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Gott-in-Beziehung

 

Es gibt Sätze, die sind wie eine Offenbarung und prägen das ganze Leben. Für mich sind es diese Sätze gewesen, die ich im Alter von achtzehn Jahren gelesen habe: "Ich werde am Du. Ich werdend spreche ich Du. Alles wirkliche Leben ist Begegnung." Sie stammen aus dem schmalen Büchlein "Ich und Du" des jüdischen Religionsphilosophen Martin Buber. Seine dialogische Philosophie erzeugte in meinem Inneren Resonanz, drückte eine Erfahrung aus, die ich vorher nicht in Worte fassen konnte: Mein Ich ist kein isoliertes Subjekt, sondern erwächst aus der Begegnung und dem Gespräch mit einem Du, ist Ergebnis des In-Beziehung-sein mit Anderen und Anderem. Kein Buch ist mir so stark in Erinnerung geblieben, hat mein Menschenbild und meine Weltsicht so tief geprägt wie Martin Bubers "Ich und Du". Doch nicht nur das. Es hat mir als junge Erwachsene auch ein ganz neues Gottesverständnis offenbart, das Schluss machte mit dem von der Kirche und der religiösen Erziehung vermittelten Bild eines allmächtigen und herrscherlichen Vatergottes, und hat mich von autoritären Gottesvorstellungen befreit. Gott wird von Martin Buber umschrieben als jenes "ewige Du", das nicht dingfest gemacht und vollständig erkannt werden kann, aber in jeder echten Begegnung sich für Augenblicke enthüllt. Jedes einzelne Du ist ein Durchblick zum ewigen Du, die "verlängerten Linien der Beziehungen schneiden sich im ewigen Du“, wie Buber schreibt.

Martin Bubers Gottesverständnis zieht sich wie eine Grundmelodie durch mein Leben und bis in meine heutige Arbeit als feministische Theologin hinein. Und zwar ganz direkt: Denn mein Reden von Gott ist ganz stark von der "Theologie der Beziehung" der Theologin Carter Heyward geprägt, die sich für ihren theologischen Ansatz ausdrücklich auf Martin Bubers "Im Anfang ist die Beziehung" beruft. Carter Heyward drückt es so aus: "Ich glaube, dass Gott unsere Macht in Beziehung zueinander, zur ganzen Menschheit und der Schöpfung selbst ist. Gott ist schöpferische Macht, die Macht, die in der Geschichte Gerechtigkeit ─ die gerechte Beziehung ─ herstellt. Der menschliche Akt, zu lieben, Freundschaft zu schliessen und Gerechtigkeit herzustellen, ist unser Akt, Gott in der Welt leibhaftig zu machen." Was mich daran fasziniert: Mit diesem Gottesbild ist ein Menschenbild verbunden, das die Menschen nicht an ihrem sündigen Ende festhält, sondern ihnen auch die Fähigkeit zum Guten, zu Liebe und Gerechtigkeit zutraut und zuspricht. Als Bild Gottes geschaffen (Genesis 1,27), sind Frau und Mann Repräsentantinnen Gottes in der Welt und dazu fähig, Gott nachzuahmen, die göttliche Beziehungskraft in der Welt erfahrbar zu machen.

 

Doris Strahm

 

 

© Doris Strahm 2018