern in der Kirche» durch die Mitgliedkirchen des ÖRK.[23] An der 6. Vollversammlung des ÖRK in Vancouver 1983 waren Frauen dann tatsächlich in grösserer Zahl anwesend: Zum ersten Mal in der Geschichte der Ökumene machten Frauen in einem offiziellen, weltweiten kirchlichen Gremium zwar nicht 50%, aber wenigstens ungefähr ein Drittel der Teilnehmenden aus, und zwar nicht nur der stimmberechtigten Delegierten, sondern auch der Redner:innen und Leiter:innen.[24] Und im Januar 1987 beschloss der Zentralausschuss des ÖRK, ab Ostern 1988 eine kirchliche «Frauendekade» auszurufen: «Die ökumenische Dekade der Kirchen in Solidarität mit den Frauen», die kirchlichen Frauen und Frauenorganisationen weltweit grossen Auftrieb gab und in der Schweiz auf reformierter Seite u.a. den Anstoss zur Gründung einzelner kirchlicher Frauenstellen gab. Für Marga Bührig persönlich war die Vollversammlung in Vancouver ein wichtiger Einschnitt in ihrem Leben: Sie wurde als eine von drei Frauen ins siebenköpfige Präsidium gewählt, dessen Mitglied sie bis 1991 blieb. Ohne ihr Wissen hatten sie Freunde und Freundinnen als Kandidatin fürs Präsidium vorgeschlagen. Sie sträubte sich zunächst gegen die Wahl, weil sie sich als 68-Jährige ihren Ruhestand anders vorgestellt hatte. Sie zögerte aber auch, weil die Wahl viele Jahre Repräsentanz in einem Leitungsgremium mit festen patriarchalen Strukturen bedeutete, auch wenn nach Vancouver zum ersten Mal drei Frauen diesem höchsten Gremium des Weltkirchenrates angehörten. Sie stellte sich die Frage, ob sie sich wirklich nochmals und an so exponierter Stelle auf die Kirche einlassen wollte, deren patriarchale Verfasstheit sie als feministische Theologin zunehmend zu kritisieren begann.[25] Schliesslich stellte sie sich zur Wahl: Zum einen, weil sie sich Jahrzehnte lang für die Mitarbeit von Frauen auf allen Ebenen kirchlichen Lebens eingesetzt hatte und nun, da ihr ein so hohes Amt angeboten wurde, nicht «kneifen» konnte. Zum anderen, weil die Ökumene für sie ein Lebensthema war und sie, wie sie oftmals im privaten Kreis geäussert hatte, ohne ihre «ökumenischen Erfahrungen nicht – oder kaum – mehr Christin wäre».[26] Die ersten Jahre in den Strukturen einer Institution, deren Spielregeln ihr fremd waren, empfand sie als mühsam. Eine Reise im Sommer 1985 mit einer kleinen Delegation zu den ÖRK-Mitgliedskirchen in Zentralamerika wurde dann aber zu einer einschneidenden Erfahrung, die sie mit ihrem Amt versöhnte: «… mir war klargeworden, wie wichtig die Solidarität des ÖRK für die Unterdrückten und Entrechteten war. Solange Menschen, wie wir sie auf unserer Reise und dann auch in den Menschenrechts-Gruppen in Argentinien getroffen hatten, vom ÖRK unterstützt werden, lohnt es sich, auch mühselige Verhandlungen durchzustehen.»[27] Die wichtigste Erfahrung, die sie aus der Begegnung mit diesen Gruppen mit nach Hause nimmt: mit eigenen Augen gesehen zu haben, wie Glaube und Handeln eins werden können. In den Jahren 1988-90 nahm Marga Bührig dann die Herausforderung an, in einer schwierigen Situation Moderatorin der Vorbereitungsgruppe für die ÖRK-Konvokation zu «Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung» in Seoul zu werden [28] und amtete dann im Februar 1990 als eine der Co-Präsidentinnen dieser Weltkonferenz. An seiner Vollversammlung 1983 in Vancouver hatte der ÖRK nämlich zu einem konziliaren Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung aufgerufen, der formell in die ÖRK-Konvokation in Seoul 1990 mündete. Die Trias der Themen griff die damals aktuellen Herausforderungen auf: die Verschuldung der Länder im globalen Süden und die wachsende Ungerechtigkeit der Weltwirtschaft, die atomare Bedrohung durch das Wettrüsten und die Zerstörung der Natur. Der konziliare Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung war für Marga Bührig eines ihrer grossen Anliegen ihrer ÖRK-Präsidentschaft, und sie hat sich, auch gegen Widerstände, für diese grosse ökumenische Vision eingesetzt, die für sie zutiefst verbunden war mit der biblischen Vision vom Reich Gottes.[29]
Theologie und Politik in der Akademiearbeit auf Boldern (1959-1981) Eine wichtige berufliche Etappe in Marga Bührigs Leben, die schon vor der Arbeit im ÖRK-Präsidium zu einer zunehmenden Politisierung ihres Denkens und ihrer Theologie geführt hatte, war die Akademiearbeit auf Boldern. 1959 wurden Marga Bührig und Else Kähler gemeinsam als Studienleiterinnen des Evangelischen Tagungs- und Studienzentrum Boldern angestellt (damals: Reformierte Heimstätte Boldern), zuständig für den Studienbereich «Die Frau in Kirche und Gesellschaft». Ihre Anstellung war in gewisser Weise ein Politikum. Denn sie hatten zur Bedingung gestellt: Entweder beide oder keine! Im Rückblick meint Marga Bührig dazu: «Heute frage ich mich, was die Männer wohl dachten, die damals diesen Beschluss fassten. Offenbar waren wir durch unsere langjährige gemeinsame Arbeit (…) so gut ausgewiesen, dass niemand offen nach unseren persönlichen Beziehungen zu fragen wagte. Spielte sie wirklich keine Rolle? Ich meine, dass das heute anders wäre. Heute würde man offen oder versteckt fragen: Sind die beiden lesbisch? (…) Wie würden wir heute antworten, und wie würden wir mit dem Wort lesbisch umgehen?»[30] Marga Bührig hat sich selber nicht als lesbisch bezeichnet, hatte Mühe mit dem Wort, weil es für sie in unserer Kultur zu stark sexuell konnotiert ist, wie sie schreibt. «Wir lebten in einer irgendwie selbstverständlichen gegenseitigen Geborgenheit von Wärme und Zärtlichkeit, die nach aussen sicher ausstrahlte, aber nicht öffentlich sichtbar wurde.»[31] Später jedoch, kurz vor ihrer Pensionierung 1981 und nach der Begegnung mit lesbischen Feministinnen in den USA erkannte sie, dass es bei «lesbian» um eine politisch verstandene Bezeichnung, um eine «Solidarisierung der 'Frauen-identifizierten Frauen' geht, auch um Solidarität mit einer Lebensform, die immer noch von der Gesellschaft (und erst recht in der Kirche) geächtet wird»[32]. In ihrer Arbeit als Studienleiterin auf Boldern hatte sie sich bereits Mitte der 1970er Jahren gegen die Diskriminierung von homosexuellen Männern und Frauen engagiert und ab 1974 gemeinsam mit Else Kähler und in Kooperation mit der katholischen Paulus-Akademie Zürich Tagungen zum Thema durchgeführt. Sie hat dabei nicht nur viel gelernt, sondern auch Anfeindungen erfahren. Unvergesslich eine Telearena-Sendung des Deutschschweizer Fernsehens aus dem Jahr 1978 zum Tabuthema «Homosexualität», in der die Emotionen hoch gingen und Marga Bührig inmitten von schwulen Aktivisten und christlichen Gegnern, die mit Bibelzitaten um sich warfen, für ein breiteres Verständnis von Sexualität und gleichgeschlechtlicher Liebe warb. Ich stelle mir vor, sie wäre wohl höchst erfreut über die Tatsache, dass es heute in den reformierten Kirchen der Schweiz queere Pfarrer:innen gibt. Ihre eigene Lebensform hatte sich anfangs der 1960er Jahre erweitert. 1961 trat die spätere Schulpsychologin Elsi Arnold in ihr Leben, und aus einer Lebensgemeinschaft zu zweit wurde fortan eine Lebensgemeinschaft zu dritt. Gesellschaftlich gesehen ein Kuriosum, wie Marga Bührig schreibt, das in einem Umfeld von ordentlichen, d.h. heterosexuell und patriarchal verfassten Ehen nicht recht einzuordnen war.[33] 1971 wurde Marga Bührig zur Gesamtleiterin von Boldern gewählt und hatte diese Position zehn Jahre lang inne – als damals einzige Frau im deutschen Sprachraum in einer solchen Stellung. Sie, die diese Position selber nicht ins Auge gefasst hatte, musste nun den Umgang mit Macht lernen. Vorbilder gab es in der Akademiearbeit für sie als Frau keine. «Ich musste lernen, dass ich Macht hatte, und ich musste lernen, sie auch wahrzunehmen.» Beeinflusst von Paulo Freires «Pädagogik der Unterdrückten» entwickelte sie mit ihrem Team einen partizipatorischen und transparenten Leitungsstil: «Wir versuchten, bestehende Hierarchien soweit wie möglich abzubauen. Mitbestimmung nicht nur als theoretisches Konzept zu vertreten, sondern wirklich zu gewähren, und offene Mitsprache zu unterstützen und auszuhalten», was in der Praxis nicht immer leicht war.[34] Gemeinsam mit ihrem Team entwickelte Marga Bührig Boldern zu einem Freiraum, in dem die Auseinandersetzung mit wesentlichen Fragen der Zeit stattfinden konnte, einen Raum für Suchende und Kritische und der Entfaltung für alle, auch für jene, die in der Gesellschaft am Rande standen.[35] Die Boldern Tagungsprogramme der 1970er Jahre waren kritisch, auf Veränderung von Kirche und Gesellschaft ausgerichtet: «Wir griffen Themen der Entwicklungspolitik und der Rechte der Ausländer und Ausländerinnen in der Schweiz auf, thematisierten auch die Kleinfamilie kritisch, setzten uns für eine Kirche 'für' und 'mit' anderen ein, veranstalteten Tagungen gegen die Diskriminierung von Homosexuellen in Kirche und Gesellschaft (…), wagten eine einseitige Konsultation mit dem Thema 'Können Christen für die Fristenlösung eintreten?', hinterfragten traditionelle Frauen- und Altersarbeit, setzen uns für (…) eine kritische Schulpolitik ein, und das alles mit dem Anspruch, wesentliche Linien des Evangeliums zu vertreten.»[36] Dies sahen nicht alle so. Vor allem der Dialog mit einflussreichen Vertretern aus Wirtschaft, Politik und Kirche wurde schwierig bis unmöglich, und Boldern wurde vorgeworfen, «auf Linkskurs gegangen zu sein, bewusst oder unbewusst subversiv zu wirken und an der Umfunktionierung von Kirche und Gesellschaft zu arbeiten».[37] Auch Marga Bührigs Beteiligung bei der Vereinigung «Frauen für den Frieden» und ihre letzte Tagung vor der Pensionierung zum Thema «Frauenbewegung – Friedensbewegung» löste Konflikte aus. All dies führte bei ihr zum Verlust ihrer «politischen Naivität», wie sie es nennt, zu einer «Radikalisierung», und bereitete den Boden für die dritte Bekehrung vor: «…ich hatte sehr lange an die Möglichkeit eines Dialogs geglaubt und musste nun einsehen, dass dieser ausserordentlich schwierig, meist sogar unmöglich ist, wenn die Machtverhältnisse so verschieden sind und wenn die Voraussetzungen dieser Macht nicht offengelegt werden. (…) Die Frauen sah ich damals immer noch nicht als kollektiv Unterdrückte. Ich durchschaute die patriarchalen Rahmenbedingungen (noch) nicht». Radikalisierung bedeutete für mich den Anfang der Desillusionierung. Ich fing an, die handfesten Interessen derer, die mächtig waren, zu durchschauen.»[38] Und sie hält im Rückblick auf damals fest: «Den Respekt vor den Mächtigen – immer von Ausnahmen, die kritisch mit ihrer eigenen Macht umgehen, abgesehen – habe ich jedenfalls für immer verloren. Gewachsen ist meine Überzeugung, dass Änderungen von 'unten' kommen oder jedenfalls von dort wesentlich bestimmt und getragen sein müssen und dass den Frauen dabei eine ganz wesentliche Rolle zukommt.»[39]
3. Bekehrung zum Feminismus Seit den 1950er Jahren hatte sich Marga Bührig in ihrem Berufsleben mit der Rolle und Stellung der Frau in Kirche und Gesellschaft beschäftigt. Doch erst Ende der 1970er und in den 1980er Jahren begann sie allmählich, feministische Positionen zu vertreten. Bis dahin war sie in der ersten Frauenbewegung verankert gewesen, die sich für die Partizipation der Frauen in die bestehenden gesellschaftlichen und kirchlichen Strukturen einsetzte. Die zweite Frauenbewegung, der Feminismus, dagegen stellte die herrschenden Denk-, Arbeits-, Liebes- und Machtverhältnisse grundlegend in Frage. Drei Aufenthalte in Berkeley/USA – 1977, 1980 und 1981, gemeinsam mit Else Kähler und Elsi Arnold – führten zu dem, was Marga Bührig ihre 3. Bekehrung nennt: die Bekehrung zum Feminismus. Bekehrung insofern, weil sie hinter die Erfahrungen und Erkenntnisse, die sie in den Studienaufenthalten in Berkeley gewann, nie mehr zurückkonnte: «Ich kann nie mehr vergessen, dass ich im Patriarchat lebe, dass Bibel, Theologie, Kirche, Glaube davon geprägt sind ebenso wie die Gesellschaft, in der ich lebe.»[40] Zwar hatten sie auf Boldern bereits 1978 eine gut besuchte Tagung zum Thema «Alte und neue Frauenbewegung» mit Susanne Woodtli und Ursa Krattiger als Referentinnen veranstaltet und auch Kurse angeboten wie z.B. «Gottesbilder – Frauenbilder». Sie waren also durchaus auf dem Weg zum Feminismus, auch wenn sie das Wort in der Ausschreibung der Kurse nicht verwendeten. Doch der Funke sprang erst richtig über, als sie in Berkeley in eine Frauenkultur eintauchten und in einer starken Frauengemeinschaft lebten. Bestärkt durch diese Erfahrungen wurde Marga Bührigs Kritik an der Kirche nun zur Kritik an der Männerkirche, an einer männlichen Hierarchie von Vätern und Brüdern. In der Frauenbewegung erlebte sie andere Formen von Gemeinschaft, in der Gegenseitigkeit und Wechselseitigkeit prägend waren. Ihre Vision von Kirche umschrieb sie daher so: «Abbau von Hierarchien, Teilhabe aller an allem, vor allem aneinander, an den reichlich vorhandenen Gaben und Fähigkeiten, kein für Spezialisten reserviertes Wissen, theologische Alphabetisierung in alle Richtungen.»[41] Bekehrung zum Feminismus hiess für Marga Bührig jedoch nicht, die Verbindung zur christlichen Tradition aufzugeben. «Klar war oder blieb für mich, dass meine eigene Befreiungsgeschichte mit dem Evangelium zu tun hatte, und ich wollte es mir auch nicht nehmen lassen, dieses Element der Befreiung in der Geschichte der Frauenbewegung zu sehen.»[42] Die feministische Bewegung war für sie Teil eines umfassenden Befreiungsprozesses, einer Befreiung aller Unterdrückten und der ganzen Schöpfung.[43] Feministische Theologie ist für Marga Bührig nicht einfach eine Theologie von Frauen. Sie ist vielmehr eine kirchliche und gesellschaftliche Bewegung jener Frauen, die aus althergebrachten inneren und äusseren Rollenzwängen aufgebrochen sind, patriarchale Machtstrukturen analysieren und kritisieren, gemeinsam ihre Erfahrungen mit Gott in Worte zu fassen versuchen, nach ihrer eigenen vergessenen und unsichtbar gemachten Geschichte in der Bibel und der christlichen Tradition suchen und die Vision von Galater 3,28 als Ruf und Ermutigung zu ihrer eigenen Befreiung verstehen: «Da gilt nicht mehr Jude oder Grieche, nicht mehr Sklave oder Freier, nicht mehr Mann oder Frau, denn alle seid ihr eins in Jesus Christus.»[44] Die Anfrage für einen Lehrauftrag an der Theologischen Fakultät Luzern im Sommersemester 1986 ermöglicht ihr dann eine vertiefte Auseinandersetzung mit feministisch-theologischen Themen. Die Vorlesungen, die unter dem Titel «Die unsichtbare Frau und der Gott der Väter» als Buch publiziert wurden, boten einer breiten Öffentlichkeit eine gut verständliche Einführung in feministische Theologie. Marga Bührig wird dadurch zu einer der Exponentinnen feministischer Theologie in der Schweiz und zu einer gefragten Referentin zum Thema.
Feminismus ist Arbeit für den Frieden Feminismus war für Marga auch aktive Friedensarbeit, ist Arbeit für den Frieden, wie ein Kapitel ihrer Autobiographie überschrieben ist. Die Pensionierung 1981 gab der 66-Jährigen nun die Freiheit, öffentlich sagen zu können, was sie dachte und als wichtig erachtete. Und schnell war klar, worauf sie die Priorität ihres theologischen und politischen Denkens und Handelns richten wollte: Frauen und Frieden.[45] Ende der 1970er Jahre hatte sie die «Frauen für den Frieden» Zürich mitaufgebaut und war seither Mitglied. Nach ihrer Rückkehr aus Berkeley trat sie den KAGAS-Frauen bei, einer Gruppe von Frauen, die ursprünglich gemeinsam mit Männern die «Kirchliche Arbeitsgemeinschaft für alternative Sicherheit» (KAGAS) gebildet hatten. Zur Gruppe gehörten Marga Bührig, Christine Fankhauser, Susanne Grogg, Rosmarie Kurz, Julia Lädrach, Myriam Salzmann, Beate Seefeld und Monika Stocker. Die Frauen der KAGAS waren jedoch unzufrieden mit den Denkmustern der Männer, die der Verteidigungspolitik verhaftet waren, und wollten ihren eigenen Raum, um ausgehend von ihren persönlichen Erfahrungen über Bedrohung und Sicherheit, über Frieden und den Schutz des Lebens nachzudenken. Sie verfassten eine Arbeitsmappe mit Texten «So kann es nicht weitergehen. Nachdenken über Unfrieden – Mutmachen zum Aufbruch» (1981), in denen sie über Zusammenhänge von Gewalt gegen Frauen und Militarismus, zwischen Militarismus und Männlichkeitswahn nachdachten und betonten: «Unser Ernstfall ist heute, unser Ernstfall ist nicht erst ein möglicher Krieg, sondern die schon vorhandene Bedrohung und Zerstörung der Natur. Uns geht es um den Schutz des Lebens, allen Lebens bei uns und in der Dritten Welt.»[46] Die Arbeit in der KAGAS verstärkt Marga Bührigs friedenspolitisches Engagement. In einem für die KAGAS-Arbeitsmappe verfassten Text schreibt sie: «Wie kann ich länger schweigen und zuschauen, wie eine von Männern und 'männlichem' Denken und Rechnen beherrschte Welt dem Abgrund entgegeneilt? Muss ich nicht versuchen, mein Fühlen, Denken und Sein, meine Angst, meine Liebe zum Leben, meinen ganz persönlichen Glauben in politisches Handeln einzubringen und zu verwandeln?»[47] In Vorträgen und Seminaren, in Podiumsgesprächen und unzähligen Artikeln versuchte Marga Bührig, sich einzumischen und zusammen mit ihren Kolleginnen aus der Friedensarbeit einen Bewusstwerdungsprozess zu bewirken – mit einigem Erfolg. An vielen Orten wachsen die «Frauen für den Frieden» rasch, und beim Christlichen Friedensdienst wird 1981 sogar die Gründung einer «Frauenstelle für Friedensarbeit» möglich. Dies alles brachte ihnen und auch Marga Bührig nicht nur viel Bekanntheit, sondern auch Diffamierungen, Beschimpfungen als Störenfriede und Landesverräterinnen ein und führte dazu, dass Marga Bührig Mitte der 1980er Jahre eine Zeitlang zu Friedensfragen keine Stellung mehr nahm. Doch sie dachte weiter über Strategien nach, wie Feministinnen Sand im Getriebe des Patriarchats sein können, wie sie die Strukturen des Patriarchats zwar nicht abschaffen, aber wenigstens durchlöchern können. 1986 hielt sie zum 10. Geburtstag der «Frauen für den Frieden» folgende Einsichten fest: – «Keine von uns kann für sich allein mächtig sein. Wir brauchen einander. Freundschaft und Solidarität unter Frauen, wie immer sie sich äussert, ist eine der stärksten Infragestellungen des Patriarchats. – Frauen in leitenden Stellungen müssen von (…) Frauen an der Basis (…) gestützt werden, jedenfalls so lange sie selbst sich nicht total mit dem herrschenden System identifizieren. (…) – Wir Frauen müssen uns das bewahren, was wir in der Frauenbewegung gelernt haben, dass wir 'ich' sagen und nicht 'man', dass wir das Persönliche und Politische nicht trennen.»[48] Sie selber ist diesem Motto der Frauenbewegung treu geblieben. Sie hat das Persönliche und Politische in ihrer feministischen Arbeit nicht getrennt, sie hat ihre Theologie und ihren Glauben nie von gesellschaftlichen Fragen losgelöst und stellte sich in ihrem theologischen Denken und Handeln den brennenden Fragen ihrer Zeit. 1983 zog Marga Bührig gemeinsam mit Else Kähler und Elsi Arnold nach Binningen in ein Haus. Dort lebte sie bis zu ihrem Tod mit ihren Lebensgefährtinnen zusammen. Die leidenschaftliche Liebe zum Leben und die leidenschaftliche Suche nach Gerechtigkeit am Leben zu halten, fiel ihr die letzten Jahre ihres Lebens nicht leicht. Was ihr immer wieder Kraft gab, war das dicht gesponnene, vielfach verzweigte und geknüpfte Netz von Freundinnen und weltweiter «Schwesternschaft, die stark macht und die Gerechtigkeit, Frieden und Leben wachsen lässt».[49] Nach ihrem Tod 2002 wurde an ihrem Wohnort Binningen der Marga-Bührig-Weg nach ihr benannt. Als Würdigung einer Frau, die als unbestechliche Stimme für die Ökumene, die kirchliche Frauenbewegung und Feministische Theologie und die (Frauen-) Friedensbewegung gilt. Marga Bührig war eine aussergewöhnliche Frau, die uns ein grosses und reiches Erbe hinterlassen hat, das es nicht nur in grosser Dankbarkeit zu erinnern, sondern weiterzuführen gilt.
Vortrag gehalten am 26. März 2024 in der Kirchgemeinde Petrus, Bern
Doris Strahm
Fussnoten: [1] Vgl. dazu die Dokumentation: Doris Strahm/Silvia Strahm Bernet (Hg.), «mächtig stolz». 40 Jahre Feministische Theologie und Frauen-Kirche-Bewegung in der Schweiz, Wettingen 2022. [2] Johanna Skriver-Wehrli, Marga Bührig (*1915) und Else Kähler (*1917) - Plädoyer für eine Ökumene der Frauen, in: Stephan Leimgruber/Max Schoch (Hg.), Gegen die Gottvergessenheit. Schweizer Theologen im 19. und 20. Jahrhundert, Basel/Freiburg/Wien, 604-616, 604. [3] Vgl. Evelyne Zinsstag, Säkulare und kirchliche Frauenbewegung in der Schweiz, in: Dies./Dolores Zoé Bertschinger, Aufbruch ist eines, und Weitergehen ist etwas anderes. Frauenräume: von der Saffa 58 über das Tagungszentrum Boldern zum Frauen*Zentrum Zürich, Wettingen 2020, 78. [4] Skriver, 607. [5] Marga Bührig, Spät habe ich gelernt, gerne Frau zu sein. Eine feministische Autobiographie, Stuttgart 1987, 25. [6] Vgl. Ebd. 28. [7] Ebd. 31. [8] Ebd. [9] Ebd. 32. [10] Ebd. 33. [11] Ebd. 33f. [12] Ebd. 34. [13] Ebd. 35f. [14] Ebd. 36f. [15] Vgl. Zinsstag, 58-61. [16] Vgl. ebd. 61-64. [17] Vgl. Bührig, Spät habe ich gelernt, gerne Frau zu sein, 46-55. [18] Vgl. Zinsstag, a.a.O. 89-92. [19] Vgl. ebd. 46-49. [20] Vgl. Bührig, Spät habe ich gelernt, gerne Frau zu sein, 104. [21] Vgl. ebd. 107. [22] Dazu ausführlicher ebd. 127-135. [23] Vgl. ebd. 134f. [24] Bührig, Die unsichtbare Frau und der Gott der Väter, 123. [25] Vgl. Bührig, Spät habe ich gelernt, gerne Frau zu sein, 207f. [26] Ebd. 206./210. [27] Vgl. ebd. 213. [28] Vgl. Skriver, 609. [29] Vgl. Konrad Raiser, Generalsekretär des ÖRK, Nachruf auf Marga Bührig, 15. Februar 2002, https://www.oikoumene.org/de/node/56147, abgerufen am 13.03.2024 [30] Bührig, Spät habe ich gelernt, gerne Frau zu sein, 67. [31] Ebd. 68. [32] Ebd. [33] Vgl. ebd. 70. [34] Ebd. 150/146. [35] Vgl. ebd. 148f. [36] Ebd. 153. [37] Ebd. 156. [38] Ebd. 160f. [39] Ebd.161f. [40] Ebd. 190. [41] Ebd. 184. [42] Ebd. 178. [43] Vgl. ebd. 186. [44] Vgl. ebd. 256f. [45] Vgl. ebd. 192. [46] Ebd. 193. [47] Ebd. 194. [48] Ebd. 201f. [49] Vgl. 221.
© Doris Strahm 2024
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