Text in PDF-Format öffnen

Der Körper und der göttliche Geist

 

"Wisst ihr nicht, dass ihr Gottes Tempel seid und der Geist Gottes in euch wohnt?", fragt Paulus die Gemeinde in Korinth (1. Kor 3,16). Und Sie: Haben Sie es gewusst? Es sich zu Herzen genommen? Sehen Sie sich als Tempel der göttlichen Geistkraft, wenn Sie morgens in den Spiegel schauen? Ich vermute: eher nicht. Denn obwohl diese Aussage aus der Bibel stammt, ist sie in unserer christlichen Kultur nicht geschichtsmächtig geworden und hat das Selbstbild der Menschen, besonders dasjenige von Frauen, kaum geprägt.

Das Christentum hat keine Geschichte der Körperbejahung oder gar der Körperliebe begründet. Was eigentlich erstaunlich ist, wenn wir bedenken, dass der christliche Glaube ja bekennt: das Wort Gottes ist Fleisch geworden, ist eingegangen in die irdische und körperliche Existenz. Ein für die damalige griechisch-römische Welt, in der der Körper als Gefängnis der göttlichen Seele und als Sitz der niedrigen körperlichen Begierden galt, geradezu provozierender und auch anstössiger Gedanke! Der zentrale christliche Glaubenssatz hätte also die Möglichkeit geboten, den Körper anders zu bewerten: nicht mehr nur als Sinnbild materieller Bedürftigkeit, Verletzlichkeit und Sterblichkeit, die den Geist behindern in seiner Suche nach Erkenntnis und dem wahren göttlichen Sein, sondern als Tempel des göttlichen Geistes, als Ort, wo wir Gott begegnen.

Dieser Ansatz, den Körper als gute Schöpfung Gottes zu sehen, wurde von der christlichen Theologie nicht durchgehalten. Das für die Bibel prägende hebräische Denken, welches den Körper als psychosomatische Einheit verstand, wurde bald schon vom griechischen Denken, vom neuplatonischen und aristotelischen Dualismus von Leib und Seele, Körper und Geist abgelöst. Die neuplatonische "Scham im Leibe zu sein" hat die christliche Glaubenslehre sehr viel stärker geprägt als die Vorstellung vom "Körper als Tempel des göttlichen Geistes". Für Frauen hatte dies schwerwiegende Folgen: Die Frau wurde mit dem Körper gleichgesetzt und wie dieser abgewertet; Körperverachtung ging in unserer Kultur mit Frauenverachtung einher. Der weibliche Körper galt als Inbegriff der sündigen Sexualität, der körperlichen Begierden und materiellen Hinfälligkeit und musste vom Mann, der für sich den Geist beanspruchte, kontrolliert und beherrscht werden.

Tempi passati! Oder etwa nicht? Frauen haben sich das Selbstbestimmungsrecht über ihren eigenen Körper erkämpft und längst unter Beweis gestellt, dass in ihrem Körper auch ein eigenständiger, kreativer und freier Geist lebt. Doch noch immer werden erfolgreiche, in der Öffentlichkeit stehende Frauen über ihr Äusseres beurteilt, sind attraktives Aussehen und Schönheit zu einem knallharten Wettbewerbsfaktor geworden, sind als weiblich eingestufte Tätigkeiten weniger wert als männliche, sind Frauenkörper sexueller Belästigung, männlicher Kontrolle und Gewalt ausgesetzt.

Doch der ärgste Feind des Frauenkörpers sitzt meist tief in uns selbst; ständige Selbstbeobachtung und Unzufriedenheit mit dem eigenen Äusseren machen viele Frauen fremd in ihrem Körper. Willig führen wir deshalb aus, was man in der heutigen Zeit von uns verlangt: die Optimierung unseres Körpers entsprechend dem herrschenden, für die Mehrheit der Frauen nie zu erreichenden Körperideal. In unserer Gesellschaft gilt es als Beweis von Selbstsorge, wenn eine Frau alles tut, um auszusehen wie jemand anders. Da wird gecremt, gepinselt, gestrafft, geliftet, abgespeckt, mit Silikon aufgepumpt oder Fett abgesaugt; da wird der ganze Body neu modelliert.

Der Anblick des eigenen Körpers, so wie er ist, wird für eine Frau selten zum Hebel der Selbstliebe. Er weckt im Gegenteil oft Gefühle von Selbstzweifel, Scham und Körperschuldbewusstsein. Damit wird tagtäglich nicht nur unendlich viel Lebenskraft und geistiges Potenzial von Frauen abgeschnürt, sondern von der Kosmetik- und Schönheitsindustrie auch unendlich viel Geld gemacht. Die junge britische Feministin Laurie Penny meinte deshalb kürzlich: "Wenn alle Frauen dieser Erde morgen aufwachten und sich in ihren Körpern wohl und kraftvoll fühlten, würde die Weltwirtschaft über Nacht zusammenbrechen." Nicht auszudenken, was mit der Welt geschähe, wenn Frauen sich eines Tages gar als Tempel der göttlichen Geistkraft lieben lernten!

 

Doris Strahm

 

 

© Doris Strahm 2018