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Über Grenzen hinausdenken

Entwicklungen und Spannungsfelder feministischer Theologien

 

Dass ich als feministische Theologin mit der Würde einer Ehrendoktorin ausgezeichnet werde, freut mich ungemein. Und dass es die Theologische Fakultät der Universität Bern ist, die mir diese Auszeichnung verleiht, freut mich ganz besonders. Denn hier hat im Wintersemester 1985/86 meine berufliche Laufbahn als feministische Theologin ihren entscheidenden Schub bekommen. Die Theologische Fakultät betraute mich damals mit dem ersten regulären Lehrauftrag für feministische Theologie an einer Schweizer Universität. Dass es dazu kam, verdanke ich – nebst den damaligen Fakultätsmitgliedern, die mir den Lehrauftrag übertragen haben – vor allem zwei Frauen: Zum einen Agnes Leu, die 1984 als junge Theologiestudentin aus Bern an einer feministischen Sommerwoche an der Paulus-Akademie teilnahm, an der meine Schwester Silvia Strahm, meine Freundin Barbara Ruch und ich das Thema «Feministische Theologie» behandelten. Agnes Leu fragte uns später an, ob eine von uns den Lehrauftrag, den die Studentinnen der Theologischen Fakultät inzwischen erkämpft hatten, übernehmen möchte. Meine Schwester Silvia, die dafür prädestiniert gewesen wäre, da sie 1981 in Luzern ihre Diplomarbeit in Dogmatik zum Thema «Feministische Theologie» verfasst hatte, musste leider darauf verzichten, da sie ein kleines Kind zu betreuen hatte. So verdanke ich es also auch ihr und ihrer Unterstützung, dass ich die Vorlesungen in Bern halten konnte, die dann später als Buch veröffentlicht wurden und mich über die Schweizer Grenzen hinaus bekannt machten. «Aufbruch zu neuen Räumen»: so lautete programmatisch der Titel des Buches, das eine Einführung in feministische Theologien bieten wollte.

Heute, 36 Jahre später, stehe ich wieder hier und werde für meine feministisch-theologische Arbeit geehrt. Ich möchte dies zum Anlass nehmen, die Bewegung zu würdigen, ohne die ich nicht hier stehen würde, in der ich verortet bin und die nicht nur in der Schweiz, sondern weltweit zu einem Aufbruch von Frauen führte – deren Verdienste aber schon wieder in Vergessenheit zu geraten drohen. So möchte ich für uns, aber auch für jüngere Frauen und Männer in Erinnerung rufen und würdigen, was Frauen in der Schweiz und weltweit in den vergangenen 40 Jahren in die Welt gesetzt haben. Mein Blick auf die Anfänge, Entwicklungen und Spannungsfelder feministischer Theologien ist subjektiv gefärbt, von meinen eigenen Interessensfeldern und Lernprozessen als systematische Theologin geprägt, die immer daran interessiert war, feministische Theologie im Kontext gesellschaftlicher Entwicklungen zu verstehen und über Grenzen hinauszudenken.

 

Aufbruch zu neuen Räumen

Die Anfänge jener Theologie, die sich explizit als Teil der feministischen Bewegung versteht, datieren in der Schweiz auf Ende der 1970er, Anfang der 1980er Jahre. Vorläuferinnen waren Pionierinnen der kirchlichen Frauenarbeit und Frauenbewegung wie Ruth Epting, Marga Bührig, Else Kähler und Gertrud Heinzelmann. Doch Ende der 1970er Jahre, als sich die neue Frauenbewegung in ihrer Hochblüte befand, fand unter uns jüngeren Theologinnen ein neuer, ein feministischer Aufbruch statt. Wir gründeten Frauenlesegruppen an den theologischen Fakultäten, lasen und diskutierten feministische Bücher wie Simone de Beauvoirs «Das andere Geschlecht» und Mary Dalys Buch «The Church and the Second Sex» (1968), das 1970 auf Deutsch erschienen ist. Dieses Buch öffnete uns die Augen für die Zusammenhänge von christlicher Theologie und Frauenunterdrückung, gab uns erste Einblicke in die theologische Konstruktion der Frau als dem anderen, sprich dem minderwertigen Geschlecht. Weitere Analysen folgten: So wurde der Sexismus in der christlichen Rede von Gott entlarvt und nach neuen Gottesbildern gesucht – «Jenseits von Gottvater, Sohn & Co». Die Weiblichkeit Gottes und vergessen gegangene weibliche Gottesbilder in der Bibel wurden wiederentdeckt, ebenso das historische Erbe unserer biblischen Vor-Schwestern, die in den Anfängen des Christentums als Jüngerinnen, Apostelinnen, Gemeindeleiterinnen und Missionarinnen eine zentrale Rolle spielten. Exegetinnen wie Elisabeth Schüssler Fiorenza und andere entwickelten eine feministisch-kritische Hermeneutik von Bibeltexten, die deren unterdrückende und befreiende Elemente freilegte und eine Flut von feministischen Bibelarbeiten und exegetischen Studien auslöste. Eine feministische Dekonstruktion und Re-Vision der patriarchalen Christologie wurde angestrebt, die dem Verlangen von Frauen nach Heilwerden Ausdruck verleiht – ein Projekt, an dem auch ich beteiligt war. Frauengottesdienste fanden statt, neue liturgische Formen und eine liturgische Sprache ohne androzentrische Verengungen wurden praktiziert.

Es war eine Zeit der fundamentalen Kritik an einer frauenunterdrückenden Theologie und Kirche, aber auch des Aufbruchs unzähliger christlicher Frauen, die endlich mit ihren eigenen religiösen Erfahrungen zu Wort kommen wollten. Die katholische Paulus-Akademie Zürich und das evangelische Tagungszentrum Boldern wurden für viele von uns zu wichtigen Räumen dieses Aufbruchs; für andere Frauen waren es die evangelischen Heimstätten Leuenberg und Gwatt. «Sisterhood is powerful»: Das war damals nicht einfach ein Slogan, sondern wurde an Frauentagungen gelebt und erlebt, beflügelte unseren Geist und vibrierte in unseren Körpern. Unser Horizont wurde weit, kritisches Denken konnte sich frei entfalten, keine patriarchalen Glaubenssätze und Dogmen, die ihm Grenzen setzten. Voller Leidenschaft möblierten wir damals die christlichen Glaubensräume aus der Sicht von Frauen neu. Unsere Re-Vision der christlichen Theologie und die leidenschaftliche Suche nach einer frauenbefreienden und lebensfreundlichen Theologie sollten die Gesellschaft verändern und ebenso deren religiös-symbolische Ordnung.

 

Hochblüte der feministisch-theologischen Bewegung in der Schweiz

Die 1980er Jahre und frühen 1990er Jahre waren eine Zeit der Hochblüte der feministischen Theologie und der Frauen-Kirche-Bewegung Schweiz: Ab 1985 fanden in vielen Schweizer Regionen lokale Frauenkirchentage und Frauenkirchenfeste statt, in Luzern, Interlaken und Basel wurden drei grosse ökumenische Frauenkirchenfeste durchgeführt, mit bis zu Tausend Teilnehmerinnen. 1985 haben wir, acht junge Theologinnen, die feministisch-theologische Zeitschrift FAMA gegründet – als autonomes Sprachrohr unserer feministischen Anliegen. Auch an Universitäten hielt die feministische Theologie Einzug: Ab Mitte der 1980er Jahre gab es auf Betreiben von Studierenden feministisch-theologische Lehraufträge an den Universitäten Bern, Luzern und Fribourg, später auch in Basel. Von 1987 bis 2003 wurden Fachstellen für feministische Theologie sowie verschiedene kirchliche Frauen- und Genderstellen gegründet, zuerst von den reformierten Kirchen, ab den 1990er Jahren auch von der römisch-katholischen Kirche. 1991 schlossen sich katholische und reformierte feministische Theologinnen zu einer IG zusammen: der Interessengemeinschaft feministischer Theologinnen der deutschen Schweiz (und Liechtensteins). Und schliesslich fanden ab 1995 alle paar Jahre grosse ökumenische «Frauensynoden» statt – ein Projekt der Frauen-Kirchen-Bewegung Schweiz. Die Synoden wurden in sechs verschiedenen Schweizer Städten durchgeführt und versammelten jeweils gut 500 Frauen aus dem ganzen Land.

Einiges von damals hat erfreulicherweise heute noch Bestand: so z.B. die FAMA, die nach einem Generationenwechsel 2006 heute von jüngeren Theologinnen herausgegeben wird. Ebenso die ESWTR, die Europäische Gesellschaft für die theologische Forschung von Frauen, die 1986 in der Schweiz, in Magliaso, gegründet wurde und heute Mitgliedsfrauen aus über 30 Ländern zählt. Auch die IG Feministische Theologinnen existiert weiterhin, umfasst aktuell 150 Mitgliedsfrauen und feierte dieses Jahr ihr 30-jähriges Bestehen. 2021 gab es zudem wieder eine Frauensynode – diesmal zum Thema «Wirtschaft ist Care». Und es ist auch Neues entstanden: 2019 gingen feministische Theologinnen und Kirchenfrauen im Rahmen des nationalen Frauen*streiks unter dem Motto «Gleichberechtigung Punkt Amen» gemeinsam für ihre Anliegen auf die Strasse. Anderes ist wieder abgeschafft worden, wie feministisch-theologische Lehraufträge (ausser an der Universität Luzern), weshalb eine Institutionalisierung feministischer Theologie an den Universitäten bis heute fehlt. Aufgehoben wurden auch die meisten kirchlichen Frauenstellen, aus Spargründen, wie es oftmals hiess.

Dennoch wurde in den vergangenen 40 Jahren auch viel erreicht: Unzählige Forschungsarbeiten und Bücher sind erschienen, in Frauengruppen, Bildungszentren und in vielen Gemeinden wurden Ergebnisse feministischer Theologie diskutiert und von Pfarrerinnen in ihrer Arbeit weitervermittelt. Und an einigen Theologischen Fakultäten gibt es inzwischen mehrere Professorinnen mit einer feministischen oder Genderoptik, wie z.B. hier in Bern.

[In Klammer: Damit all diese Projekte, Initiativen und Errungenschaften nicht in Vergessenheit geraten, habe ich ein Buchprojekt mitinitiiert, das die Anfänge und Entwicklungen der feministisch-theologischen Bewegung in der Schweiz mit Beiträgen der Protagonistinnen von damals und heute dokumentiert und im Mai 2022 im eFeF Verlag escheinen soll.]

 

Ausdifferenzierungen und Pluralisierung

Feministische Theologie hat sich im Laufe der Jahre verändert: Sie ist vielfältiger und vielstimmiger geworden, umfasst eine grosse Positionen- und Perspektivenvielfalt. Ab den 1990er Jahren fand z.B. die aus den Gender-Studies stammende Analyse­kategorie «Gender» vermehrt Eingang in die feministische Theologie. Mit dem Begriff «Gender» wird das durch Sozialisationsprozesse, Rollenzuschreibungen und kulturelle Normen erworbene Geschlecht bezeichnet. Damit wird noch stärker herausgestrichen, worum es feministischer Theologie von Anfang an ging: nämlich nicht um eine Theologie der Frau, sondern um die Analyse und Kritik theologisch begründeter patriarchaler Geschlechterordnungen und Geschlechtsrollen und deren Überwindung. Genderforschung hat seither zu einer Fülle von Studien geführt, die danach fragen, inwieweit die christliche Religion, d.h. Bibeltexte, theologische Konzepte und kirchliche Strukturen an der Herstellung und Verfestigung von «Geschlecht» und der Reproduktion des hierarchischen und machtförmigen Geschlechterdualismus beteiligt sind.

Gender-Studies sind nicht nur eine Sache von Frauen, denn sie zielen auf die Dekonstruktion weiblicher und auch männlicher Geschlechterrollen. So gibt es seit Ende der 1990er Jahre Ansätze einer von Männern betriebenen Männerforschung und einer kritischen Männertheologie. Diese rücken die Kritik an (theologischen) Männlichkeitskonzepten in den Blick, erforschen Konstruktionen hegemonialer und toxischer Männlichkeit und stellen die Frage, wie Männer sich von dominanten und destruktiven Formen der Männlichkeit befreien können. Ebenfalls in den 1990er Jahren entstanden lesbische, schwule und Queertheologien. Queer-Theologie will Theologie ausgehend von der Lebenswirklichkeit queerer Menschen betreiben, liest biblische und theologische Texte aus dieser Optik neu und versteht sich als Theologie der Befreiung aus einer heteronormativen Theologie. 2005 wurde von Schweizer Theologinnen und Theologen ein Netzwerk «Geschlechterbewusste Theologie» gegründet, das «Theologische Geschlechterdialoge querbeet» entwickeln wollte und sich als innovatives Forum zwischen wissenschaftlicher Theologie, kirchlicher Praxis und Gender Studies verstand.[1]

Eine Differenzierung und Pluralisierung feministischer Theologie wurde aber vor allem von jenen Stimmen vorangetrieben, die blinde Flecken der westlichen feministischen Theologie aufdeckten und diese zur selbstkritischen Reflexion der eigenen Grenzsetzungen und des Ausschlusses anderer Frauen zwangen ─ und dadurch wichtige Lernprozesse in Gang setzten. Vier dieser Spannungsfelder bzw. blinden Flecke möchte ich etwas näher beleuchten, die auch mich in meiner theologischen Arbeit herausforderten und die bis heute aktuell sind: Antijudaismus, Eurozentrismus, Rassismus und Neo-Kolonialismus.

 

Antijudaismus auch in feministischen Theologien

Es war für mich wie für viele christliche Theologinnen ein Schock, als uns jüdische Theologinnen wie Susannah Heschel und Judith Plaskow Ende der 1980er Jahre die antijudaistische Schlagseite unserer frauenbefreienden Theologien aufzeigten.[2] In unseren feministischen Versuchen, hinter dem dogmatischen Christus den biblischen Jesus als Befreier der Frauen wiederzuentdecken, strichen die meisten Theologinnen die Besonderheit des historischen Jesus vor einem negativ gezeichneten patriarchalen Judentum der damaligen Zeit heraus. So wurde die befreiende Praxis Jesu Frauen gegenüber als neu und einzigartig innerhalb des jüdischen Umfeldes heraus­gehoben und diesem häufig als Antithese gegenübergestellt. Diese Gegenüberstellung von frauenfreundlichem Jesus und frauenfeindlichem Judentum übersah nicht nur die Tatsache, dass Jesus Jude war und zeitlebens Jude blieb und als solcher seine befreiende Reich-Gottes-Botschaft verkündete. Sie führte auch ein dem Christentum fast von Anfang an inhärentes antijudaistisches Motiv in neuer Form weiter: das Christentum als Überwindung des Judentums!

Jüdische Theologinnen machten uns bewusst: Antijudaismus ist nicht nur die Kehrseite der Christologie, sondern überhaupt ein grundsätzliches oder strukturelles Problem der christlichen Theologie. Das Eigene des Christentums wurde und wird zum Teil bis heute im Gegensatz zum Judentum herausgestellt und in Abgrenzung und Abwertung der jüdischen Religion formuliert: Das Christentum ist eine Religion der Liebe, das Judentum dagegen eine Religion des Gesetzes; der «alte Bund» ist durch einen «neuen Bund» ersetzt worden. Jesus hat das Judentum abgeschafft und die Kirche als das neue Israel hat dessen Platz eingenommen. Und die feministische Version: Jesus hat Frauen vom jüdischen Patriarchat befreit. Dieser theologisch verankerte Antijudaismus, der während Jahrhunderten den Nährboden für Judenverfolgungen und auch für den Antisemitismus des 20. Jahrhunderts bereitete, ist bis heute virulent. Dies einzusehen und sich einzugestehen, dass auch wir christliche feministische Theologinnen antijudaistische Denkmuster ─ unbewusst ─ weitergeführt hatten, war schmerzhaft, hat aber zu einer Sensibilisierung und einem Umdenken innerhalb der westlichen feministischen Theologie geführt.

 

Eurozentrische Universalisierung von Frauenerfahrungen

Das Bewusstwerden, dass Frauenerfahrungen in der Theologie nicht vorkamen, dass die allgemein-menschlichen Erfahrungen, von denen die Theologie sprach, faktisch männliche Erfahrungen waren, stand am Anfang feministischer Theologie. Die bisher unsichtbar gebliebenen Erfahrungen von Frauen wurden daher zum Ausgangspunkt der theologischen Reflexion und der religiösen Praxis. Wenig reflektiert wurde bis Mitte der 1980er Jahre jedoch, welche Frauenerfahrungen diesen Reflexionen zugrunde gelegt wurden, welches Subjekt «Frau» da eigentlich sprach und in wessen Namen. Erst die Kritik von Schwarzen Frauen aus den USA und von «Women of Color» des globalen Südens machte feministischen Theologinnen bewusst, dass sie in ihren theologischen Analysen und Entwürfen unreflektiert von den Frauen gesprochen hatten, ohne zu merken, dass sie damit ihre eigene Situation als gebildete, weisse, heterosexuelle westliche Mittelstandsfrauen zu universell gültigen Frauenerfahrungen verallgemeinerten, während die Lebenszusammenhänge von Schwarzen Frauen und «Women of Color» ausgeblendet blieben.

Diese Kritik war Auslöser für die Erkenntnis, dass Frauenerfahrung als grundlegende Kategorie feministischer Theologie keine universale und einheitliche Grösse ist, dass die konkreten Erfahrungen von Frauen nicht nur vom Geschlecht, sondern ebenso von der sozialen Klasse, Kultur, Religion, rassistischer Diskriminierung, sexueller Orientierung usw. beeinflusst sind. Die Theologin Elisabeth Schüssler Fiorenza hat diese Sicht bereits in den 1980er Jahren in ihre Konzeption von Patriarchat als einem System ineinandergreifender Unterdrückungsstrukturen wie Sexismus, Rassismus, Kolonialismus, Kapitalismus, Naturausbeutung u.a. aufgenommen. Diese Intersektionalität, wie wir es heute nennen, d.h. die Verschränkung verschiedener Diskriminierungskategorien, hat das Verständnis von Frauenerfahrung in der Folge grundlegend verändert. Und sie hat für westliche Feministinnen die schwierige Erkenntnis der eigenen Beteiligung an der Diskriminierung und Ausbeutung anderer Frauen mit sich gebracht.

Auch in der feministischen Theologie wurden in der Folge die soziokulturellen Differenzen zwischen Frauen, die von der Kolonial- und Missionsgeschichte, von Rassismus und gegenwärtigen neokolonialen Mechanismen mitbedingt sind, zentral. Die kontextuelle Verschiedenheit und Vielfalt von Frauenerfahrungen wurden zum Ausgangspunkt kontextueller feministischer Befreiungstheologien, denen es um ein gutes Leben für alle Frauen geht. Seit den 1990er Jahren ist klar: Feministische Theologie ist keine Theologie im Singular, sondern eine Theologie im Plural. Und sie findet nicht nur im globalen Norden statt. Ich selber wurde zu dieser Einsicht durch einen Studienaufenthalt 1994 in Cambridge/Boston geführt. Die Begegnung mit asiatischen und Schwarzen Theologinnen weitete meinen Blick über den eigenen, begrenzten Horizont hinaus und führte zu einem Perspektivenwechsel in meiner eigenen Forschungsarbeit zu feministischen Christologien. Ich legte diese nun interkulturell an und rückte die theologischen Ansätze von Theologinnen aus Asien, Afrika und Lateinamerika vom Rand in die Mitte.[3] Doch schon damals beschäftigte mich die Frage, die heute unter dem Stichwort «Kulturelle Aneignung» heftig und kontrovers diskutiert wird: Ist es überhaupt erlaubt, dass ich als westliche weisse Frau über Frauen anderer kultureller Herkunft schreibe? Ich habe damals die Frage ─ ermutigt durch Gespräche mit der postkolonialen Theologin Kwok Pui-lan ─ für mich mit «Ja» beantwortet. Denn es ist wichtig, den eurozentrischen Blick aufzubrechen und mit den Augen der Anderen sehen zu lernen, ohne diese aber zu vereinnahmen. Seither begleitet mich die Frage, ob und wie interkulturelles Verstehen möglich ist und wie über die Unterschiede und das Machtgefälle zwischen Frauen hinweg eine Politik und Praxis der Solidarität entwickelt werden kann.

Im Folgenden möchte ich auf die damalige Kritik Schwarzer Frauen in den USA sowie postkolonialer Feministinnen etwas ausführlicher eingehen, denn ihre Analysen aus den 1980er und 1990er Jahren sind m.E. im Hinblick auf die derzeitigen Debatten um Rassismus und Kolonialismus noch immer höchst relevant.

 

Rassismus des «weissen» Feminismus

Schwarze Theoretikerinnen und Schriftstellerinnen wie Angela Davis, bell hooks und Audre Lorde kritisierten anfangs der 1980er Jahre die Ignoranz weisser [4] Feministinnen. Im Gegensatz zu weissen Amerikanerinnen sahen sich Schwarze Amerikanerinnen nämlich nicht nur mit Sexismus, sondern mit mehrfacher Unterdrückung konfrontiert: mit dem Sexismus der weissen und Schwarzen Männer, mit dem Rassismus der weissen Männer und Frauen, mit ökonomischer Unterdrückung und systemischer Gewalt. Der Rassismus weisser Frauen kam vor allem in der Zeit der Sklaverei zum Ausdruck, als diese nicht nur an der Ausbeutung und Unterdrückung Schwarzer Frauen und Männer beteiligt waren, sondern ihren eigenen Status durch ihre Überlegenheit, ihre Autorität und Macht über die Schwarzen Sklav:innen definierten bzw. aufwerteten. Bis heute zeigt sich der tief verinnerlichte Rassismus weisser Frauen (und Männer) unter anderem darin, dass die amerikanische Frau für sie ganz selbstverständlich eine weisse Frau ist. Die Analyse des Rassismus muss deshalb in den Augen Schwarzer Theoretikerinnen einen zentralen Stellenwert in der Gesellschaftsanalyse von Feministinnen einnehmen. Zugleich muss der strukturelle Unterschied in den Unterdrückungserfahrungen von weissen und Schwarzen Frauen sichtbar gemacht werden. Audre Lorde beschreibt diese Unterschiede sehr eindrücklich: «Manche Probleme haben wir als Frauen gemeinsam, andere nicht. Ihr habt Angst, eure Kinder werden als Erwachsene dem Patriarchat angehören und gegen euch Stellung beziehen, wir haben Angst, dass unsere Kinder aus einem Auto gezerrt und auf der Strasse erschossen werden, und dass ihr euch wegdreht und nicht wissen wollt, warum sie sterben.» [5]

Um den Unterschied zwischen einem weissen und einem Schwarzen Feminismus auch sprachlich deutlich zu machen, wurde der Begriff Womanist anstelle von Feminist kreiert. Mit dieser Selbstbenennung reklamieren Schwarze Frauen ihr Recht, sich und ihre Erfahrungen, die sowohl von der Schwarzen Befreiungsbewegung wie auch der feministischen Bewegung übergangen worden sind, selber zu benennen. Womanism als Bezeichnung eines Schwarzen Feminismus beharrt auf dem notwendigen Zusammenhang des Kampfes gegen den Sexismus weisser und Schwarzer Männer und den Rassismus weisser Männer und Frauen. Gleichzeitig rückt er die Erfahrungen Schwarzer Frauen ins Zentrum. Das Wort Womanist stammt nämlich aus dem Kontext der traditionellen Volkskultur Schwarzer Frauen in den USA und verweist auf die Bedeutung, die dem kulturellen, geschichtlichen und religiösen Erbe Schwarzer Frauen und dem ihrer Grossmütter und Mütter im Schwarzen Feminismus zukommt.

Es sind vor allem Theologinnen, die den Begriff Womanist als Selbstbezeichnung und als Bezugsrahmen ihrer Theologie übernommen haben. In Auseinandersetzung mit biblischen, theologischen und historischen Quellen suchen Womanist-Theologinnen nach den Stimmen, dem Handeln, den Kämpfen und dem Glauben afrikanisch-amerikanischer Frauen, um eine eigene theologische Perspektive zu entwickeln, die die Traditionen und Erfahrungen Schwarzer Frauen sichtbar macht, dem Überleben Schwarzer Frauen und der Schwarzen Gemeinschaft dient sowie dem befreienden Handeln Gottes Rechnung trägt. Im Unterschied zur Schwarzen Theologie und zur feministischen Theologie ist für die Womanist-Theologin Delores S. Williams nicht «Befreiung» die zentrale Kategorie, sondern «Überleben». Das biblische Paradigma ist für sie daher nicht das Exodusereignis, sondern die Geschichte der Sklavin Hagar (Gen 16,1-16; 21,9-21). Denn Hagars Erfahrungen haben auch Hagars Schwestern gemacht: Wie Hagar leben Schwarze Frauen im Hause ihrer Sklavenhalter und versuchen zu überleben in einer ihnen feindlichen Welt, der Wildnis, der Wüste, die nicht aufhört zu existieren, sondern lediglich ihr Gesicht verändert. Doch wie Hagar bahnen sich Schwarze Frauen immer wieder einen Weg aus einer hoffnungslosen Lage, finden einen Weg zum Überleben für sich und ihre Kinder.[6]

Die Kritik Schwarzer Frauen fand ihren Weg auch in die Schweiz: Mitte der 1980er Jahre lud Brigit Keller, Studienleiterin an der Paulus-Akademie Zürich, Audre Lorde für Lesungen und Vorträge ein – für viele von uns bis heute ein denkwürdiges Ereignis. Und Ende der 1990er Jahre leistete die deutsche Theologin Eske Wollrad mit ihrem Buch «Wildniserfahrung. Womanistische Herausforderung und eine Antwort aus Weisser feministischer Perspektive» (Gütersloh 1999) einen wichtigen Beitrag zur Debatte im deutschsprachigen Raum.

 

Ein neokolonialer Feminismus

Frauen sitzen nicht einfach qua Geschlecht im selben Boot: Diese Einsicht wurde durch die postkoloniale feministische Theorie und Theologie bestärkt. Postkoloniale Denker:innen analysieren die sozialen, kulturellen, ökonomischen, religiösen und psychologischen Auswirkungen des Kolonialismus auf die ehemaligen kolonisierten Bevölkerungen und auf die Kolonisator:innen. Postkolonialer Feminismus richtet den Fokus dabei vor allem auf die soziokulturellen Differenzen zwischen Frauen und auf das Geschlechterverhältnis, die von der Kolonialgeschichte und gegenwärtigen neokolonialen Mechanismen mitbedingt sind.[7]

Die Kritik richtet sich gegen die westliche Homogenisierung von Frauen der sog. «Dritten Welt» – meist auf der Basis einer postulierten Gleichheit der Unterdrückung – und gegen die Verschleierung von Mittäterschaft weisser Frauen im Kolonialismus. Unter dem Deckmantel der Frauenemanzipation seien auch von Frauen Kolonialinteressen verschleiert und Kolonialisierung und Mission legitimiert worden. Die postkoloniale feministische Theologin Kwok Pui-lan fasst dies unter dem Stichwort «colonial feminism» zusammen. Das Resultat sei die westliche «Erfindung» der Dritte-Welt-Frau: Diese beruhe zum einen auf ihrem weiblichen Geschlecht, das als sexuell unterdrückt betrachtet wird, zum anderen auf dem Dritte-Welt-Sein, das mit Unwissen, Armut, Traditionsgebundenheit, Familienorientierung, Opferstatus usw. verbunden wird. Im Kontrast dazu steht die Selbstrepräsentation westlicher Frauen als gebildet und modern, als Frauen, die ihre Körper und Sexualitäten kontrollieren können und die Freiheit haben, selber ihre Entscheidungen zu treffen. Westliche Frauen bilden in dieser Logik die Norm, an der alles gemessen wird. In engem Zusammenhang damit steht die Viktimisierung von Dritte-Welt-Frauen, die meist als machtlose Gruppe dargestellt werden. Sie sind entweder Opfer männlicher Gewalt oder der Kolonialisierung oder des arabischen Familiensystems oder der ökonomischen Entwicklung oder der islamischen Religion usw. Die Fremdkonstruktionen westlicher Feministinnen beziehen sich aber auch auf Männer: Der kolonisierte bzw. fremde Mann wird als Nichtemanzipierter häufig zum Feindbild.

Auch in feministische Theologien hat die postkoloniale feministische Kritik Eingang gefunden. Vor allem die botswanische Theologin Musa W. Dube und die chinesisch-amerikanische Theologin Kwok Pui-lan legen seit vielen Jahren Ansätze postkolonialer feministischer Lesarten der Bibel und der Theologie vor. Sie suchen nach einer Art des Denkens, die «das Selbst» und «das Andere» nicht länger in ein Wir/Sie-Schema einordnet und es möglich macht, die positive Herausforderung kultureller und religiöser Unterschiede ernstzunehmen. Um das zu erreichen, ist ein Prozess der Dekolonisierung des eigenen Denkens nötig. Die postkoloniale Kritik ist für feministische Theologien und den interkulturellen Dialog unerlässlich, um Selbst- und Fremdkonstruktionen des «Wir» und die «Anderen» und die damit einhergehenden Macht- und Unterdrückungsmechanismen aufzudecken. Solidarität und Koalitionen unter Feministinnen sind unter diesen Vorzeichen möglich – ja angesichts der gegenwärtigen Formen von Neo-Kolonialismus und Globalisierung politisch und ethisch gefordert. Wir alle sind, so die Theologin Musa W. Dube, aufgerufen, «dekolonisierende Feministinnen» zu werden.[8] Es gilt, die scheinbare Normalität bzw. Normativität des eigenen, eurozentrischen, rassistischen und kolonisierenden Blicks zu verlernen, das eigene Denken zu de-kolonisieren und immer wieder neu einen Perspektivenwechsel einzuüben.

Diese Haltung habe ich selber in den letzten 20 Jahren im interreligiösen Dialog von Frauen weiter eingeübt – einem neueren Themenfeld feministischer Theologien.

 

Dialog führen über Religionsgrenzen hinaus

Ende der 1990er Jahre entstanden interreligiöse Dialog-Projekte von Frauen, auch in der Schweiz. So gründete Reinhild Traitler, damals Studienleiterin auf Boldern, zusammen mit Teny Pirri-Simonian vom OeRK, Mitte der 1990er Jahre in der Schweiz das «European Project for Interreligious Learning» (EPIL), das auf den Dialog von Christinnen und Musliminnen fokussiert und bis heute Studienkurse anbietet. Ebenfalls von Boldern wurden in Zusammenarbeit mit der Paulus-Akademie Zürich, der Fachstelle Frauen der Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn und der Frauenkirche Zentralschweiz von 2002–2008 «Interreligiöse Theologiekurse für Frauen» organisiert, die von einem interreligiösen Team geleitet wurden und sich an Jüdinnen, Christinnen und Musliminnen wandten.

Die langjährigen Dialog-Erfahrungen in diesen Projekten führten bei einigen von uns zum Wunsch, diese mit mehr Gewicht in die öffentlichen Religionsdebatten einzubringen, die einseitig von männlichen Amtsträgern der Religionsgemeinschaften dominiert werden. Ende 2008 habe ich deshalb mit meiner muslimischen Kollegin Amira Hafner-Al Jabaji und meiner jüdischen Kollegin Eva Pruschy bzw. Gabrielle Girau Pieck den «Interreligiösen Think-Tank» gegründet, mit dem wir uns seither mit Stellungnahmen in die aktuellen Religionsdebatten einmischten, u.a. auch in die Debatten um Kopftuch- und Burkaverbot. Auch hier wiederholen sich Muster, die wir aus der Kritik postkolonialer Denkerinnen kennen: ein «Othering» der fremden bzw. muslimischen Frau, Selbsterhöhung und Selbstidealisierung der westlichen «befreiten» Frau gegenüber der angeblich rückständigen und unterdrückten Muslimin. Als Think-Tank von jüdischen, christlichen und muslimischen Fachfrauen haben wir zudem Studien verfasst zu Frauenrechten und Religion, zu Leitungsfunktionen von Frauen in den jüdischen, christlichen und muslimischen Religionsgemeinschaften; wir haben die Vision eines neuen «Wir» entworfen und jüngst eine interreligiöse Studie zu Ökologie und Schöpfung im Judentum, Christentum und Islam publiziert ─ als Beitrag zur aktuellen Klimadebatte.[9]

Interreligiöser Dialog zielt für uns dabei nicht nur auf die Verständigung zwischen Religionen ab, sondern ist ein gesellschaftliches Projekt, das ein friedliches und respektvolles Zusammenleben und die Sorge für unsere gemeinsame Erde befördern will. Leitlinien eines solchen Dialogs sind: eine Haltung des radikalen Respekts vor dem Gegenüber (auch und gerade in Bezug auf unterschiedliche Glaubensüberzeugungen), das Beachten der strukturellen Asymmetrie und des Machtgefälles zwischen den Angehörigen der Mehrheits- und den Minderheitenreligionen, das Einüben eines Perspektivenwechsels, Abgeben der Definitionsmacht und Respektierung der Selbstdefinition der anderen. [10]

Interreligiösem Dialog aus Gendersicht sollte m.E. in Zukunft noch mehr Beachtung geschenkt werden. Denn zum einen wird in den aktuellen Debatten um ein multikulturelles und interreligiöses Zusammenleben gerade die Geschlechterfrage häufig zur Bestimmung des Eigenen und zur Markierung der «Anderen» politisch instrumentalisiert. Zum anderen spielt für die Mehrheit der Frauen weltweit Religion eine wichtige Rolle in ihrem Leben; sie ist nicht nur patriarchales Unterdrückungsinstrument, sondern ebenso eine Ressource in ihrem Kampf für Geschlechtergerechtigkeit und Teilhabe an der politischen, gesellschaftlichen und religiösen Gestaltungsmacht. Angesichts von zunehmendem religiösen Fundamentalismus, Anti-Genderismus und Bekämpfung von Frauenrechten weltweit (und zunehmend auch bei uns in Europa) braucht es m.E. je länger je mehr Vernetzungen, Allianzen und den Dialog von Frauen über Kultur- und Religionsgrenzen hinweg.

 

Ökofeministische Theologien der Erde

Eine der wichtigsten theologischen Debatten der Gegenwart ist die ökologische Frage. Auch hier geht es darum, über Grenzen hinauszudenken: nämlich über die Anthropozentrik herkömmlicher Theologien hin zu einer schöpfungszentrierten und ökologischen Theologie, in der wir Menschen uns nicht als Krone, sondern als Teil der Schöpfung verstehen ─ verbunden mit allen anderen Lebewesen. Feministische Theologinnen haben dazu schon vor gut 30 Jahren wichtige Beiträge verfasst. Diese wurden leider kaum rezipiert, sind heute aber aktueller denn je.

Theologinnen wie Dorothee Sölle, Catharina Halkes, Sallie McFague, Catherine Keller, Rosemary Radford Ruether, Ivone Gebara und Chung Hyun Kyung haben auf die Parallelen zwischen der Unterdrückung von Frauen und der Natur hingewiesen und neue Bilder der Beziehung zwischen Gott und Erde, zwischen Mann und Frau, zwischen Mensch und Natur entwickelt. Bei aller Unterschiedlichkeit der einzelnen ökofeministischen Ansätze und der kulturellen Kontexte ist ihnen gemeinsam, dass sie das philosophische Fundament der christlichen Theologie in Frage stellen: den hierarchischen Dualismus von Gott und Welt, von Gott und Mensch, von Mann und Frau, von Seele und Körper, von Geist und Materie.

Dieser Dualismus wird durch eine Weltsicht ersetzt, die von der Verbundenheit und Interdependenz allen Lebens ausgeht und Gott nicht als das ganz Andere, nur Transzendente begreift, sondern als das innig in und mit allem Geschaffenen Verbundene. Das Schöpfungsverständnis ökofeministischer Theologinnen ist Ausdruck einer neuen Spiritualität, die die Erde als «von Gott durchwirkten Ort» achtet und zu neuen Verhaltensweisen im Alltag und zu politischem Handeln führt.[11] Ökofeminismus und ökofeministische Theologien sollten heute unbedingt auch bei uns wieder aufgegriffen und weiterentwickelt werden. Denn sie liefern wichtige Anstösse für die aktuellen Klimadebatten und ebenso für den Feminismus. Die Klimakrise ist nicht genderneutral, sondern wirkt sich auf die Geschlechter unterschiedlich aus, und Geschlechtergerechtigkeit kann nicht hergestellt werden, ohne den Klimawandel und dessen Folgen für die Gesellschaft zu berücksichtigen.

 

Gedanken zum Schluss

Feministische Theologien haben mit ihren neuen Ansätzen nicht nur unzählige Frauen von der Last einer patriarchal verengten und frauenunterdrückenden christlichen Theologie befreit. Sie haben auch auf dem Gebiet der Theorie in vielem eine Vorreiterinnenrolle gespielt: So brachten feministische Theologinnen Patriarchatskritik, eine feministisch-kritische Hermeneutik und feministische Themen in ihr Fachgebiet ein, als dies in anderen Fachdisziplinen noch kaum der Fall war. Feministische Theologinnen haben sich aber immer wieder auch kritischen Anfragen gestellt, die eigenen Ansätze selbstkritisch hinterfragt und sich schon früh mit Themen auseinandergesetzt wie Antijudaismus, Rassismus, Eurozentrismus und Kolonialismus, die noch heute aktuell sind. Und sie haben sich neuen theologischen Ansätzen geöffnet wie z.B. den Womanist- und Queer-Theologien, dem Ökofeminismus und postkolonialen Studien ─ und so ihr Blickfeld stetig erweitert. Wir haben allen Grund, stolz zu sein auf das, was wir in die Welt gesetzt haben!

Und auch wenn feministische Theologie derzeit bei uns keine hohen Wellen mehr schlägt, ist ihre Kritik an Theologie und Kirche nach wie vor aktuell: Noch immer dominieren in den christlichen Kirchen eine androzentrische Gottesrede, patriarchale theologische Konzepte und eine heteronormative Geschlechterordnung.

Ich weiss nicht, ob feministische Theologie bei uns eine Zukunft hat, aber ich bin überzeugt, dass es sie auch in Zukunft braucht. Denn noch immer steht aus, wofür wir gekämpft und was wir uns erhofft haben: eine Welt, in der keine und keiner benachteiligt wird aufgrund von Geschlecht, Religion, Kultur, Hautfarbe, Ethnie, Alter, sexueller Orientierung – und in der alle ein gutes Leben, ein «Leben in Fülle» haben, wie es in der Sprache der Bibel heisst.

 

Vortrag gehalten am 7. Oktober 2021 an der Universität Bern – aus Anlass der Verleihung der Ehrendoktorinnenwürde durch die Theologische Fakultät der Universität Bern vom 5. Dezember 2020.

 

Doris Strahm

 

Fussnoten:

[1]   Vgl. Heike Walz/David Plüss (Hg.): Theologie und Geschlecht. Dialoge querbeet. Zürich 2008. Gründer:innen waren Andreas Borter, Tania Oldenhage, Christoph Walser und Heike Walz. Inzwischen wurde das Netzwerk wieder aufgelöst.

[2]   Susannah Heschel, Jüdisch-feministische Theologie und Antijudaismus in christlich-feministischer Theologie, in: Leonore Siegele-Wenschkewitz (Hg.), Verdrängte Vergangenheit, die uns bedrängt. Feministische Theologie in der Verantwortung für die Geschichte, München 1988, 54-103; Judith Plaskow, Feminist Anti-Judaism and the Christian God, in: Journal of Feminist Studies in Religion, Vol. 7, No. 2, Fall 1991, 99-108.

[3]   Doris Strahm: Vom Rand in die Mitte. Christologie aus der Sicht von Frauen in Asien, Afrika und Lateinamerika. Luzern 1997.

[4]   «Weiss» meint im Folgenden wie «Schwarz» eine politische Kategorie und nicht einfach eine Bezeichnung der Hautfarbe. Während «Schwarz» für die gemeinsame Erfahrung rassistischer Diskriminierung, aber auch für eine Strategie des Widerstands und der Selbstermächtigung steht, verweist «weiss» auf gesellschaftliche Machtverhältnisse, in denen die Zuordnung «weiss» historisch und aktuell eher mit strukturellen Privilegien verbunden ist. Vgl. dazu Fork Burke/Myriam Diarra & Franziska Schutzbach (Hg.), I Will be Different Every Time. Schwarze Frauen in Biel, Biel 2020, Fussnote S. 41/43.

[5]   Audre Lorde, Du kannst nicht das Haus des Herren mit dem Handwerkszeug des Herren abreissen, in: Dagmar Schultz (Hg.), Macht und Sinnlichkeit. Ausgewählte Texte von Audre Lorde und Adrienne Rich, erweiterte Neuausgabe, Berlin 1991, 206.

[6]   Delores S. Williams, Sisters in the Wilderness. The Challenge of Womanist God-Talk, Maryknoll/New York 1993.

[7]   Vgl. Heike Walz, «Die Dritte-Welt-Frau»? Geschlechterdifferenz im Scheinwerfer der Kritik postkolonialer Denkerinnen, in: Heike Walz / Christine Lienemann-Perrin / Doris Strahm (Hg.), Als hätten sie uns neu erfunden. Beobachtungen zu Fremdheit und Geschlecht, Luzern 2003, 41-54.

[8]   Musa W. Dube, Postcoloniality, Feminist Spaces, and Religion, in: Laura Donaldson/Kwok Pui Lan (eds.); Postcolonialism, Feminism, and Religious Discourse, New York 2002, 100-122, 102ff.

[9]   Unsere Erde - Gottes Erde? Eine interreligiöse Betrachtung zu Schöpfung und Ökologie, Basel 2019, als PDF abrufbar unter: www.interrelthinktank.ch

[10] Vgl. dazu Interreligiöser Think-Tank: «Leitfaden für den interreligiösen Dialog», Basel 52015.

[11] Dazu ausführlicher: Doris Strahm, Ökologie und Feminismus – eine zukunftsweisende Verbindung, in: Neue Wege, Heft 11.19, 5-9.

 

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