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Nachgedacht – Über Innerchristliche Vielfalt als Herausforderung

 

Was kommt Ihnen spontan in den Sinn, wenn Sie an "Migration und Religion" denken? Ich nehme an, das Gleiche wie den meisten Menschen in unserem Land: natürlich der Islam. Was nicht erstaunt, denn wenn gesellschaftlich und medial über dieses Thema nachgedacht wird, kommen fast ausschliesslich Muslime und Musliminnen in den Blick. Dabei sieht die Realität ganz anders aus: über 50 Prozent der in die Schweiz eingewanderten Menschen gehören einer christlichen Gemeinschaft an; der Anteil von muslimischen Zugewanderten hingegen beträgt lediglich rund 13 Prozent. Das Christentum ist also mit Abstand die grösste Migrationsreligion. In den letzten 20 bis 30 Jahren sind in der Schweiz viele neue christliche Migrationsgemeinden entstanden und in jüngerer Zeit ist ein regelrechter "Gründungsboom" zu verzeichnen. Die zahlreichen neuen afrikanischen, asiatischen, lateinamerikanischen oder osteuropäischen Gemeinden bieten ihren Mitgliedern kulturelle und religiöse Beheimatung sowie alltagspraktische Unterstützung an und helfen bei der Integration. Doch von der Gesellschaft und den Kirchen werden sie in ihrer Bedeutung als gesellschaftliche und kirchliche Akteurinnen noch kaum wahrgenommen, obwohl die wachsende Zahl von Migrationsgemeinden auch Folgen hat für die Religionslandschaft Schweiz. Die religiöse Pluralisierung unserer Gesellschaft findet nämlich nicht nur infolge der Zuwanderung "fremder" Religionen statt, sondern ist massgeblich durch die christliche Zuwanderung mitgeprägt. Mit anderen Worten: Die religiös-kulturelle Pluralisierung der Schweiz ist nicht nur ein interreligiöses, sondern ebenso ein innerchristliches Phänomen.

Eine Studie des Schweizerischen Pastoralsoziologischen Instituts "Kirchen in Bewegung. Christliche Migrationsgemeinden in der Schweiz" (2016) hat erstmals Daten erhoben zu Strukturen, Mitgliedern, Konfessionszugehörigkeit, religiösem Selbstverständnis dieser Gemeinden und zeigt auf, wie diese zu einer Diversifizierung der hiesigen christlichen Religionslandschaft beitragen. Wir haben es dabei nicht nur mit vielfältigen und verschiedenen kulturellen Hintergründen zu tun, die hier aufeinandertreffen, sondern ebenso mit unterschiedlichen christlichen Glaubensströmungen. So sind viele der neuen Migrationsgemeinden evangelikal, pfingstkirchlich oder charismatisch geprägt. Gegenläufig zu Säkularisierung und wachsender Kirchendistanz Einheimischer leben die meisten zugewanderten Christen und Christinnen ihren Glauben aktiv und verstehen ihre Gemeinden als Vorbild für die lauen, "säkularisierten" Kirchen hierzulande. Ein Grossteil der Migrationsgemeinden vertritt die Überzeugung, dass der christliche Glaube in der Schweiz in der Krise stecke und die Schweiz neu evangelisiert, d.h. von ihnen, den ehemals von uns Missionierten, rück-missioniert werden müsse.

Dies zeigt: Migrationsgemeinden machen das einheimische Christentum vielfältiger und lebendiger; sie stellen aber auch eine Herausforderung für das eigene Selbstverständnis dar. Aus meiner langjährigen interreligiösen Praxis weiss ich, dass der Umgang mit Differenz innerhalb der eigenen Religion sehr viel schwieriger sein kann als der Dialog mit fremden Religionen. Während ich fremden Religionen mit einer gewissen Distanz begegne und die mir fremden Glaubensformen respektieren kann, fällt es mir emotional ungleich schwerer, in der eigenen Religion Glaubensvorstellungen zu akzeptieren, die mich befremden oder die ich mit meinem eigenen Verständnis des Christseins kaum vereinbaren kann. Die grosse Herausforderung für die etablierten christlichen Kirchen ist nicht der Islam, sondern vielmehr die Frage, wie sie künftig mit den christlichen Migrationsgemeinden und der damit verbundenen kulturellen und theologischen Diversität umgehen ─ ob und wie der innerchristliche Dialog gelingen kann.

 

Doris Strahm

 

 

© Doris Strahm 2018