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Keine Angst vor Gender!

 

Warum Gender kein Reizwort sein sollte und auch für kirchliche Kreise von Bedeutung ist

Der Begriff "Gender" ist für viele Menschen ein Reizwort und wird derzeit von evangelikalen und christlich-fundamentalistischen Kreisen heftig kritisiert und bekämpft. Auch Bischof Vitus Huonder hat sich kürzlich wieder dazu geäussert und wünscht laut Medienmitteilung von den Seelsorgeräten Vorschläge zum Umgang mit dieser "verderblichen Ideologie".[1] Er beruft sich dabei auf Papst Franziskus, der im Oktober 2016 auf einer Reise in den Kaukasus vor einem "weltweiten Krieg, um die Ehe zu zerstören", warnte. Dieser Krieg werde nicht mit Waffen geführt, sondern durch "ideologische Kolonisierung". Man müsse die Ehe verteidigen gegen den grossen Feind der Gendertheorie. Auch in seinem Lehrschreiben "Amoris Laetitia" vom Frühling 2016 kritisierte Franziskus Gender als eine Ideologie, die den Unterschied und die natürliche Verwiesenheit von Mann und Frau leugne und die anthropologische Grundlage der Familie aushöhle. Evangelikale Fundamentalist_innen und der Vatikan sind sich in dieser Sache einig: Gender sei eine Sünde gegen den Schöpfergott, denn Gender stelle Gottes Schöpfungsordnung in Frage und propagiere die völlige Abschaffung der Unterschiede zwischen Mann und Frau, sodass der Mensch letztlich selbst bestimmen könne, welches Geschlecht er annehmen will.

Wie ist dieser Furor gegen den Begriff "Gender" zu erklären? Weshalb wird behauptet, Gender bedeute, dass jeder Mensch sein Geschlecht frei wählen könne, was keine einzige Genderforscherin sagt? Weshalb setzen sich Genderkritiker_innen nicht ernsthaft mit der Genderforschung auseinander, sondern verdrehen bewusst, was Gender wirklich meint? Denn das englische Wort "Gender", das aus den Dokumenten der Weltfrauenkonferenzen der Vereinten Nationen stammt, meint gerade nicht die Biologie, also die biologischen Unterschiede. Gender meint vielmehr das soziale Geschlecht, die Geschlechterrollen, das heisst: die unterschiedlichen Rollen von Mann und Frau, die durch Erziehung, Kultur und gesellschaftliche Konventionen geprägt sind und die wir vom Tag unserer Geburt an lernen, indem bestimmte Erwartungen an uns gestellt werden, was unser Verhalten und Aussehen betrifft – je nachdem, ob wir ein Mädchen oder ein Bub sind.

Ich möchte in meinem Vortrag in einem ersten Schritt Missverständnisse aus dem Weg räumen und erläutern, was Gender und Gendermainstreaming meinen und was die Anliegen von Genderforschung ist. In einem zweiten Schritt werde ich dem Vorwurf konservativ-christlicher Kreise nachgehen, Gender sei gegen die Schöpfungsordnung und widerspreche dem christlichen Menschenbild und dazu die Schöpfungsgeschichten der Bibel genauer anschauen. Zum Schluss werde ich dann nochmals zeigen, weshalb eine gendergerechte Gesellschaft und Kirche gerade für Christ_innen von Bedeutung wären und sowohl der Schöpfungsgeschichte wie auch dem christlichen Menschenbild entsprechen.

 

Unterscheidung von "Sex" und "Gender"

Gender ist der englische Begriff für das soziale Geschlecht, die Geschlechterrolle, im Unterschied zum biologischen Geschlecht, das von Chromosomen, Hormonen und der Anatomie bestimmt ist und im Englischen "sex" genannt wird. Gender, die Geschlechterrolle, ist nicht einfach angeboren, sondern wird erlernt: durch Erziehung, Sozialisation, Rollenzuschreibungen und kulturelle Normen. Gender meint also nicht die Leugnung oder gar Abschaffung des biologischen Geschlechts, wie von den Kritiker_innen unterstellt wird. Nein: Gender meint, dass unser Verhalten als Frau und als Mann nicht vollständig von der Biologie vorgegeben, sondern sehr stark von den uns zugeschriebenen Geschlechterrollen und den gesellschaftlichen Erwartungen betreffend Verhalten und Aussehen geprägt wird und deshalb auch veränderbar ist. Biologisches und soziales Geschlecht lassen sich aber auch nicht vollständig trennen, sondern stehen in einem Wechselverhältnis zueinander.

Gender, die sozialen Geschlechterrollen, werden durch unser tägliches Verhalten permanent hergestellt: Man nennt dies doing gender. Aufgrund des biologischen Geschlechts werden nämlich täglich bestimmte Erwartungen in Bezug auf typisch "weibliches" und typisch "männliches" Verhalten oder Aussehen an uns gestellt. Kaum geboren, werden Babys schon einer weiblichen oder einer männlichen Welt zugeteilt: Rosa Strampler für Mädchen, blaue für Buben. Und diese Zuteilungen prägen das gesamte weitere Leben: Frauen heisst es, sind emotional und einfühlsam, fürsorglich und beziehungsorientiert; sie sind gut in Sprachen, aber nicht in Mathematik, sie lesen gerne, lachen leise, tragen meist lange Haare und Röcke. Männer dagegen haben kurze Haare, sie tragen Hosen und keine Röcke, sind breitschultrig, stark und gross, rational und wettbewerbsorientiert, sie sind gut in Mathematik und technisch begabt, sie lesen wenig und interessieren sich für Fussball und Sport. Im Laufe des Lebens wird der Mensch so in einem komplexen Prozess von Erziehung, gesellschaftlichen Normen und Erwartungen, Stereotypen, Bildern und kulturellen Traditionen zum Mädchen bzw. zur Frau oder zum Buben bzw. zum Mann "gemacht".

Die Konsumindustrie mischt bei dieser klaren Mann-Frau-Zweiteilung der Welt kräftig mit: Prinzessinnenkleidchen für Mädchen, Superman-Leibchen für Buben, Legos extra für Mädchen und Legos für Buben, blumige Deos für Frauen und herbe Deos für Männer, Cola light für die Frau, Cola normal für den Mann. Cooler Macker, sexy Girl. So wird täglich zelebriert, was als weiblich oder als männlich zu gelten hat. Dies hat Folgen: Für das Selbstbild von Frauen und Männern, für die Berufswahl und die Lebensgestaltung, wie ich im Folgenden zeigen werde.

 

"Gegenderte" Berufs- und Arbeitswelt

Untersuchungen zeigen: Junge Frauen und Männer orientieren sich bei ihrer Berufs-, Schul- und Fächerwahl nach wie vor an geschlechtsabhängigen Vorstellungen. In den letzten Jahrzehnten haben Frauen zwar punkto Bildung aufgeholt. An Gymnasien sind sie in der Mehrzahl und auch an den Hochschulen studieren mehr Frauen als Männer. Gleichzeitig hat sich in der Schweiz aber an der geschlechtsspezifischen Ausbildungs- und Fächerwahl wenig verändert. Die Berufswahl- und Ausbildungsentscheide junger Frauen und junger Männer sind durch Geschlechterstereotypen beeinflusst: Junge Männer wählen oft und häufiger als junge Frauen technische Berufe und Studiengänge wie z.B. IT, Technik, Ingenieurwesen, Architektur und Baugewerbe. Junge Frauen wählen hingegen sehr oft und viel häufiger als junge Männer Berufsausbildungen und Studiengänge des Gesundheitswesens, der Geistes- und Sozialwissenschaften, der sozialen Arbeit sowie im Schulwesen. Die meisten Mädchen haben bei der Berufswahl nach wie vor die Vereinbarkeit von Familie und Beruf im Hinterkopf. So wählen sie auch deshalb weniger oft sog. männertypische Berufe, wie zum Beispiel Elektrikerin, weil in diesen Teilzeitarbeit selten möglich ist. Männer dagegen sehen sich nach wie vor eher in der Ernährerrolle. Das erschwert ihr Interesse an sog. frauentypischen Berufen, weil diese meist schlechter bezahlt sind. So sind z.B. Floristinnen, weil dies als Frauenberuf gilt, schlechter bezahlt als so genannte Männerberufe wie z.B. Informatiker. Untersuchungen zeigen, dass der zunehmende Anteil von Frauen in einem Berufsfeld eine Abwertung zur Folge hat. Steigt der Frauenanteil um 10 Prozent, sinkt das Lohnniveau um 4 Prozent. In weiblichen Berufsfeldern und sog. Care-Berufen, also Berufen, die mit Sorge und Fürsorge zu tun haben, beisst sich die Katze dann in den Schwanz: Dort zu arbeiten, ist wenig attraktiv für Männer, weil das Lohnniveau tief ist. Und es bleibt tief, weil nur wenige Männer dort arbeiten.

Die geschlechtsspezifische Berufswahl von jungen Frauen und Männern trägt bis heute dazu bei, dass die Strukturen auf dem Arbeitsmarkt geschlechtlich geprägt sind, dass der Arbeitsmarkt also in frauen- und männerdominierte Berufsfelder aufgeteilt ist und die ungleiche Verteilung von bezahlter Erwerbsarbeit und unbezahlter Arbeit im privaten Bereich zementiert wird. Dies führt zu folgenschweren Ungleichheiten zwischen Männern und Frauen: zu Lohnungleichheiten, geringeren Aufstiegschancen für Frauen, niedrigerem Sozialstatus von Frauenberufen, niedrigeren Renten und grösserem Armutsrisiko von Frauen im Alter.

Dass es trotz aller Gleichstellungsbemühungen noch immer diese geschlechtsspezifische Berufswahl von Frauen und Männern gibt, hat sehr viel mit Gender, mit den sozialen Geschlechterrollen zu tun! Denn diese Frauen- und Männerrollen wirken sich immer noch in den Köpfen und Herzen der Menschen aus. Sie legen fest, welchen Platz und welche Rolle den Geschlechtern in Familie, Gesellschaft und Wirtschaft zukommen. Solche Gender-Muster zu analysieren und zu verändern und für beide Geschlechter das Recht auf freie Entfaltung ihrer individuellen Fähigkeiten zu ermöglichen, ist das Ziel von Gender-Forschung und Gender-Politik.

Gender ist also eine Analysekategorie, die hilft, Rollenzuschreibungen, aber auch geschlechtsspezifische Diskriminierungen und Interessen aufzudecken und z.B. zu fragen: Weshalb eigentlich sind sog. Frauenberufe schlechter bezahlt als sog. Männerberufe? Weshalb gibt es einen Mutterschaftsurlaub für Frauen, aber keinen Vaterschaftsurlaub für Männer bzw. keinen Elternurlaub, der auch dem Vater erlaubt, mit dem Neugeborenen und seinen Bedürfnissen vertraut zu werden? Was hat das mit unserem Verständnis von Frauen- und Männerrollen zu tun?

Ich halte fest: Genderbewusste Frauen und Männer bestreiten nicht, dass es biologische Unterschiede gibt, sondern nur, dass sich daraus fixe Geschlechterrollen ableiten lassen. Sie fordern eine geschlechtergerechte Gesellschaft, in der das biologische Geschlecht Menschen nicht in starre Rollenkorsette zwängt oder soziale Ungleichheit zur Folge hat. Genderforschung fragt deshalb kritisch: Führen die bestehenden Geschlechterrollen zu Benachteiligungen? Werden aus den biologischen Unterschieden diskriminierende, hierarchische und lebensfeindliche Rollenzuweisungen begründet? Und wie können diese überwunden werden? Und das sollte ja eigentlich auch ein zentrales Anliegen der Kirchen sein!

 

Gender-Mainstreaming

"Gender-Mainstreaming" nennt sich die politische Strategie, die zu mehr Geschlechtergerechtigkeit und Chancengerechtigkeit zwischen Frauen und Männern beitragen will. Der Ansatz stammt ursprünglich aus der internationalen Entwicklungspolitik. Man stellte in den Ländern des Südens seit den 1970er Jahren fest, dass die Ungerechtigkeiten zwischen Frauen und Männern eine zentrale Ursache für Hunger und soziale Ausgrenzung sind. Auch bei uns bedeutet Gender-Mainstreaming deshalb: bei allen gesellschaftlichen und politischen Vorhaben die unterschiedlichen Lebenssituationen und Interessen von Frauen und Männern zu berücksichtigen. Wie wirken sich bestimmte Massnahmen auf Frauen aus und wie auf Männer? Wie schaffen wir gleiche Bildungschancen für Mädchen und Jungen? Wie gewinnen wir mehr Männer für die Gesundheitsprophylaxe? Wie motivieren wir junge Frauen zu technischen Berufen? etc.

Konkret bedeutet Gender-Mainstreaming zum Beispiel:

-  in der Arbeitswelt bessere Rahmenbedingungen schaffen, damit Mütter und Väter tatsächlich Beruf und Familie vereinbaren können;

-  Massnahmen ergreifen für mehr Männer in pflegenden Berufen und mehr Frauen in Führungspositionen;

-  spezifische Förderung von Mädchen und von Buben in der Bildungs- und Jugendarbeit (siehe neu: Gender-AG der Jugendverbände);

-  in der Sprache, in der kirchlichen Verkündigung und Liturgie, darauf achten, dass Frauen und Männer gleichermassen sichtbar sind und angesprochen werden.

Gender ist also auch ein Gerechtigkeitswort: Es geht darum, Menschen in ihrer individuellen Vielfältigkeit gerecht zu werden und Gerechtigkeit für Menschen in all ihrer Vielfalt anzustreben.[2]

 

Biblische Grundlegungen

Ich habe es am Anfang meines Vortrags gesagt: Evangelikale Christen, erzkonservative Bischöfe und der Vatikan bekämpfen Gender und Gender-Mainstreaming mit dem Argument, Gender sei eine Sünde gegen den Schöpfergott, denn Gender stelle Gottes Schöpfungsordnung in Frage und propagiere die völlige Abschaffung der Unterschiede zwischen Mann und Frau, sodass der Mensch letztlich selbst bestimmen könne, welches Geschlecht er annehmen will. Dass die Abschaffung der biologischen Unterschiede zwischen Mann und Frau nicht das Ziel von Gender ist, habe ich hoffentlich deutlich machen können.

Aber verstösst Gender wirklich gegen den göttlichen Schöpfungsplan und gegen das christliche Menschenbild, wie die Gegner_innen behaupten? Werden in den biblischen Schöpfungsberichten tatsächlich "natürliche", unveränderbare Geschlechterrollen von Mann und Frau als göttliche Ordnung festgelegt?

Schauen wir uns den ersten Schöpfungsbericht in Genesis 1 über die Erschaffung der Menschen genauer an:

 

Die Erschaffung der Menschen nach Genesis 1,26f

"Da schuf Gott Adam, die Menschen, als göttliches Bild, als Bild Gottes wurden sie geschaffen, männlich und weiblich hat Gott sie geschaffen" (Gen 1,27).

In Gen 1,27 geht es um die Erschaffung der Menschheit, die geschaffen wird, männlich und weiblich, als Vielfalt von Menschen. Das Wort Adam kann "Mensch" oder "Menschheit" bedeuten. Hier bezeichnet es einen Plural, hat also die Bedeutung "Menschheit". Eine Vielfalt wird geschaffen. Moni Egger, eine Schweizer Bibelwissenschaftlerin schreibt: "Es geht hier nicht darum, dass Gott einen Urmann und eine Urfrau erschaffen hätte, sondern dass die Menschheit als Ganzes geschaffen wird. In ihr gibt es eine einzige Differenzierung, nämlich Weiblichkeit und Männlichkeit. Bemerkenswert dabei: Das hebräische Wort für männlich (sachar) hat sprachlich nichts zu tun mit dem Wort für Mann (isch), genauso unterscheidet sich weiblich (neqewa) von Frau (ischa). Männlichkeit und Weiblichkeit wird in diesem Text also nicht bestimmten Menschen zugesprochen, sondern sie bilden zwei Pole der Menschheit. Zwei Pole, die durchaus auch Vielfalt zulassen oder zumindest nicht auf einzelne Individuen festgelegt sind."[3]

Mit anderen Worten: Die Geschlechterdifferenz wird gesetzt, aber nicht definiert. Es werden keine (biologischen) Geschlechtsmerkmale benannt, keine schöpfungsmässigen männlichen oder weiblichen Geschlechterrollen festgelegt, keine hierarchischen Unterschiede zwischen den Geschlechtern ausgesagt. Es wird nur festgehalten, dass Geschlechtlichkeit zum Menschsein und zur guten Schöpfung Gottes gehört – eine klare Absage an die spätere, von philosophischen Strömungen beeinflusste christliche Leibfeindlichkeit. Doch Geschlechtlichkeit ist in Gen 1,27 nicht näher bestimmt. Oder wie die deutsche Theologin Magdalena Frettlöh schreibt: "Der Wortlaut des Textes (Gen 1,27) gibt nicht einmal die Identifikation von Frauen mit weiblichen und von Männern mit männlichen Menschen her ... und schreibt deshalb auch keine exklusive Komplementarität von Männern und Frauen fest. Es kommt vielmehr alles darauf an, dass es Menschsein nur in der Einheit von Verschiedenen, in einem Von-ein-ander-Unterschiedensein und einem Auf-ein-ander-Bezogensein gibt, das die Andersheit des und der Anderen in der gemeinsamen Menschlichkeit wahrt."[4]

Mit der Gottebenbildlichkeit der Menschen ist nach jüdisch-christlichem Verständnis auch eine Aufgabe verbunden: Sie vertreten Gott auf Erden, haben eine treuhänderische Aufgabe der gesamten Schöpfung gegenüber. Viele AlttestamentlerInnen weisen denn auch darauf hin, "dass die Gottebenbildlichkeit der Menschen nicht als Entsprechung in Geschlecht oder Aussehen etc. zu verstehen ist, (…) sondern in ihrer treuhänderischen Rolle gegenüber der Schöpfung: Die Menschen repräsentieren Gott in der Welt, indem sie verantwortlich mit der Welt und mit ihren Lebewesen umgehen und damit zum Bilde Gottes werden."[5]

Das heisst: Die Menschen sind als Bild Gottes, als mit Freiheit begabte Wesen, aufgerufen, in Freiheit und Verantwortung ihr Menschsein in der Welt zu gestalten, was den geschlechtlichen Bereich miteinschliesst. Kriterium dieser Lebensführung ist für Christinnen und Christen die Achtung eines jeden Menschen als Bild Gottes sowie die Praxis, die uns Jesus von Nazareth als das vollkommene Bild Gottes vorgelebt hat und der wir in seiner Nachfolge zu entsprechen suchen.[6]

Genesis 1 ist das erste Kapitel der Bibel. Als solches steht es wie eine Ouvertüre, wie ein Leitgedanke über allem, was später noch folgt. Die in Genesis 1 geschilderte absolute Gleichwertigkeit von Männlichem und Weiblichem gilt auch für das nächste Kapitel. Genesis 2 nämlich erzählt noch einmal in ganz anderer Weise von der Erschaffung der Menschen.

 

Die Erschaffung der Menschen nach Gen 2,7-25

Gott formt im Vers 7 aus der Ackererde (hebr. adama) ein Menschenwesen (adam, dasselbe Wort wird auch in Genesis 1,27 verwendet). Adam kann mit "Erdling" übersetzt werden und ist die Gattungsbezeichnung für Menschen. Dieses Menschenwesen ist zunächst ungeschlechtlich. Erst in dem Moment, in dem aus der Seite des Erdlings die Frau entsteht, entsteht aus der zweiten Hälfte der Mann (Gen 2, 21-23). Ziel der Erzählung ist es zu erklären, wie es dazu kommt, dass Mann und Frau immer wieder zueinander streben und miteinander leben. Höhepunkt des Textes ist deshalb der Ausruf Adams (Gen 2,23): "Diese ist nun endlich Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch." Damit drückt Adam seine Freude aus, endlich eine Partnerin gefunden zu haben, die ihm entspricht. Auch das darauf folgende Wortspiel: "iššah, Frau, soll sie heissen, denn vom , Mann, ist sie genommen" hat die gleiche Absicht: Es soll das gegenseitige Aneinanderhängen und Aufeinanderbezogen-sein der beiden Geschlechter zeigen. Denn erst jetzt, nach der Erschaffung der Frau, wird aus Adam, dem unfertigen, noch nicht geschlechtlich spezifizierten Menschen, der Mann: . Es geht in diesem Text also in keinster Weise darum, wie die kirchlich-männliche Auslegungstradition diesen Vers über Jahrhunderte interpretiert hat, dass der Frau als Zweiterschaffener und aus dem Mann Geschaffener in der Schöpfungsordnung der zweite Platz gebühre – hinter dem Mann und ihm untergeordnet.

Auch der Begriff der Hilfe in Gen 2,18, mit dem in der christlichen Tradition eine Unterordnung der Frau unter den Mann begründet wurde, muss vom hebräischen Text her anders verstanden werden. Das hebräische eser – "eine Hilfe ihm gegenüber", meint nicht eine untergeordnete Hilfe oder Gehilfin im Sinne einer Dienstmagd. Das hebräische Wort für "Hilfe" (eser), das hier verwendet wird, meint eine lebensstärkende oder lebensrettende Hilfe. Eser meint in der Bibel fast immer die Hilfe, die von Gott selbst kommt. Es geht also nicht, wie es in älteren Übersetzungen noch heisst, um eine Gehilfin des Mannes, sondern: So wie Gott für die Menschen eser ist, so sollen auch die Menschen einander eser, Hilfe, sein.

Am hartnäckigsten ist die Sache mit der Rippe. Wer kennt sie nicht, die Geschichte von der Erschaffung der Frau aus der Rippe des Mannes, wie sie in Gen 2,21f. erzählt wird. Unzählige Witze stützen sich bis heute auf dieses Motiv. Die Rippengeschichte, über die wir vielleicht nur noch lachen können, hat aber über Jahrhunderte bis in die Neuzeit dazu gedient, kulturelle Muster von der Minderwertigkeit des weiblichen Geschlechts theologisch zu zementieren und Frauen auf ihrem dem Mann untergeordneten Statuts festzuhalten, sie von religiösen und bürgerlichen Rechten auszuschliessen. Bis heute übersetzen fast alle Bibelausgaben das in Gen 2,21 gebrauchte Wort zela als "Rippe". "Das hebräische Wort zela kommt in der Bibel 40 Mal vor", wie die Bibelwissenschaftlerin Moni Egger schreibt, "und wird meistens zur Bezeichnung der Seite eines Gebäudes verwendet. Zela kann auch eine Bergseite bezeichnen und dann als 'Hang' übersetzt werden oder die beiden 'Flügel' einer Türe meinen. Immer also geht es um einen Teil eines Ganzen, der den anderen Teilen entspricht. Genesis 2 erzählt demnach nichts vom überflüssigen Knochen, der dann hübsch eine Frau hergibt. Vielmehr erzählt die Bibel, dass Gott aus dem ersten Menschenwesen zwei macht, aus jeder Seite eines: eine Frau und einen Mann. Darum, so Vers 24, wollen die beiden auch Seite an Seite leben. Frau und Mann sind gleichwertige Wesen aus gleichem Fleisch und Bein. Sie sind einander Gegenüber und existenzielle Hilfe. So jedenfalls wäre es im paradiesischen Urzustand gedacht."[7]

Und welche Rolle spielt das Geschlecht in Bezug auf die so genannte Erlösungswirklichkeit? Das heisst in Bezug auf die Situation, dass die Menschen nach christlicher Überzeugung nach Jesu Tod und Auferstehung erlöst sind? Der Schlüsseltext dazu ist die Stelle aus dem Brief des Apostels Paulus an die Galater, der in den frühchristlichen Gemeinden als Taufformel gedient hat:

"Denn alle, die ihr in den Messias hineingetauft seid, habt den Messias angezogen wie ein Kleid. Da ist nicht jüdisch noch griechisch, da ist nicht versklavt noch frei, das ist nicht männlich und weiblich: denn alle seid ihr einzig-einig im Messias Jesus" (Gal 3,27f., übersetzt in der "Bibel in gerechter Sprache").

Wie ist dieser Text zu verstehen? Es gibt verschiedene Auslegungen: Die einen sind überzeugt, dass als Folge des Christusgeschehens Geschlechterrollen ausser Kraft gesetzt werden und die gesellschaftliche Position eines Menschen in der Gemeinde der Christ_innen keine Rolle mehr spielt, dass also alle sozialen, kulturellen, nationalen und ethnischen Trennungen sowie die Unterschiede der Geschlechter überwunden und alle Herrschaftsstrukturen zurückgewiesen sind. Andere sind der Überzeugung, dass durch die "Neuschöpfung" in Christus die Geschlechterdualität, also die Zweigeschlechtlichkeit, grundlegend transformiert oder gar aufgehoben wird.[8] So oder so bedeutet es aber, dass auch hier die Geschlechtlichkeit eines Menschen eine von Gott gewollte Gestaltungsaufgabe ist – was jegliche Festlegung auf bestimmte Frauen- oder Männerbilder und Geschlechterrollen verbietet.

Auch das biblische Bilderverbot, dass wir uns als Menschen kein Bild von Gott machen sollen, legt nahe, dass wir uns auch vom Menschen – als Gottes Bild – kein fixes Bild machen sollen. Oder wie es der Theologe Gerhard Marschütz sehr schön auf den Punkt bringt:

"Als Geheimnis ist Gott wie auch der Mensch als Mann und Frau definitiv undefinierbar."[9]

 

Gender geht auch Theologie und Kirche etwas an

Benötigen wir in der Kirche die analytische Kategorie Gender, benötigen wir die Strategien des Gender Mainstreaming und eine genderbewusste Theologie? Ja, davon bin ich überzeugt, weil Gerechtigkeit – für Mädchen und Jungen, für Frauen und Männer, für alle Menschen – ein Leitprinzip christlichen Handelns ist. Und weil die christliche Theologie dieses Leitprinzip über Jahrhunderte in Bezug auf die Frauen unterlaufen hat. Denn die christliche Religion, d.h. Bibel, Theologie und Kirche waren massiv an der Herstellung und der Verfestigung von "Geschlecht" und von hierarchischen Geschlechterrollen beteiligt und sind es bis heute.

Ein Beispiel dafür ist das traditionelle christliche Gottesbild. Zwar hat der transzendente Gott gemäss christlicher Theologie kein Geschlecht, doch fast ausschliesslich männliche Gottesbilder in der Liturgie, in Gebeten und Liedern, dem Vaterunser und den Glaubensbekenntnissen suggerieren bis heute, dass Gott männlich ist. Und nicht nur das, sie suggerieren auch eine grössere Gottähnlichkeit des Mannes. Dieser verstand sich in der christlichen Tradition über Jahrhunderte als das vollkommene Abbild Gottes, während der Frau von den Theologen lange Zeit nur eine verminderte Gottebenbildlichkeit zugesprochen wurde.

Ein anderes Beispiel, das für Frauen gravierende Folgen hat, ist die Christologie, die Lehre von Jesus Christus. Hier wurde und wird das Geschlecht Jesu benutzt, um Frauen vom Priesteramt auszuschliessen. Allein aufgrund ihres biologischen Geschlechts sind nämlich Männer zu Repräsentanten Jesu Christi berufen, heisst es vom römisch-katholischen Lehramt: Denn Jesus sei ein Mann gewesen und nur ein Mann könne ihn deshalb im Priesteramt repräsentieren. Eine genderbewusste Theologie deckt solche geschlechtsspezifische Diskriminierungen auf und sucht gleichzeitig nach Gottesbildern und Christusbildern, die die Erfahrungen beider Geschlechter ansprechen. Zum Beispiel, indem sie das göttliche Geheimnis durch eine Vielfalt von männlichen und weiblichen Bildern umschreibt und die gleichwertige Gottebenbildlichkeit von Frau und Mann und die Imitatio Christi durch beide Geschlechter theologisch, sprachlich und liturgisch zum Ausdruck bringt. Hier gibt es für Theologie und Kirche noch viel zu tun!

Ziel einer geschlechtergerechten Theologie ist es, die patriarchal geprägte kirchliche Geschlechterordnung zu transformieren und Frauen wie Männern zu ermöglichen, sich jenseits patriarchaler Strukturen und geschlechtsspezifischer Rollenzuweisungen zu entfalten so wie es dem biblischen Gedanken der Gottebenbildlichkeit der Menschen und dem christlichen Menschenbild entspricht. Vor allem aber muss es unter Getauften darum gehen, hierarchische, ethnische, soziale oder geschlechtsspezifische Unterschiede zu überwinden und entsprechend dem christlichen Menschenbild die schöpfungsmässige Gleichheit und die Freiheit aller Menschen anzustreben:

"Denn alle, die ihr in den Messias hineingetauft seid, habt den Messias angezogen wie ein Kleid. Da ist nicht jüdisch noch griechisch, da ist nicht versklavt noch frei, das ist nicht männlich und weiblich: denn alle seid ihr einzig-einig im Messias Jesus" (Gal 3,27f., übersetzt nach der "Bibel in gerechter Sprache").

 

Doris Strahm

 

Fussnoten:

https://www.suedostschweiz.ch/aus-dem-leben/2017-05-23/huonder-gender-ideologie-entspricht-nicht-dem-christlichen-menschenbild.

2  Vgl. Regina Ammicht Quinn, Gender - Unnötige Aufregung um eine nötige Analysekategorie, in: 9/2016 – www.stimmen-der-zeit.de, S. 609

3  Moni Egger; Fehlübersetzungen mit Folgen. Korrekturen zur "biblischen Schöpfungsordnung", 2016, PDF auf: www.aboutgender.ch.

Magdalene L. Frettlöh, Wenn Mann und Frau im Bilde Gottes sind ... Über geschlechtsspezifische Gottesbilder, die Gottesbildlichkeit des Menschen und das Bilderverbot, Wuppertal 2002, 29. http://www.reformiert-online.net/agora2/docs/105.pdf

5  Christian Schmelzer, What is Love. Partnerschaft, Sexualität und narrative Ethik, in: Christian Schmelzer (Hg.), Gender Turn. Gesellschaft jenseits der Geschlechternorm, transcript Verlag, Bielefeld 2013, 200.

6  Saskia Wendel, "Als Mann und Frau schuf er sie". Auf dem Weg zu einer genderbewussten theologischen Anthropologie, in: Herder Korrespondenz 63. Jg. (2009), H. 3, 140.

7  Moni Egger, Fehlübersetzungen mit Folgen, 2016, PDF auf: www.aboutgender.ch.

8  Vgl. dazu Angela Standhartinger, Wie kann Diversität politisch fruchtbar werden? Überlegungen in Auseinandersetzung mit Galater 3,28, in: Margit Eckholt / Saskia Wendel (Hg.), Aggiornamento heute. Diversität als Horizont einer Theologie der Welt, Matthias Grünewald Verlag, Ostfildern 2012, 174-187.

9  Gerhard Marschütz, Zur Kritik an der vermeintlichen Gender-Ideologie: Wachstumspotenzial für die eigene Lehre, in: Herder Korrespondenz, 68. Jg. (2014), H. 9, 462.

 

 

© Doris Strahm 2017