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Christliche Werte

 

Die Schweiz müsse sich wieder auf ihre "christlichen" Werte besinnen, fordern Politiker. Doch worum geht es eigentlich in den aktuellen Wertedebatten und was ist mit den "christlichen" Werten gemeint?

 

In letzter Zeit geschieht Erstaunliches: In der Öffentlichkeit und der Politik wird plötzlich wieder über christliche Werte diskutiert. Das könnte uns Christinnen und Christen freuen. Doch schaut man, wer von christlichen Werten spricht, mit welcher Absicht und was darunter verstanden wird, ist es mit der Freude schnell vorbei. So sind es zur Zeit vor allem rechtskonservative Kreise und Exponenten der CVP, die in einer Art "Kulturkampf" gegenüber zugewanderten Religionen, besonders gegenüber dem Islam, die Schweiz als "christliches Land" postulieren und explizit zur Verteidigung der christlich-abendländischen Kultur aufrufen. Damit machen sie nicht nur unsere jüdischen und muslimischen Mitbürger/innen zu Schweizern zweiter Klasse. Sie leugnen überdies die jüdischen wie auch die islamischen Einflüsse auf die abendländische Kultur. So ist der wissenschaftliche Aufbruch Europas zu Beginn der frühen Neuzeit weitgehend der islamischen Welt zu verdanken, die das Wissen antiker Philosophen aufbewahrt, weiterentwickelt und nach Europa gebracht hatte. Zudem ist es eine Verdrehung historischer Tatsachen, wenn die Errungenschaften unserer "aufgeklärten" Gesellschaft als ein Verdienst des Christentums ausgegeben werden. Zwar ist die Gleichheit und Würde der Menschen im biblischen Gedanken von der Gottebenbildlichkeit der Menschen angelegt. Doch faktisch wurde die Aufklärung mit ihren Werten wie Gleichheit, Freiheit, Toleranz, Menschenrechte und Religionsfreiheit durch mutige Denker/innen gegen den erbitterten Widerstand der Kirche erkämpft. Auch der Kampf für die Gleichstellung der Geschlechter erfuhr von kirchlich-konservativen Kreisen heftigste Gegenwehr, und heute sind es wiederum christlich-konservative Kreise, die als "Anti-Genderisten" gegen neue Familienformen und veränderte Geschlechterrollen mobil machen.

Schauen wir also genau hin, wer aktuell von christlichen Werten spricht, was damit bezweckt und darunter verstanden wird. Meist ist es nicht das, was das Evangelium als christliche Botschaft vertritt: Nächstenliebe und Barmherzigkeit, Parteinahme für die Schwachen, Gastfreundschaft gegenüber Fremden und Schutzbedürftigen und Feindesliebe. Jesus hat nicht Abgrenzung und Ausschluss verkündet, sondern eine inklusive Form von Gemeinschaft, die bedingungslos für alle Menschen offen war. Würden die Verfechter "christlicher" Werte sich auf diese Werte besinnen, dann hätte dies Folgen: für die Art und Weise, wie wir als Gesellschaft mit Menschen in Not und mit Asylsuchenden umgehen, wie wir uns gegen Armut in unserem reichen Land einsetzen, wie wir Sorge tragen zu Gottes Schöpfung, wie wir Andersdenkenden und Andersglaubenden begegnen und uns für ein respektvolles und gerechtes Zusammenleben engagieren. Dies sind dann allerdings christliche Werte, die nicht gegenüber anderen zu postulieren, sondern vielmehr vorzuleben sind.

 

Doris Strahm

 

 

© Doris Strahm 2016