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Von der Hoffnung auf die grosse Transformation – und den kleinen, fragilen Momenten von Heil
Für Beat Dietschy
Um die ganz grosse Transformation, um die Verwandlung aller bestehenden menschlichen Herrschaftsformen, ging es vor 2000 Jahren dem jüdischen Wanderpropheten Jesus aus Nazaret. Nicht um ein bisschen weniger Ungleichheit, nicht um ein bisschen weniger Ungerechtigkeit und Gewalt. Nein, das Reich Gottes, von dem er kündete, das er den Bettelarmen, den Hungernden, den Leidenden und den Ausgegrenzten nahe brachte, verhiess umfassende GERECHTIGKEIT, umfassende FREIHEIT, umfassenden FRIEDEN – SCHALOM.
Das Reich Gottes ist damals für die Menschen, die sich um den Gottesboten sammelten und mit ihm zogen, angebrochen und erfahrbar geworden: Frauen und Männer und besonders jene Menschen, die in der damaligen Gesellschaft am Rand standen und unter materieller, physischer, psychischer und sozialer Not litten, wurden von der göttlichen Geistkraft verwandelt, haben sich aufgerichtet zu neuem Leben und neue Formen von nicht-hierarchischer Gemeinschaft gelebt. Sie haben eine «Gemeinschaft von Gleichgestellten» (Elisabeth Schüssler Fiorenza) gebildet und mit Jesus zusammen eine dem Gottesreich entsprechende Praxis umfassenden Heil-Seins zu verwirklichen versucht und ihn bei seiner Reich-Gottes-Verkündigung unterstützt. Gemeinsam formten sie den «kollektiven Hoffnungskörper des Messias» (Luzia Sutter Rehmann).
Der Verkünder des Gottesreiches wurde von den Mächtigen seiner Zeit zwar als politischer Aufwiegler hingerichtet, doch die Hoffnung auf die grosse Transformation aller Herrschaftsverhältnisse war nicht tot zu kriegen. Sie lebte weiter, wurde von seinen Nachfolgerinnen und Nachfolgern durch die Jahrhunderte hindurch weitergetragen – weniger von den offiziellen Vertretern der Christenheit, als durch Minderheitengruppen, durch Armuts- und Reformbewegungen, durch Befreiungstheologen und feministische Theologinnen, die alle aus der Verheissung der grossen Transformation den Antrieb und den Mut bezogen, sich für eine radikale Veränderung bestehender Unrechtsverhältnisse in Kirche und Gesellschaft einzusetzen. Und heute? Die grossen Utopien haben sich verabschiedet, die Hoffnung auf eine sozial und wirtschaftlich gerechtere Welt hat sich an vielen Orten zerschlagen, Kriege und religiöse Konflikte nehmen weltweit zu, die grossen Wünsche, die auf das Überschreiten und das Verändern des Bestehenden zielen, werden tagtäglich auf Konsumwünsche zurechtgestutzt und die Zukunft unserer Erde sieht düster aus. Eine «Zeit der messianischen Dürre» (Elsa Tamez) breitet sich aus. Die Transformation der sozialen, politischen und ökonomischen Unrechtsverhältnisse, die Befreiung der Armen von Armut und Ausbeutung, für die die Befreiungstheologen sich engagier(t)en, ist nicht eingetreten. Auch die Vision des Feminismus, der über Gleichstellung hinaus eine neue Welt jenseits patriarchaler Normen und Vorgaben denken und gestalten wollte, der eine radikal neue Geschlechter- und Werteordnung, neue Arbeits- und Lebensformen anstrebte, hat sich noch nirgends nachhaltig durchgesetzt. Und die neuen, nicht-patriarchalen Gottesvorstellungen und frauenbefreienden und geschlechtergerechten Theologien, an der feministische Theologinnen weltweit seit Jahrzehnten arbeiten, haben noch kaum zur Veränderung der patriarchalen Mainstreamtheologien an Universitäten und kirchlichen Institutionen geführt.
Was können wir in dieser «Zeit der messianischen Dürre» tun? Braucht es einen Abschied von der Sehnsucht nach der grossen Transformation? Braucht es eine Theologie, die Abschied nimmt von den grossen Visionen, den metaphysischen Garantien und den grossen Worten und statt dessen das Alltägliche, die konkreten menschlichen Bedürfnisse und Sehnsüchte, das Fragile, das Ungesicherte menschlicher Existenz ins Zentrum stellt? Gilt es zu werben mit winzigen Wörtern?
Werben
Die grossen Worte sind verlorengegangen
Es heisst mit winzigen Wörtern werben um Frieden und Liebe (…)
Rose Ausländer [1]
Viele feministische Theologinnen und insbesondere auch Befreiungstheologinnen aus der sog. Dritten Welt plädieren für eine Theologie, die sich nicht mit den grossen theologischen Worten wie «Erlösung» oder «Auferstehung» zufrieden gibt, die für viele Menschen leer geworden sind, sondern im Hier und Jetzt nach verwandelnden und befreienden Erfahrungen sucht: nach den flüchtigen Momenten von Frieden und Liebe, von Schönheit und Glück, die unsere Sinne zum Tanzen und unsere Augen zum Leuchten bringen. Ivone Gebara, brasilianische Ordensfrau und sozial engagierte Theologin, ist eine der profiliertesten Vertreterinnen einer solchen feministisch-befreiungstheologischen Neuformulierung der Theologie, die in der Lage ist, das Herz zu wärmen und die Sinne zu schärfen für die zerbrechliche Schönheit und die Poesie des Lebens – sie im Alltag aufspürt und mit winzigen Wörtern umwirbt. Ihre Theologie weckt den Sinn für das Heilige im komplexen Gewebe des alltäglichen Lebens und lehrt das tiefe Staunen über das unfassbare göttliche Geheimnis, an dem wir teilhaben, in dem wir leben und sind, das uns umhüllt und übersteigt.
Sehr schön wird dieses «Geheimnis» für mich in einem Gedicht von Rose Ausländer umschrieben:
Mysterium
Die Seele der Dinge lässt mich ahnen die Eigenheiten unendlicher Welten
Beklommen such ich das Antlitz eines jeden Dinges und finde in jedem ein Mysterium
Geheimnisse reden zu mir eine lebendige Sprache
Ich höre das Herz des Himmels pochen in meinem Herzen.
Rose Ausländer [2]
Ivone Gebara lenkt unseren Blick aber nicht nur auf das göttliche Geheimnis, das sich in allen Dingen als Teil eines einzigen relationalen Lebensnetzes offenbart, sondern ebenso auf die Widersprüche und die Fragilität des Lebens: auf die Erfahrungen von Glück und Verlust, von Schönheit und Schmerz, von Liebe und Gewalt im täglichen Leben; sie lenkt unseren Blick auf die Körper der armen Frauen, die von Ausbeutung, Hunger, Gewalt oder Krankheit gezeichnet sind. Ihre theologische Arbeit ist darauf ausgerichtet, inmitten von Leiden und Verzweiflung jene ganz konkreten transformierenden Visionen aufzuspüren, die das Leben wirklich berühren und die Hoffnung nähren – jene flüchtigen Momente der «Auferstehung» und des «Heils», die sich im Leben einer jeden und eines jeden ereignen. Denn «das Heil, das Glück erleben wir in unserer Haut von heute. Das Heil ist mehr als ein Versprechen, auch wenn das Versprechen uns bereits einen Blick auf das Heil eröffnet. Das Heil ist eine Begegnung, ein Geschehen, ein Gefühl, ein Kuss, ein Stück Brot, ein glücklicher Greis … Es ist all das, was die Liebe, unseren Körper, unser Leben nährt.»[3] Das Heil, von dem Ivone Gebara spricht, ist kein Zustand, den man ein für alle Mal erreicht. In der Praxis müssen wir die Suche nach dem Heil immer wieder neu beginnen. Das Heil «ist gegenwärtig wie ein Glas Wasser, das für einen Moment den Durst stillt, der aber – vielleicht stärker noch als zuvor – wiederkommt»[4].
Auf den ersten Blick mag eine solche Theologie ganz und gar unpolitisch erscheinen. Doch dem ist nicht so. Denn die «Rede vom Heil im Kleinen schliesst den Kampf für bessere Lebensbedingungen für alle nicht aus», wie die Befreiungstheologin Ivone Gebara betont.[5] Es braucht die Dialektik zwischen dem Heil im Kleinen und dem Heil im Grossen, zwischen dem «Schon Jetzt» und dem «Noch-Nicht», um ein gerechteres gesellschaftliches System voranzubringen. Es braucht die winzigen Wörter bzw. die kleinen, konkreten Erfahrungen von «Gerechtigkeit», von «Frieden», von «Schalom», damit uns die grossen Worte als transzendenter Hoffnungs- und Glaubenshorizont nicht verlorengehen.
Ivone Gebara ist zu einer meiner wichtigsten theologischen Lehrerinnen geworden. Von ihr habe ich gelernt, den Blick auf die konkreten Zeichen der transformierenden göttlichen Geistkraft mitten in unserem Leben zu richten und ihnen Gewicht zu geben: auf die kostbaren Momente von erfülltem Leben, auf jene Augenblicke, wo inmitten der Ambivalenz und Unerlöstheit unseres Lebens etwas von verwandelnder Liebe und Gerechtigkeit erfahren und gelebt wird. Momente, die wir oft übersehen und immer wieder neu entdecken müssen – inmitten all der schlechten Nachrichten, die uns täglich überfluten, inmitten von Leiden, Hoffnungslosigkeit und alltäglicher Gewalt. Diese Erfahrungen von Lieben und Geliebtwerden, von Zärtlichkeit und Glück, von Gerechtigkeit und solidarischer Gemeinschaft verbleiben in der (eschatologischen) Spannung des «schon» und «noch nicht». Sie garantieren kein Ein-für-allemal und keine heile Welt. Sie sind eher so etwas wie «göttliche Funken» von jener umfassenden Transformation, nach der wir uns sehnen; «Funken», die unsere Hoffnung nähren und unsere Leidenschaft entfachen, uns immer wieder neu einzusetzen für eine Welt, in der ein gutes und gerechtes Leben, ein «Leben in Fülle», wie es in der Sprache der Bibel heisst, für alle Menschen und alle Geschöpfe möglich wird.
Doris Strahm Basel, 2. Juni 2015
Der Text ist erschienen in: Questioning development / Repenser le développement / Repensar el desarollo / Entwicklung neu denken, Schriftensammlung für Beat Dietschy, hg. von dialogue4change, Bern 2015, S. 134-139.
Fussnoten: 1 Rose Ausländer, Im Atemhaus wohnen. Gedichte, Frankfurt a.M. 1981, 120. 2 Rose Ausländer, Wieder ein Tag aus Glut und Wind. Gedichte 1980-1982, Frankfurt a.M. 1986, 107. 3 Ivone Gebara, Die dunkle Seite Gottes. Wie Frauen das Böse erfahren, Freiburg i. Br. 2000, 162. 4 Gebara, ebd. 160. 5 Gebara, ebd. 162.
© Doris Strahm 2015 |
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