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Von Körperscham und Körperliebe

 

"Haben Sie schon den Körper, den Sie für Ihre Pläne brauchen?" So wirbt ein bekanntes Fitness-Studio auf Plakatwänden für kostenlose Probetrainings. Und Sie: Haben Sie schon den Körper, der perfekt Ihren Plänen angepasst ist? Der durchtrainiert, fit und gesund ist für den knallharten Wettbewerb um Leistung, Erfolg und gesellschaftliches Ansehen? Und falls Sie eine Frau sind: Haben Sie den Körper, der nicht nur Erfolg signalisiert, sondern zusätzlich dem herrschenden Schönheitsideal entspricht? Denn erfolgreiche, in der Öffentlichkeit stehende Frauen werden immer auch über ihr Äusseres beurteilt und attraktives Aussehen und Schönheit sind zu einem wichtigen Wettbewerbsfaktor geworden. Doch nicht nur erfolgreiche Frauen sind diesem Schönheitsdiktat unterworfen. Alle Frauen werden täglich von den Medien und der Schönheits- und Modeindustrie mit Bildern der perfekt schönen Frau bombardiert, sodass sehr viele Frauen permanent unter einem Gefühl von Unvollkommenheit, Selbstzweifeln, Körperschuldbewusstsein oder gar Scham leiden.

 

Die "Scham, im Leibe zu sein", die unsere christliche Kultur über Jahrhunderte prägte und die das Christentum von der neuplatonischen Philosophie übernommen hatte, scheint heute in veränderter Form also immer noch höchst verbreitet zu sein. Und nicht zufällig sind es die Frauen, die diese Scham, das "Bodyshaming", wie es im heutigen Jargon heisst, kennen. Denn die Frau wurde in der christlichen Theologie mit dem Körper gleichgesetzt und wie dieser abgewertet. Körperverachtung ging in unserer christlichen Kultur mit Frauenverachtung einher. Der Körper der Frau galt als Inbegriff der sündigen Sexualität, der körperlichen Begierden und der materiellen Hinfälligkeit. Das Christentum hat keine Geschichte der Körperbejahung oder gar der Körperliebe begründet. Was erstaunlich ist, da der christliche Glaube ja bekennt: Das Wort Gottes ist Fleisch geworden, ist eingegangen in die irdisch-körperliche Existenz. Das christliche Credo hätte also die Möglichkeit geboten, den Körper anders zu bewerten: nicht mehr nur als Sinnbild materieller Bedürftigkeit, Verletzlichkeit und Sterblichkeit, sondern als Sitz des göttlichen Logos, als Ort, wo wir Gott begegnen. Oder wie Paulus es formuliert: "Wisst ihr nicht, dass euer Körper ein Tempel des Heiligen Geistes ist, der in euch wohnt?" (1 Kor 6,19) Was hätte es für Folgen, wenn wir uns dies zu Herzen nähmen und unseren nicht perfekten und verletzlichen Körper als Tempel der göttlichen Geistkraft lieben lernten?

 

Doris Strahm

 

 

© Doris Strahm 2018