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Die Vision von einem guten Leben für alle Menschen
Die Schwestern und feministischen Theologinnen, Doris Strahm1 und Silvia Strahm Bernet2, gaben im 2022 das Buch «Mächtig stolz»3 heraus. Mit ihnen sprach die SKZ über die Anfänge und Entwicklungen der feministischen Theologie in der Schweiz.
SKZ: Doris Strahm und Silvia Strahm Bernet, was freut Sie besonders, wenn Sie auf die 40 Jahre zurückblicken?
Doris Strahm (DS): Dass durch die feministische Theologie unzählige Frauen ermächtigt wurden, sich als theologische Subjekte zu verstehen, nach Jahrhunderten des Unsichtbargemachtwerdens in Theologie und Kirche das Wort ergriffen und die Deutungshoheit über die christliche Religion nicht länger allein den Männern überliessen. Und wie unser Buch dokumentiert, haben Frauen unglaublich viele Projekte und Initiativen auf die Beine gestellt, die unseren Anliegen Gehör verschafften und eine breite Wirkung erzielten.
Silvia Strahm Bernet (SSB): Dass es diese Vielfalt an spannenden, manchmal geradezu elektrisierenden Projekten gab, dass die Bandbreite der Themen, mit denen wir uns auseinandersetzten, so gross war und sich die Themen immer wieder neu akzentuierten. Mich freut auch, dass wir ganz unterschiedliche Gefässe des gemeinsamen Nachdenkens und Handelns fanden und unseren feministisch-theologischen Fokus auf Theologie und Kirche mit so vielen unterschiedlichen Frauen teilen konnten.
Wo waren Orte des Aufbruchs feministischer Theologie in der Schweiz?
SSB: Der zentrale Ort der frühen Auseinandersetzung mit feministischer Theologie war für mich und viele andere das katholische Bildungszentrum Paulus-Akademie in Zürich, konkret die Arbeit der Studienleiterin Brigit Keller. Sie bezog sich in ihrer Bildungsarbeit mit Frauen auf eine Fülle von Themenbereichen und Fragestellungen rund um Feminismus, feministische Theologie und Frauenanliegen ganz allgemein, die an Tagungen, Abendveranstaltungen und Studienwochen eine vertiefte, gemeinsame Auseinandersetzung ermöglichten. Bildungshäuser waren generell ganz wichtige Orte, gerade weil es Orte waren. Die Themen, die uns beschäftigten, waren dort beheimatet und liessen sich «teilen». Frauen trafen dort auf Frauen, die, oh Wunder, ähnliche Erfahrungen gemacht hatten. Auch sie warfen wie ich einen neuen, kritischen Blick auf alles, was bisher Normalität hiess. Später wurden in vielen Regionen dank Initiativen von Frauen Vereine und Stellen geschaffen, die das Thema hüteten und in ganz unterschiedlichen Gefässen vermittelten – in Luzern war dies die Frauenkirchenstelle (später: Fachstelle Feministische Theologie), an der ich selber einige Jahre tätig war. Neben den Orten waren es auch punktuelle, jedoch oft über Jahre wiederkehrende Ereignisse wie Frauenkirchentage oder Frauensynoden, die Frauen in Bewegung setzten, und für viele wohl auch Frauengruppen vor Ort, die oft über lange Zeiträume hinweg existierten. Auch die feministisch-theologische Zeitschrift FAMA, die wir zwei 1985 mit sechs weiteren Theologinnen gründeten, spielte eine wesentliche Rolle für die Verbreitung von feministischer Theologie in der Deutschschweiz.
Welches war für Sie das Initialereignis, feministische Theologie zu betreiben und sich für die Frauen-Kirche-Bewegung Schweiz zu engagieren?
SSB: Meine Initialzündung war die 1976 von der römischen Glaubenskongregation herausgegebene Erklärung zur Zulassung oder eben Nichtzulassung der Frauen zum Priesteramt. Eine klatschende Ohrfeige, sowohl, was die zum Teil unsägliche Argumentation anbelangte als auch, was sich darin an Frauenverachtung und Arroganz männlicher Machtträger äusserte. Es war, als sei ich plötzlich aufgewacht und sähe, womit ich es eigentlich zu tun hatte und was ich bisher alles nur unscharf oder gar nicht wahrgenommen hatte. Das betraf nicht nur die Kirche, sondern die Gesellschaft insgesamt. Alle gesellschaftlichen und kirchlichen Bereiche wurden nun als Denk- und Handlungsräume sichtbar, die man zu jenen Zeiten noch Patriachat nannte. Es war diese unmögliche und unannehmbare kirchliche Verlautbarung, die mich zur feministischen Theologin machte und meinen Blick schärfte für Abwertung, Ausgrenzung und Ungerechtigkeit aller Art, nicht nur in den Kirchen.
DS: Ich «verdanke» mein feministisches Erwachen ebenfalls der Verlautbarung aus Rom. Es ging mir wie Silvia. Ich erinnere mich, dass wir dann in einer Lesegruppe an der Theologischen Fakultät Luzern, wo wir beide ab Mitte der 1970er-Jahre Theologie studierten, mit Mitstudentinnen die Bücher von Mary Daly lasen, die uns mit ihrer radikalen Kritik die Augen öffnete für die Zusammenhänge von christlicher Theologie und Frauenunterdrückung und für die patriarchale Verfasstheit unserer gesamten Kultur. Von da an begann ich alles mit einer feministischen Brille zu betrachten und mich für eine feministisch-theologische Re-Vision von Theologie und Kirche zu engagieren.
Welche Frauen prägten Sie in Ihrem theologischen Schaffen? Und warum?
SSB: Ganz viele Theologinnen aus dem deutschen und amerikanischen Raum. Bücher von Frauen wie etwa Dorothee Sölle, Catharina Halkes, Elisabeth Moltmann- Wendel, Bärbel von Wartenberg-Potter, Rosemary Radford Ruether und Carter Heyward boten hilfreiche kritische Zugänge und neue Perspektiven zu Frauengeschichte(n), Selbstbildern oder theologischen Traditionen. Mary Dalys unerbittlicher Blick auf Kirche und Theologie regte unser Denken an. Die Neutestamentlerin Elisabeth Schüssler Fiorenza verhalf uns mit ihrer Kritik am alles durchdringenden hierarchisch-kyriarchalen Denken in Theologie und Kirche zu einem wichtigen Instrument der Analyse. Mit ihrer historischen Rekonstruktion der Anfänge des Christentums, das sich zu Beginn als Gemeinschaft von Gleichgestellten verstand, machte sie uns das Erbe unserer biblischen Vorschwestern bewusst. Plötzlich war da eine Fülle von Literatur, die einem dazu verhalf, neue Dinge zu entdecken, die Gedanken zu schärfen, die theologische Tradition anders kennenzulernen, Selbstverständlichkeiten nicht mehr als solche hinzunehmen.
DS: Auch für mich waren die genannten Theologinnen prägend für mein theologisches Schaffen, allen voran Elisabeth Schüssler Fiorenza mit ihrem Konzept des Patriarchats bzw. Kyriarchats als einem System ineinandergreifender Unterdrückungsformen wie Sexismus, Rassismus, Heterosexismus, Kolonialismus, ökonomische Ausbeutung, Altersdiskriminierung, Naturausbeutung usw. und ihrem feministischen Modell kritischer Bibelinterpretation ─ beides wegweisend für die feministische Theologie. Mit letzterem gab sie uns eine Methode an die Hand, mit der Bibeltexte kritisch-feministisch gelesen werden können: mit einer «Hermeneutik des Verdachts», die patriarchale Strukturen und frauenunterdrückende Aspekte von Bibeltexten sowie deren frauenfeindliche Auslegungen aufzudecken versucht, und einer «Hermeneutik der Erinnerung», mit der die verschütteten und unsichtbar gemachten emanzipatorischen Traditionen wiedergewonnen und die vergessene Geschichte von Frauen aufgespürt wird. Zwei weitere Theologinnen, die mein eigenes Theologisieren stark beeinflusst haben, sind Carter Heyward aus den USA mit ihrer «Theologie der Beziehung» und ihrem Verständnis von Gott als «power in relation» und Ivone Gebara aus Brasilien mit ihrem Ansatz einer ökofeministischen Theologie, den sie bereits in den 1990er-Jahren entwickelt hat und den ich Rahmen meiner Dissertation zu Christologien von Frauen aus dem globalen Süden kennenlernte. Ivone Gebaras ökofeministische Theologie inspiriert mich bis heute und ist angesichts der Klimakatastrophe aktueller denn je.
Während meiner Studienzeit gab es an der Theologischen Fakultät Luzern einen Lehrauftrag für feministische Theologie. Wo steht die feministische Theologie heute im akademischen Bereich?
DS: Der Lehrauftrag für «Feministische Theologie», den Sie erwähnen, wurde 1986 auf Betreiben von Studierenden eingeführt. Ich war damals Assistentin an der Theologischen Fakultät Luzern und an den Ereignissen mitbeteiligt. Deshalb freut es mich besonders, dass dieser Lehrauftrag bis heute existiert! Er wurde 2006 umbenannt in «Theologische Gender Studies» und wird seit 2016 nur noch einmal im Jahr statt jedes Semester vergeben. Ein Lehrstuhl für feministische Theologie bzw. Theologische Frauenforschung in Luzern, der anfangs 1990er-Jahre geplant und vom damaligen Rektor Walter Kirchschläger unterstützt wurde, kam leider nicht zustande. An den Universitäten Bern und Freiburg i.Ü. gab es ab Mitte der 1980er-Jahre ebenfalls feministisch-theologische Lehraufträge; diese existieren aber nicht mehr. In Basel dagegen, wo es nur vereinzelt solche Lehraufträge gab, wurde 2019 neu die Verpflichtung zu einer genderspezifischen Veranstaltung pro Semester ─ in einem festen Turnus der theologischen Fächer ─ in die Studienordnung aufgenommen. Doch insgesamt gesehen ist eine Institutionalisierung feministischer Theologie im Lehrbetrieb der Theologischen Fakultäten der Schweiz nicht gelungen. Es gibt bis heute keinen Lehrstuhl, und regelmässige Lehraufträge zum Thema finden nicht mehr statt, ausser in Luzern. Es hängt also von den einzelnen Theologieprofessorinnen und Theologieprofessoren ab, ob sie feministisch-theologische oder genderspezifische Lehrveranstaltungen anbieten. Dennoch habe ich den Eindruck, dass das Thema, nebst der FAMA, der IG Feministische Theologinnen und den wenigen noch bestehenden kirchlichen Frauenstellen, aktuell auch im akademischen Bereich wachgehalten wird, da es zurzeit an einigen theologischen Fakultäten doch auch Professorinnen mit einer feministisch-theologischen bzw. genderspezifischen Optik gibt. Dies ermöglicht es Studierenden, zu promovieren und feministisch-theologische Themen in einem akademischen Bereich zu vertiefen.
Welche Entwicklungen in der feministischen Theologie in den vergangenen Jahrzehnten machen Sie aus?
DS: Feministische Theologie ist im Lauf der Jahre vielfältiger und vielstimmiger geworden, umfasst heute eine grosse Positionen- und Perspektivenvielfalt. Man könnte sagen: das «Wir Frauen» der Aufbruchsjahre hat sich immer weiter ausdifferenziert. Waren es am Anfang vor allem weisse, westliche, christliche Mittel-standsfrauen, die das «Wir Frauen» für sich und ihre Erfahrungen beanspruchten bzw. unreflektiert als Norm setzten, so wurde dieses «Wir» durch die Kritik von jüdischen Frauen, von Schwarzen Frauen, «women of color» und Frauen aus dem globalen Süden aufgebrochen bzw. erweitert durch ihre bislang vernachlässigten Stimmen: In den USA entstanden jüdische feministische Theologien (Judith Plaskow, Susannah Heschel u.a.), Womanist Theologien Schwarzer Frauen (Delores S. Williams, Jacquelyn Grant u.a.) sowie Mujerista Theologien hispanischer Frauen (Ada Maria Isasi-Diaz u.a.); im globalen Süden entwickelten sich Befreiungstheologien aus der Sicht afrikanischer, asiatischer und lateinamerikanischer Frauen sowie postkoloniale feministische Theologien.
Uns westlichen Theologinnen wurde dadurch bewusst, dass wir nicht für alle Frauen sprechen können, dass die Erfahrung vieler Frauen weltweit nicht nur vom Geschlecht, sondern ebenso von der sozialen Klasse, Kultur, Religion, Ethnie, rassistischer Diskriminierung, sexueller Orientierung usw. geprägt ist. Intersektionalität, also die Verschränkung verschiedener Diskriminierungskategorien, hat das Verständnis von Frauenerfahrung in der Folge grundlegend verändert. Und sie hat für uns westliche Feministinnen die schwierige Erkenntnis mit sich gebracht, dass es auch unter Frauen ein Machtgefälle gibt und wir an der Diskriminierung anderer Frauen strukturell beteiligt sind. Für mich macht dies die Stärke feministischer Theologie aus: Wir haben uns immer wieder auf Lernprozesse eingelassen, uns kritischen Anfragen gestellt und uns mit Antijudaismus, Rassismus, Eurozentrismus und (Neo-)Kolonialismus auseinandergesetzt.
Wie sah dieser Ausdifferenzierungsprozess in der Schweiz aus?
DS: Dieser selbstkritische Differenzierungsprozess fand in der Schweiz nicht nur unter uns feministischen Theologinnen statt, sondern wurde auch durch Bildungshäuser befördert: Auf Boldern wurden z.B. von Reinhild Traitler und einem Team bereits ab 1987 «Begegnungstagungen zwischen jüdischen und christlichen Frauen» angeboten, in denen es darum ging, sich die Fortführung antijudaistischer Tendenzen in feministischen Theologien selbstkritisch bewusst zu machen (Stichwort: Jesus als Befreier der Frauen vom jüdischen Patriarchat) und miteinander und voneinander zu lernen. Die «rassistische» Schlagseite eines weissen Feminismus und einer weissen feministischen Theologie wurde uns in der Schweiz vor allem durch die Schwarze Schriftstellerin und Aktivistin Audre Lorde bewusst gemacht, die von Brigit Keller in den 1980er-Jahren zu Vorträgen in die Paulus-Akademie eingeladen worden war. Und im RomeroHaus Luzern ermöglichte Li Hangartner ab Ende der 1980er-Jahre immer wieder Begegnungen mit Theologinnen aus dem globalen Süden. Durch all diese Begegnungen und Auseinandersetzungen wurde uns die kontextuelle Prägung der eigenen Sicht immer deutlicher bewusst und gleichzeitig unser eurozentrischer Blick aufgebrochen.
Was den akademischen Bereich betrifft, wurde ab den 1990er-Jahren die Genderkategorie für die feministisch-theologische Forschung zentral. Sie hat seither zu einer Fülle von Studien geführt, die danach fragen, inwieweit die christliche Religion, d.h. Bibeltexte, theologische Konzepte und kirchliche Strukturen an der Herstellung und Verfestigung von «Geschlecht» und der Reproduktion des hierarchischen und machtförmigen Geschlechterdualismus beteiligt sind. Genderforschung führte zu einer weiteren Differenzierung und Pluralisierung feministischer Theologie: zum Beispiel auch zu theologischen Ansätzen lesbischer Theologinnen und zur Entstehung von Queertheologien. Damit verbunden rückten auch Körperlichkeit, Sexualität und Geschlecht in den Fokus feministisch-theologischer Analysen und Debatten.
Seit Anfang der 2000er-Jahre ist der interreligiöse Dialog zwischen Frauen ein wichtiges Thema bei uns in der Schweiz, an dem ich selber seit vielen Jahren beteiligt bin. Auch hier spielten Bildungshäuser und -stellen eine zentrale Rolle: Boldern, Paulus-Akademie, Gwatt und der Verein Frauen und Kirche Luzern organisierten ab 2002 «Interreligiöse Theologiekurse für Frauen», die von einem interreligiösen Team vorbereitet wurden und sich an Jüdinnen, Musliminnen und Christinnen richteten. Aus dieser Zusammenarbeit entstand dann die Idee eines «Interreligiösen Think-Tank», den ich zusammen mit jüdischen, christlichen und muslimischen Fachfrauen des interreligiösen Dialogs in der Schweiz Ende 2008 gegründet habe. Und aktuell wäre zu wünschen, dass ökofeministische Theologien, die seit den 1990er-Jahren von Rosemary Radford Ruether, Sallie McFague, Catherine Keller, Ivone Gebara, der Zeitschrift «Con-spirando», Dorothee Sölle und Catherina Halkes entwickelt wurden, bei uns wieder vermehrt aufgegriffen und weiterentwickelt würden. Denn diese liefern wegweisende Beiträge zu einer der dringendsten Fragen der Gegenwart. Dies alles zeigt: Feministische Theologie hat sich immer wieder neuen theologischen Ansätzen geöffnet wie aktuell den Queer- Theologien, postkolonialen feministischen Studien, dem interreligiösen Dialog und dem Ökofeminismus – und so ihr Blickfeld ständig erweitert. Ich sehe darin eines der grossen Verdienste feministischer Theologien: dass sie nicht «dogmatisch» erstarrt sind, sondern sich stetig weiterentwickeln.
Wo sehen Sie die bleibenden Fragen und Aufgaben feministischer Theologie?
SSB: Nichts ist für immer. Kaum eine Erkenntnis, kaum eine als erreicht betrachtete, gesellschaftlich verankerte Haltung und Wertebasis, hinter die nicht zurückgegangen werden kann. Das erleben wir im Zeitalter des Populismus und wachsenden Rechtsextremismus ganz konkret. Wir dachten, Demokratie, Menschenrechte, Frauenrechte usw. seien mehrheitlich geteilte Werte, verbesserungsfähig, weiterzuentwickeln, natürlich immer wieder neu umzusetzen, aber dass man sie grundsätzlich – auch in unseren westlichen Gesellschaften – verwerfen und gar bekämpfen könnte, war für mich zumindest nicht vorstellbar. So gesehen ist es eine bleibende Aufgabe, auch einer feministischen Theologie, überhaupt bestehen zu bleiben: ihren Blick auf Theologie und Kirche am Leben und in der öffentlichen Wahrnehmung zu halten und damit auch weiterhin mit ihrem spezifischen Fokus und ihren sicher begrenzten Mitteln beizutragen, dass ein gutes Leben für alle auf diesem fragilen und gefährdeten Planeten Erde möglich ist.
DS: Für mich bleibt die feministische Kritik an einer patriarchalen Theologie und Kirche nach wie vor aktuell: Noch immer dominieren in den christlichen Kirchen eine androzentrische Gottesrede, patriarchale theologische Konzepte und eine heteronormative Geschlechterordnung ─ und in der römisch-katholischen Kirche wird die Gleichstellung der Frauen mit theologisch unhaltbaren Gründen weiterhin verhindert. Auch was das Thema «Frauenrechte und Religion» betrifft, ist Wachsamkeit angesagt: Nicht nur weltweit, sondern auch in Europa und der Schweiz zeichnen sich Entwicklungen ab, die z.B. im Namen christlicher Werte Frauenrechte, speziell die reproduktiven Rechte von Frauen, wieder einschränken wollen. So wurden von religiös-konservativen Kreisen im Jahr 2022 in der Schweiz zwei Volksinitiativen zur Einschränkung des Rechts auf Abtreibung lanciert. Weiterhin Kritik üben an patriarchalen kirchlichen und gesellschaftlichen Unrechtsstrukturen und gleichzeitig unseren befreienden Visionen von Gerechtigkeit, umfassendem Frieden und der Verbundenheit mit allen Geschöpfen Raum schaffen: Darin sehe ich die bleibende Aufgabe feministischer Theologien.
Ich richte meinem Blick über die Theologie hinaus auf die Gesellschaft. Wie haben sich die Frauenbilder und -rollen in Gesellschaft in den letzten 40 Jahren entwickelt? Wo sehen Sie Fortschritte oder auch Rückschritte?
SSB: Das ist eine schwierige, komplizierte Frage. Gesichertes Wissen hierzu habe ich keins. Bloss Eindrücke und Wahrnehmungen. Und diese hängen davon ab, ob ich sozusagen das grosse Ganze anschaue oder die Details. Das grosse Ganze könnte man festhalten, hat sich hierzulande zum Besseren gewendet. Frauen stehen heute kaum mehr vor grundsätzlich verschlossenen Türen (ausser etwa in der römisch-katholischen Kirche). Theoretisch jedenfalls kaum noch, bloss praktisch. Gleiche Pflichten werden eingefordert, aber gleiche Chancen nach wie vor nicht wirklich ernsthaft gefördert. Wer als junge Frau ganz selbstverständlich die Kämpfe der Frauen gegen unterdrückende Frauenbilder und vielfältigsten Formen der Abwertung oder Verachtung als vergangene Kämpfe betrachtet, die mit ihr nichts mehr zu tun haben, revidiert diese Weltsicht oft, ist sie mit der Frage nach Verantwortung und Zuständigkeit bei Mutterschaft konfrontiert. Inzwischen wird ein Frauenleben nicht mehr in den Raster «Hausfrau» (mit allenfalls Teilzeitarbeit) oder «Karrierefrau» (mit delegierter Kinderbetreuung) gezwängt, ersteres ok, zweiteres sehr sehr verdächtig und unschön. Inzwischen sind alle Lebensentwürfe von Frauen, die Kinder haben, unschön und verdächtig: Hausfrau pfui (wie blöd muss man sein, um sich finanziell abhängig zu machen), Karrierefrau pfui (wieso hat die überhaupt Kinder?), Kinder und Berufstätigkeit geht irgendwie auch nicht (alles machen, aber nichts richtig).
Dann gibt es da diese neue Sprachregelung des Genderismus (gilt für fast alles, wenn Frauen den Mund aufmachen und etwas als ihr Recht einfordern), den im Netz weit verbreiteten Frauenhass, Angriffe auf hart erkämpfte Errungenschaften, mag man sie auch nicht als solche sehen (Abtreibungsrecht etwa). Politische Versprechen, die andauernd gebrochen werden (Frauenrentenalter erhöhen, aber Verbesserungen bei der Altersvorsorge nicht ernsthaft anpacken) ... Es hat sich vieles zum Besseren gewendet, das ist unbestreitbar. Viele Frauen in den westlichen Demokratien (so es noch solche sind) können heute ihr Leben anders leben, selbstbestimmter, freier, meist ökonomisch unabhängiger, aber dass all dies ohne Kämpfe und Stolpersteine möglich ist, ist eine Illusion. Ich fürchte, nichts von dem, was uns einmal dazu bewog, zu kämpfen – abwertende Frauenbilder, nicht ausreichende Chancengleichheit, Zweitrangigkeit von Frauenanliegen, erschwerter Zugang zu den Zentren der Macht u.v.m. – ist überwunden und vergangen. Wir sollten uns vor der Illusion hüten, es werde stetig vorangehen mit der Umsetzung unserer Anliegen, die ja im Grunde die Mehrheit teile; wir sollten wach bleiben und genau hinschauen, was in unserer Gesellschaft im Gange ist und wo wir erneut vielleicht auch Selbstverständliches erkämpfen müssen.
Ich habe den Eindruck, es ist ruhiger geworden um die feministische Theologie. Wie sehen Sie die Zukunft feministischer Theologie? Welche Entwicklungslinien zeichnen sich ab?
SSB: Vieles, was für einen feministischen Blick auf Theologie und Kirche relevant ist, wurde seit den 1970er-Jahren analysiert, thematisiert und in wissenschaftlichen Publikationen und in Publikationen für ein breiteres, interessiertes Publikum formuliert und verbreitet. Im akademischen Bereich wird gewiss nach wie vor geforscht und publiziert. Darüber hinaus ist es jedoch schwierig(er) geworden, das Thema aktuell zu halten. Die tragende Basis – die vom Thema bewegten Frauen mit der Absicht, Theologie und Kirche neu zu denken und konkret auch institutionell zu verändern – diese Basis bröckelt. Die teilhabenden Frauen sind älter oder alt geworden und Frauen, die weiterführen, was sie initiierten, wachsen ihnen nicht auf natürliche Weise nach. Und es ist ja auch nicht so, dass feministisch-theologisches Gedankengut in die DNA der Theologinnen und Theologen eingebaut worden wäre und sich in der theologischen und auch gemeindlichen Praxis als ganz normaler Habitus in Wort und Tat zeigte. Das ABC der Feministischen Theologie muss eigentlich immer wieder von neuem buchstabiert werden.
DS: Dass es ruhiger geworden ist um die feministische Theologie, ist für mich nicht verwunderlich. Es ist bei jeder neuen Bewegung so, dass die Euphorie und die Aufbruchsstimmung der Anfangsjahre irgendwann nachlassen. Vieles ist inzwischen auch selbstverständlicher geworden, einiges da und dort durch die Arbeit feministischer Theologinnen eingesickert in die Gemeinden. Andererseits fand im Zuge des Frauen*streiks 2019 auch unter Kirchenfrauen ein Aufschwung statt: Lustvoll und stark haben am 14. Juni 2019 Hunderte Kirchenfrauen unter dem Motto «Gleichberechtigung.Punkt.Amen» ihre Forderungen auf die Strasse getragen und mit vielfältigen Aktionen präsent gemacht. Was ich bemerkenswert finde: Als grösster kirchlicher Frauenverband hat der Schweizerische Katholische Frauenbund den Lead für den Frauen*Kirchenstreik 2019 übernommen, unterstützt von der IG Feministische Theologinnen, der Zeitschrift FAMA sowie den Evangelischen Frauen Schweiz. SKF und EFS tragen das Anliegen bis heute weiter. Es scheint mir, dass es neben der IG Feministische Theologinnen und der FAMA aktuell also auch die beiden grossen kirchlichen Frauenverbände sind, die feministisch-theologische Themen hüten und in die Zukunft tragen. Ein Grund, weshalb ich längerfristig, was die Zukunftsfähigkeit feministischer Theologie bei uns in der Schweiz betrifft, doch eher pessimistisch bin, ist die Entkirchlichung, die massiv voranschreitet! Dies heisst ja auch, wie Silvia bereits ausgeführt hat, dass die Adressatinnen und Adressaten unserer Theologie wegbrechen. Dies gilt aber nicht nur für die feministische Theologie, sondern generell für die christliche Theologie in unserer Gesellschaft. So gesehen ist die Zukunft äusserst ungewiss. Aber wer weiss: Vielleicht tragen ja neue Akteurinnen und Akteure und neue gesellschaftliche und soziale Bewegungen ─ ausserhalb kirchlicher Gefässe und unter anderem Namen ─ unsere Vision von einem guten Leben für alle Menschen und einem umfassenden Schalom für die ganze Schöpfung weiter.
Interview: Maria Hässig
Fussnoten:
1 Dr. theol. Dr. h.c. Doris Strahm (Jg. 1953) studierte Kath. Theologie in Luzern (1975–1981). Sie war wissenschaftliche Mitarbeiterin an den Theologischen Fakultäten Luzern (1982–1985) und Freiburg i.Ü. (1987–1993). 1996 promovierte sie über Christologien von Frauen aus dem globalen Süden. Sie nahm Lehraufträge an den Universitäten Bern, Freiburg i.Ü., Luzern und Basel wahr. Sie ist Mitgründerin der feministisch-theologischen Zeitschrift FAMA, der IG Feministische Theologinnen und des Interreligiösen Think-Tank und freiberuflich tätig als feministische Theologin und Publizistin. www.doris-strahm.ch
2 Dipl. theol. Silvia Strahm Bernet (Jg. 1955) studierte Kath. Theologie in Luzern (1975–1981). Von 1982–2010 war sie freiberuflich tätig als feministische Theologin und Publizistin. Sie ist Mitgründerin der feministisch-theologischen Zeitschrift FAMA und der IG Feministische Theologinnen. Von 1995 bis 2001 war sie Co-Leiterin der Fachstelle Feministische Theologie der Frauenkirche Zentralschweiz und arbeitete von 2000 bis 2020 in den Benutzungsdiensten der Zentral- und Hochschulbibliothek Luzern. www.silvia-strahm.ch
3 Strahm, Doris / Strahm Bernet, Silvia (Hg.), Mächtig stolz. 40 Jahre Feministische Theologie und Frauen-Kirche-Bewegung in der Schweiz, Wettingen 2022.
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