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Über religiöse Vielfalt und gegenseitigen Respekt

 

Erstaunliches ist zu beobachten: In Politik und Gesellschaft ist Religion wieder ein zentrales Thema geworden, und "christliche Werte" und das "christliche Abendland" werden hochgehalten. Vor allem rechtskonservative Kreise postulieren in einer Art "Kulturkampf" gegenüber zugewanderten Religionen, besonders gegenüber dem Islam, die Schweiz als "christliches Land" und rufen zur Verteidigung der christlich-abendländischen Kultur auf. Als Reaktion auf die religiöse Vielfalt wird die "eigene" christliche Religion zum Identitätsmerkmal der Einheimischen hochstilisiert ─ und dies in einer Gesellschaft, die sich als säkular versteht. Die Religion, die religiöse Zugehörigkeit, wird neu zum zentralen Unterscheidungsmerkmal zwischen "Eigenem" und "Fremdem" gemacht. So werden zugewanderte Menschen nicht mehr über ihre nationale und kulturelle, sondern über ihre religiöse Herkunft definiert. Besonders deutlich wird dies aktuell in Bezug auf Musliminnen und Muslime, die auf ihr Muslim-Sein reduziert und nicht mehr als Individuen mit ganz unterschiedlichen Biografien wahrgenommen werden. Mit anderen Worten: Nicht mehr wie früher die "fremde" Kultur, sondern die "fremde" Religion dient neu der Abwehr und Ausgrenzung von "Fremden".

Angesichts dieser Situation wird die Frage immer drängender, wie wir die politisch aufgeheizte Polarisierung von "wir" und die "Anderen" aufbrechen und das Zusammenleben von Menschen verschiedener Religionszugehörigkeit positiv gestalten können. Ein erster Schritt ist, so banal es tönen mag, die "Anderen" kennenzulernen. Denn die Ängste vieler Menschen gerade gegenüber dem Islam sind zum grössten Teil von Vorurteilen und Klischees und nicht von realen Erfahrungen gespeist. Die Sicht auf den Islam wird nämlich hauptsächlich aus den Medien bezogen. Diese wiederum berichten fast nur über "Bad News", über Konflikte und Probleme ─ und nicht über das reiche kulturelle Erbe, das der Islam dem Westen hinterlassen hat, über die Schönheit des Koran und über das normale Alltagsleben von Musliminnen und Muslimen bei uns. Stattdessen wird der Islam auf Einzelphänomene wie fanatische Terroristen oder die Zwangsverschleierung von Frauen in einigen muslimischen Ländern reduziert, die den Islam insgesamt als gewalttätige und frauenfeindliche Religion erscheinen lassen. Auffällig in den Islam-Debatten ist auch, dass meist Frauenrechte und die Gleichstellung der Geschlechter als Massstab für die Verträglichkeit mit unserer demokratisch-säkularen Gesellschaft ins Feld geführt werden, insbesondere von rechtsbürgerlichen Kreisen, denen Frauenrechte bislang kein Anliegen waren. Dies zeigt aktuell die Initiative für ein nationales Burkaverbot, die ein "Problem" lösen will, das bei uns kaum existiert. Das heisst: Die Frauenfrage wird instrumentalisiert, um Emotionen gegen die "fremde" Religion Islam zu schüren.

Gegen diese negative und einseitige Sicht hilft nur eins: mehr Wissen über den Islam und konkrete Begegnungen mit Musliminnen und Muslimen im Alltag, um unsere Urteile überhaupt als Vor-Urteile zu erkennen und sie abzubauen. Der persönliche Kontakt zeigt, dass dies meist als Bereicherung erfahren wird. Die Sicht von Menschen anderer religiöser Zugehörigkeit zu kennen – ihre Vorstellungen vom Leben und ihre Träumen, Einblicke zu erhalten in ihre religiösen Traditionen, in die Vielfalt ihrer Lebensweisen und Alltagsgestaltung, kurzum: mit ihren Augen sehen zu lernen, hilft Misstrauen und Ängste abzubauen. Die Begegnungen machen aber auch bewusst, dass Menschen anderer Religionszugehörigkeit – wie wir auch – nicht allein durch ihre Religion geprägt sind und ihre Biografien so vielfältig und unterschiedlich sind wie unsere. Es gilt, auf eine Kultur des Dialogs, der Empathie und gegenseitigen Anerkennung hinzuwirken, Unterschiede auszuhalten und zu respektieren, und religiöse und kulturelle Vielfalt nicht als Bedrohung des Eigenen zu sehen, sondern als Bereicherung und Erweiterung des eigenen Horizonts wertzuschätzen.

 

Doris Strahm

 

 

© Doris Strahm 2018