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Offen, dialogisch, vielfältig: Christliche Identitäten in einer pluralistischen Welt

 

Erweiterte Fassung eines Vortrags an der SEK-Frauenkonferenz vom 14. März 2016 im Haus der Religionen (Bern) zum Thema "Ich glaube – Du glaubst – Sie glaubt: Christliche Identitäten in einer multireligiösen Gesellschaft"

 

Kaum ein anderes Thema hat in den letzten Jahren zu so kontroversen und heftigen Debatten in unserer Gesellschaft geführt wie die Folgen des religiösen Pluralismus. Religion ist plötzlich wieder zu einem wichtigen gesellschaftlichen Identitätsmerkmal geworden. So werden zugewanderte Menschen in den letzten Jahrzehnten nicht mehr primär über ihre nationale und kulturelle, sondern über ihre religiöse Herkunft definiert. Die religiöse Zugehörigkeit wird neu zum zentralen Merkmal von Fremdheit und zur Unterscheidungs- und Abgrenzungslinie vom Eigenen. Besonders deutlich wird dies aktuell in Bezug auf Menschen muslimischer Herkunft, die auf ihr Muslim-Sein reduziert und nicht mehr als Individuen mit ganz unterschiedlichen Biografien wahrgenommen werden – egal, ob sie sich selber als gläubige MuslimInnen verstehen,[1] und egal, ob sie aus dem Balkan, aus der Türkei, aus Pakistan oder Syrien stammen. Nach dem 11. September 2001 sind – gleichsam über Nacht – aus TürkInnen, BosnierInnen, AlbanerInnen, PakistanerInnen Muslime geworden. Ihnen wird eine von aussen definierte religiöse Identität zugeschrieben, die von den Einen als Bedrohung unserer säkularen Gesellschaft und ihren gleichstellungspolitischen Errungenschaften angesehen und von den Anderen als Bedrohung unserer christlich-abendländischen Kultur empfunden wird. Als Reaktion auf Letzteres wird von Vielen, auch Kirchenfernen, plötzlich wieder von einer christlichen Leitkultur geredet und über christliche Werte und christliche Identität in der Abgrenzung zum Islam diskutiert.

Doch es ist nicht nur die von Medien und von politischen Kreisen geschürte Angst vor den Muslimen und der fremden Religion "Islam", die gegenwärtig in weiten Teilen unserer Gesellschaft zu einer Rückbesinnung auf die eigene christliche Identität führt. Für die christlichen Kirchen ist es weit stärker die zunehmende Individualisierung und Pluralisierung unserer Gesellschaft, die der Frage nach einer christlichen Identität Brisanz verleiht. So nahmen Kirchenaustritte in den letzten Jahren in der Schweiz markant zu und die Zahl der Konfessionslosen stieg von 11,4 Prozent im Jahr 2000 auf 21,4 Prozent im Jahr 2012.

 

1.  Individualisierung und Pluralisierung als Merkmale unserer Gesellschaft führen auch zu ganz unterschiedlichen Glaubensformen und vielfältigen christlichen Identitäten

Dies zeigt auch die neueste und umfangreichste Studie zur christlichen Religionslandschaft in der Schweiz. Diese wurde von Religionssoziologen aus Lausanne und aus St. Gallen im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms "Religionsgemeinschaften, Staat und Gesellschaft" (NFP 58) durchgeführt. Darin unterteilen die Forschenden die christliche religiös-spirituelle Landschaft in vier Typen mit ganz unterschiedlichen Glaubensvorstellungen: Die grosse Mehrheit der Bevölkerung gehört zur Gruppe der "Distanzierten" (57 %), die gemäss den Religionssoziologen in Zukunft weiterhin wachsen wird. Ihnen ist Religion nur in bestimmten Situationen wichtig, z.B. an Weihnachten. Die "Distanzierten" sind meist noch Mitglieder einer Landeskirche, doch ihre religiösen und spirituellen Überzeugungen sind oft diffus und der Glaube steht für sie nicht im Mittelpunkt ihres Lebens. Anders die schrumpfende Gruppe der "Institutionellen", die noch knapp einen Fünftel der Bevölkerung (18 %) ausmachen: Sie beten häufig und gehen regelmässig zur Kirche. Sie teilen sich auf in die grössere Gruppe der "Etablierten" – also Mitglieder der Landeskirchen – und die wesentlich kleinere Gruppe der "Freikirchlichen", die häufig im medialen Fokus steht. Während die katholischen und reformierten Kerngemeinden schrumpfen, wachsen die charismatischen Freikirchen innerhalb der Institutionellen. Die dritte Kategorie sind die "Säkularen". Diese Gruppe besteht einerseits aus den "Indifferenten", die weder an Gott noch an ein Leben nach dem Tod glauben, jedoch auch keinen Anlass sehen, gegen Religion und Gläubige anzukämpfen. Die "Religionsgegner" andererseits betonen gerne den schädlichen Einfluss von Kirchen und Religionen. Eine vierte Gruppe sind die "Alternativen", die sich aus dem grossen Angebot der alternativen Spiritualität bedienen und sich ein eigenes Glaubensgebäude zimmern. Die "Alternativen" halten sich mit 13% konstant, doch den "Säkularen", zur Zeit 12%, sagen die Forschenden langfristig ein deutliches Wachstum voraus.[2]

Innerhalb aller vier Typen entfaltet sich wie in allen anderen Lebensbereichen eine starke Individualisierung. Jede und jeder entscheidet für sich allein, was sie oder er glauben und praktizieren will. Dabei stehen der individuelle Nutzen und die persönliche Erfahrung im Vordergrund. Das eigene Ich ist sowohl bei Gläubigen als auch bei Ungläubigen zur zentralen Richtschnur des Entscheidens geworden.[3] Die Zentrierung auf Individualität und Erfahrungsbezug, welche die heutigen Formen von Religiosität auszeichnet, ist Ausdruck des Umstands, dass die Menschen in modernen Gesellschaften sich weitgehend aus vorgegebenen Fixierungen und Traditionen herausgelöst haben und Lebenswege kaum mehr von Traditionen vorgezeichnet sind. Überkommene Identitätsmuster, auch religiöse, lösen sich auf. Das eigene Leben wird zur Aufgabe; Lebensdeutungen müssen selber gewählt werden. Die Vorstellung einer fixierbaren Identität, die ein Mensch im Verlauf seiner Lebensgeschichte ausbildet, erweist sich zunehmend als Fiktion. Identität ist vielmehr ein andauernder Prozess der Identitätsbildung und der Wahl.[4]

Heutige Identität ist fragmentiert. Die religiöse Identität macht nur einen Teil der Identität eines Menschen aus. So gibt beispielsweise ein religiöses Selbstverständnis als Christin noch nicht Auskunft über die politische Haltung, den finanziellen oder sozialen Status, den Bildungsstand oder die Einstellung zu Umwelt und Natur. Menschen müssen sich in den unterschiedlichen Lebensbereichen jeweils neu verorten: als Tochter, als berufstätige Frau, als Mutter, als Lebenspartnerin, als politisch Engagierte etc. Man spricht daher von Pluraler- oder von Patchwork-Identität, da es in unseren komplexen Lebenswelten heute unmöglich ist, Identität über eine einzige Facette des Selbst zu definieren.[5] Identität ist also ein offener, fliessender und unabgeschlossener Prozess der Identitätsbildung, die sich in sozialen Interaktionen vollzieht.

Von diesen Formen heutiger Identitätsbildung ist auch die religiöse Identitätsbildung betroffen, die sich ebenfalls immer häufiger als "Patchwork-Identität" zeigt. Das heisst: Glaubensformen und spirituelle Praktiken aus verschiedenen religiösen Traditionen werden ins eigene Leben integriert. Dies belegt nicht nur die grosse Beliebtheit von alternativen Formen der Spiritualität oder fernöstlicher Meditationspraxis, sondern auch der Umstand, dass es einer Vielzahl von Kirchgängern zum Beispiel "keine grossen Schwierigkeiten zu bereiten [scheint], Ideen der Reinkarnation in ihr kirchlich geprägtes individuelles Glaubenssystem zu integrieren"[6]. Die Kehrseite dieser Patchwork-Religiositäten ist, dass das, was bisher als kirchliche Lehre gegolten hat und von Kirchenleitungen und Theologen nach wie vor als Norm betrachtet wird, rapide seine Basis bei den Kirchenmitgliedern verliert und nur noch bei einer Minderheit Akzeptanz findet. Massstab für die eigene Religiosität ist nicht Rechtgläubigkeit, nicht die Anpassung an eine religiöse Tradition, sondern die Übereinstimmung mit persönlichen Erfahrungen und den eigenen religiösen Bedürfnissen.[7] Die Menschen sind nicht einfach areligiös, sondern suchen nach neuen, individuellen Formen von Religiosität, nach dem, was ihnen Sinn und Wert in ihrem persönlichen Leben vermitteln kann. Von christlicher Identität kann also nicht im Singular, sondern nur im Plural gesprochen werden.

Für Theologie, Kirche und Pastoral bedeutet dies, dass sie nicht auf ein starres christliches Identitätskonzept bedacht sein sollten, sondern vielmehr diesen offenen religiösen Suchbewegungen und Identitätsprozessen von Menschen Raum geben und sie begleiten müssten. Dazu braucht es eine offene, fragende und dialogische Grundhaltung, die nicht einfach Antworten anbietet, sondern zuerst genau hinhört auf das, was Menschen in ihrer religiösen Suche heute bewegt. Es braucht neue Formen von Theologie, die angesichts eines fragmentierten Glaubens und einer diffusen Religiosität nach einer neuen Sprache sucht, die christliche Traditionsbestände ins heutige Leben hinein neu erarbeiten und formulieren kann.

 

2.  Wenn aktuell von religiösem Pluralismus die Rede ist, ist weniger der innerchristliche Pluralismus gemeint, sondern der Pluralismus und das Nebeneinander verschiedener Religionen in unserer Gesellschaft

Zur Pluralisierung der religiösen Landschaft Schweiz hat auch die Anwesenheit von nicht-christlichen Religionsgemeinschaften beigetragen, die durch die Migrationsprozesse der letzten Jahrzehnte Teil unserer Gesellschaft geworden sind. Nebst den christlichen Gemeinschaften, deren Zahl leicht abgenommen hat und im Moment bei gut 70 % der Wohnbevölkerung[8] liegt und damit noch immer die grosse Mehrheit ausmacht, sind die muslimischen Gemeinschaften mit einem Anteil von knapp 5 % der Wohnbevölkerung[9] die zweitgrösste Religionsgemeinschaft in der Schweiz. Sie bilden allerdings im Vergleich zu den christlichen Gemeinschaften eine sehr kleine Minderheit. Mit anderen Worten: Die zahlenmässige Grösse der muslimischen Glaubensgemeinschaft korrespondiert in keiner Weise mit der medialen und politischen Aufmerksamkeit, die den Musliminnen und Muslimen in unserem Lande zu Teil wird. Die jüdische Glaubensgemeinschaft umfasst ca. 0,3 % der Wohnbevölkerung, buddhistische und hinduistische Vereinigungen je 0,5 %.[10]

Wenn derzeit in den öffentlichen Debatten von religiöser Pluralisierung oder religiösem Pluralismus die Rede ist, dann ist meist diese Vielfalt verschiedener Religionen gemeint und nicht die innerchristliche Pluralisierung von Glaubensformen, wie ich sie vorhin beschrieben habe. Die Vielfalt verschiedener Religionen und das Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Glaubensgemeinschaften könnte unsere Gesellschaft bereichern, aber vielen Menschen macht sie auch Angst.

 

3.  Die Haltung gegenüber anderen Religionen ist meist offen und positiv – einzig der Islam wird eher als Bedrohung denn als Bereicherung angesehen. Weshalb?

Der Bertelsmann Religionsmonitor 2013 hat Menschen in verschiedenen Ländern zu ihrer Haltung anderen Religionen gegenüber befragt und Folgendes zutage gebracht: Eine grosse Mehrheit der Befragten gesteht anderen Religionen einen wahren Kern zu und hält es für selbstverständlich, dass man anderen Religionen und ihren Mitgliedern offen gegenübertritt. In der Schweiz vertreten laut Religionsmonitor über 70% der Befragten diese Haltung. Fragt man jedoch, ob die zunehmende Vielfalt von religiösen Gruppen in unserer Gesellschaft eine kulturelle Bereicherung darstellt oder ob sie eine Ursache für Konflikte sei, dann halten sich bei den Befragten in allen Ländern die beiden Aussagen ungefähr die Waage.[11] Die hohe Zustimmung für beide Alternativantworten – "kulturell bereichernd" oder "Ursache für Konflikt" – legt nahe, dass offenbar für viele Befragte beide Antworten gleichzeitig möglich scheinen.[12] Diese ambivalente Haltung gegenüber religiösem Pluralismus löst sich etwas auf, wenn man konkreter nach dem Verhältnis zu einzelnen Religionen und ihren Mitgliedern fragt. Denn es zeigt sich, dass die Mitglieder der grossen Weltreligionen auf eine mehrheitlich positive Haltung der Bevölkerung zählen können – mit einer signifikanten Ausnahme: die Muslime. Ihre Religion ist die einzige, die im Religionsmonitor 2013 eher als Bedrohung denn als Bereicherung angesehen wird. Dies gilt auch für die Schweiz, wo ebenfalls eine diffuse negative Einstellung gegenüber den Muslimen vorherrscht. Es ist also weniger der Religionspluralismus an sich, welcher einer Mehrheit Sorgen macht, sondern die religiöse Gruppe der "Muslime" und die Religion "Islam".[13] Es ist daher nicht erstaunlich, dass sich die öffentlichen Debatten über die religiöse Pluralisierung oder auch der Migrationsdiskurs derzeit hauptsächlich auf die "Muslime" konzentriert, die nicht mehr als einzelne Individuen, sondern als Kollektiv wahrgenommen werden und unterschiedslos als "fremd" oder gar als bedrohlich angesehen werden – ganz egal, ob sie hier geboren, SchweizerIn oder gut integrierte Zugewanderte sind.

Wie ist diese negative Wahrnehmung zu erklären, die von diffusen Ängsten und Vorurteilen und nicht von realen Erfahrungen mit den unter uns lebenden Musliminnen und Muslimen gespeist ist? Sie hat hauptsächlich damit zu tun, dass die Mehrheit der Menschen in unserer Gesellschaft keinen direkten persönlichen Kontakt zu MuslimInnen hat und ihre Sicht auf den Islam aus dessen Darstellung in den Medien und da vor allem aus den Boulevard-Blättern und dem Fernsehen bezieht. Wie umfangreiche Medienanalysen zeigen, sind diese Darstellungen meist sehr negativ geprägt bzw. berichten nur über Sensationen und sogenannte "bad news" wie terroristische Anschläge, radikale Hassprediger, menschenrechtsfeindliche Regimes etc. und kaum über den Alltag und das normale Leben muslimischer Frauen und Männer.[14] Mit dem Auftauchen des sogenannten "Islamischen Staates" und dessen medienwirksamer Propaganda ist diese einseitige Fokussierung auf den Islam als Bedrohung nochmals stärker geworden.

Die Bedrohungsgefühle, die durch die Berichte über diese Ereignisse erzeugt werden, werden dann auf die bei uns lebenden MuslimInnen übertragen. Der Islam als Ganzes wird nun mit Gewalt und Extremismus assoziiert und von vielen Menschen als Bedrohung empfunden. Die dadurch ausgelösten Ängste werden von rechtspopulistischen Parteien geschürt und genutzt, um eine fremdenfeindliche Politik voranzutreiben, die ganz konkrete Auswirkungen auf unsere muslimischen MitbürgerInnen hat. So nehmen Anfeindungen im Alltag und Diskriminierungen zu. Neben dem Gewaltpotenzial, das dem Islam als Ganzem zugewiesen wird, kommt noch eine weitere Zuschreibung dazu: Der Islam wird als eine Religion dargestellt, die Frauen benachteiligt und unterdrückt und nicht in unsere Gesellschaft mit ihren Gleichstellungsgrundsätzen passt. Dieses Stereotyp, das weitgehend ebenfalls auf Medienberichten beruht, dient selbst manchen linken und feministischen Kreisen, sich kritisch gegen den Islam zu positionieren, da dieser als rückständige, gewalttätige und frauenfeindliche Religion erscheint.

 

4.  Islamfeindlichen Stereotypen entgegenwirken und durch Begegnungen ein reales Bild von den MuslimInnen und ihrer Religion gewinnen

Wie kann man diese negative Sicht und die Stereotypen aufbrechen? Zuallererst, indem man sich dieser verzerrten, auf "bad news" fixierten Darstellung in den Medien bei der Zeitungslektüre stets bewusst ist! Und dann vor allem durch mehr Wissen von den "Anderen" und durch persönliche Kontakte zu Musliminnen und Muslimen im Alltag, in dem es in der Nachbarschaft oder im Quartier zu Begegnungen kommt. Empirische Studien zeigen: soziale Kontakte bauen Stereotype und die Wahrnehmung von Bedrohung ab. Je intensiver die Kontakte, desto stärker ist ihre Wirkung.[15] Dies zeigt sich sehr deutlich auch in der Tatsache, dass die Fremden- und Islamfeindlichkeit an jenen Orten am stärksten ist, wo es gar keine MuslimInnen hat, und dass der Islam dort am wenigsten als Problem wahrgenommen wird, wo es im Alltag zu selbstverständlichen Kontakten kommt, wie beispielsweise in grösseren Städten. Die Sicht von Menschen anderer religiöser Zugehörigkeit zu kennen – ihre Vorstellungen vom Leben und ihre Träume, Einblicke zu erhalten in ihre religiösen Traditionen, in die Vielfalt ihrer Lebensweisen und Alltagsgestaltung, hilft nicht nur Misstrauen und Ängste abzubauen. Die Begegnungen machen auch bewusst, dass Menschen anderer Religionszugehörigkeit – wie wir auch – nicht allein durch ihre Religion geprägt sind und ihre Biografien so vielfältig und unterschiedlich sind wie unsere.

Auch der interreligiöse Dialog ist in dieser Hinsicht hilfreich, da er Gefässe für solche Begegnungen schafft. Dieser Dialog sollte aber nicht nur von ExpertInnen und TheologInnen der jeweiligen Religionsgemeinschaften geführt werden, sondern möglichst viele Bürger und Bürgerinnen umfassen, die mehr über den Glauben von muslimischen Frauen und Männern wissen wollen und sich offen auf einen Prozess des gegenseitigen Kennenlernens einlassen. In vielen Kirchgemeinden in der Schweiz gibt es inzwischen Dialoganlässe, die persönliche Begegnungen ermöglichen und Aufklärungsarbeit leisten – nebst vielen interreligiösen Gremien und Gruppen wie z.B. IRAS-COTIS, dem Zürcher Institut für Interreligiösen Dialog (vormals Zürcher Lehrhaus Christentum – Judentum – Islam), dem Forum der Religionen Zürich, dem Interreligiösen Forum Basel oder dem Interreligiösen Think-Tank. Sie alle wollen der Islamfeindlichkeit in unserer Gesellschaft entgegenzuwirken und arbeiten auf eine Kultur des Dialogs, der gegenseitigen Anerkennung und Wertschätzung hin.

Den Kirchen und Kirchenleitungen kommt für eine solche Kultur des guten Zusammenlebens und der gegenseitigen Wertschätzung eine wichtige Rolle zu. Sie sollten ihre Verantwortung als ethische Instanz im öffentlichen Diskurs deutlicher wahrnehmen und klar und hörbar Stellung beziehen gegen die wachsende Islamfeindlichkeit und den Fremdenhass in unserem Land, sich laut und vernehmlich gegen die Verunglimpfung und Stigmatisierung einer ganzen Glaubensgemeinschaft einsetzen.

 

5.  Wie kann christliche Identität angesichts der Religionspluralität formuliert werden? Drei unterschiedliche theologische Positionen

Wie wir gesehen haben, kennzeichnen Religionsvielfalt und eine wachsende Pluralität innerhalb der christlichen Religionsgemeinschaften sowie eine individualisierte Religiosität gegenwärtig unsere Gesellschaft. An die Stelle der Säkularisierungsthese ist deshalb in der neueren Forschung der "Pluralismus" als die Leitkategorie zur Deutung der Gegenwart getreten.[16] Auch für weite Teile der evangelischen und katholischen Theologie ist "Pluralismus" zu einem umfassenden Deutungsbegriff unserer Zeit aufgestiegen, der die gesamte Theologie, nicht nur einzelne Fachdisziplinen, vor die Frage stellt, wie christlicher Glaube in der modernen Pluralismuskultur zu deuten und zu wahren ist.[17] Für die christlichen Kirchen stellt sich die Frage, was in einer solcherart verstandenen pluralistischen Gesellschaft christlich-religiöse Identität heisst, wie sie gedeutet und ausgebildet werden kann – in der Auseinandersetzung und im Dialog mit den anderen Religionen. Wie kann man seiner eigenen religiösen Identität treu bleiben und trotzdem offen sein für andere religiöse Identitäten? Was bedeutet es für unser Verständnis von Wahrheit, dass andere Menschen anderes und anders glauben als wir? Gibt es Wege, wie verschiedene Religionen zusammenarbeiten können auf eine Gesellschaft hin, in der unterschiedliche kulturelle und religiöse Identitäten in Frieden zusammenleben und sich gegenseitig bereichern mit ihren Werten? Vor allem Letzteres scheint mir aktuell die entscheidende Frage.

Traditionell haben alle grösseren Religionen ihr Verhältnis zueinander entweder exklusivistisch oder inklusivistisch bestimmt. Das heisst: Sie haben entweder in exklusivistischer Weise behauptet, dass nur die eigene Religion die Wahrheit besitze und zum Heil führe. Oder sie haben in inklusivistischer Weise den anderen Religionen eine fragmentarische Wahrheit zugesprochen, für die eigene Religion aber die volle, den anderen überlegene Wahrheit behauptet. "Weder eine exklusivistische noch eine inklusivistische Position vermag aber der religiösen Vielfalt letztlich einen positiven Sinn abzugewinnen. Vereinfacht gesagt: Der Exklusivismus betrachtet alle anderen Religionen als falsch, weil sie sich von der eigenen Religion unterscheiden. Der Inklusivismus betrachtet sie als falsch in dem Mass, in dem sie sich von der eigenen unterscheiden. In beiden Fällen ist der Unterschied zur eigenen Religion negativ besetzt (…) und damit zwangsläufig auch das Faktum religiöser Vielfalt selbst als etwas Negatives konzipiert."[18]

Im Christentum war über Jahrhunderte eine exklusivistische Haltung anderen Religionen gegenüber vorherrschend: ausserhalb der Kirche gibt es kein Heil. Heute ist eine solche Haltung noch in fundamentalistischen und vielen evangelikalen Kreisen anzutreffen. Seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil wird in der römisch-katholischen Kirche eine inklusivistische Position vertreten, und auch die Evangelischen Kirchen vertreten mehrheitlich diese Position. Diese geht davon aus, dass auch in anderen Religionen Spuren von Wahrheit und von authentischer religiöser Erfahrung zu finden sind; dass diese aber von der christlichen Offenbarung implizit immer schon umfasst sind, weil sich in ihr, über die Wahrheit der anderen Religionen hinaus, die Fülle der Wahrheit und Selbstmitteilung Gottes finde. Damit wird die Religionspluralität zwar anerkannt und eine Haltung der Toleranz und Offenheit gegenüber anderen Religionen eingenommen. Die anderen Religionen werden aber als minderwertiger beurteilt und ihr Wert an der Übereinstimmung mit dem Christentum bemessen.

Gegen den Wahrheits- und Überlegenheitsanspruch des christlichen Exklusivismus, der keine Anerkennung anderer Religionen als Heilswege zulässt, und gegen die Vereinnahmungstendenzen des christlichen Inklusivismus, der andere Religionen integriert oder sie der eigenen Religion unterordnet, sie aber nicht als gleichwertig anerkennt, wendet sich nun eine dritte, neuere Position, die ihre Anfänge in den 1970er Jahren hat. Diese will sowohl den christlichen Eklusivismus wie den Inklusivismus überwinden und zu einer Anerkennung der anderen Religionen als gleichwertiger Heilswege gelangen. Dieser Ansatz, der auch der meine ist, wird pluralistische Theologie der Religionen oder pluralistische Religionstheologie[19] genannt. Er wird vor allem von Theologinnen und Theologen vertreten, die im interreligiösen Dialog engagiert sind und deren Anliegen es ist, den Dialog der Religionen zu fördern im Hinblick auf eine wechselseitige Wertschätzung und einen gemeinsamen Einsatz für Frieden und Gerechtigkeit in der Welt. Die pluralistische Religionstheologie vertritt die Überzeugung, "dass sich die grossen religiösen Traditionen der Menschheit zwar unterschiedlich, aber prinzipiell gleichwertig auf eine letzte transzendente Wirklichkeit beziehen"[20] und als unterschiedliche Annäherungen an diese Wirklichkeit zu verstehen sind.

 

6.  Es ist zu unterscheiden zwischen der "Wahrheit Gottes" und der "Wahrheit der Religionen"

Was hat eine solche pluralistische christliche Theologie der Religionen nun aber für Folgen für die Wahrheit des christlichen Glaubens? Der evangelische Theologe Reinhold Bernhardt hat in einem Positionspapier des SEK: "Wahrheit in Offenheit. Der christliche Glaube und die Religionen" eine hilfreiche Unterscheidung vorgelegt. Er unterscheidet nämlich zwischen der "Wahrheit Gottes" und der "Wahrheit der Religionen". Absolutheit, auch absolute Wahrheit, kommt nur Gott zu. Und diese absolute Wahrheit Gottes kann in der Begrenztheit menschlicher Begriffe und Lehren nie vollständig erfasst werden. Die Offenbarung Gottes realisiert sich immer in geschichtlich-religiösen Erfahrungen, in menschlichen Denk- und Lebensformen, die zeitlich und kulturell geprägt und begrenzt sind. Doch die Menschen tendieren dazu, die geschichtlichen religiösen Ausdrucksformen mit der in ihnen erfahrenen transzendenten Wirklichkeit Gottes gleichzusetzen. Gott als Grund religiöser Erfahrungen ist aber umfassender als alle seine geschichtlichen Manifestationen. Daher kann keine religiöse Äusserung, keine Religion in ihrer Lehre und Praxis "Absolutheit" in Anspruch nehmen. Denn die Wahrheit Gottes relativiert alle absoluten Wahrheitsansprüche der Religionen.[21]

Wenn aber die Absolutheit Gottes alle menschlichen Ausdrucksformen und alle menschlichen Begriffe übersteigt, dann sollten wir offen dafür sein, dass wir in der Begegnung mit Menschen anderer Religionen andere Facetten der göttlichen Wirklichkeit erkennen können. Eine solche Haltung erlaubt es, der eigenen Überzeugung treu zu bleiben und dennoch in anderen religiösen Überzeugungen ebenfalls einen Wahrheitsgehalt zu sehen und sich offen auf die dialogische Begegnung mit Andersgläubigen einzulassen. Und dies nicht allein aufgrund eines aufklärerischen Toleranzpostulats, sondern aus der Mitte der jeweiligen Religionen heraus, die in ihrem Wesenskern über sich hinausweisen auf den göttlichen Grund der Wirklichkeit.[22]

 

7.  Christliche Wahrheit ist kein Wissen von objektiven Fakten, sondern ein existenzielles Überzeugtsein vom eigenen Glauben und ein Lebensvollzug

Der Wahrheits- und Geltungsanspruch der eigenen Religion muss auch im Dialog der Religionen nicht aufgegeben werden. Doch es handelt sich bei diesem Anspruch auf universale Gültigkeit der eigenen Religion nicht um einen Absolutheitsanspruch, der sich auf eine scheinbar objektiv beweisbare Wahrheit stützt, sondern um ein existenzielles Überzeugtsein vom eigenen Glauben. Denn Glaubenswahrheit ist nicht ein Wissen von objektiven Fakten oder ein "Für-wahr-Halten" dessen, was die Kirche lehrt. So erschliesst sich uns die Wahrheit Jesu Christi nicht in der Zustimmung zu dem, was die Kirche über ihn lehrt, sondern indem wir uns auf die von ihm eröffnete Gottesbeziehung einlassen und ihn darin als Offenbarung Gottes oder als Weg zu Gott erkennen. Glaubensgewissheit ist also ein existenzielles und spirituelles Sich-Einlassen auf das Wirken Gottes in unserem Leben, eine Existenzausrichtung, ein Vollzug – also weniger eine rationale Wahrheit "an sich", sondern eine relationale Wahrheit "für mich".[23] Das heisst: Die Wahrheit des christlichen Glaubens kann nur relational erschlossen werden: Menschen lassen sich auf Jesus von Nazaret und seine Reich-Gottes-Botschaft ein und erfahren in ihm und seiner Lebenspraxis die "Wahrheit", den Sinn des Lebens. Christliche Wahrheit ist also nicht abstrakt, sondern konkret, und wird im Tun erst wirklich erkannt: Sie erschliesst sich jenen, die sie erfahren und tun, d.h. in ihrer Lebenspraxis "wahr machen".[24]

 

8.  Christliche Identität ist ein unabgeschlossener Prozess der stets neuen Orientierung an Jesus von Nazaret und seiner Reich-Gottes-Praxis

Christliche Identität ist und war immer schon keine zeitlose und wesenhafte Grösse, sondern von Grund auf vielfältig, offen und im Wandel begriffen. So gab es von Anfang an keine uniforme christliche Identität, sondern eine Pluralität von unterschiedlichen kontextuellen Christusbekenntnissen, wie die vier Evangelien und die neutestamentlichen Schriften zeigen. Christliche Identität stellt ein dynamisches Geflecht von existenzdeutenden Sinnmustern dar, die sich durch die Aneignung biblischer und christlicher Traditionen und gegenwärtigen Erfahrungen bilden. Dies hat durch die Geschichte hindurch zu höchst vielfältigen christlichen Strömungen und Denominationen und unterschiedlichen Ausformungen christlicher Identität geführt.[25] Dennoch ist christliche Identität nicht beliebig: Zentraler inhaltlicher Bezugspunkt einer christlichen Identität ist Jesus von Nazaret und seine Botschaft vom Reich Gottes. Wenn sich christliche Identität theologisch als Prozess der immer neuen Orientierung an Jesus formt – an seiner Gottes- und Menschenbeziehung, wie sie in seiner Reich-Gottes-Verkündigung und seiner Praxis zum Ausdruck kommt –, dann lässt sie sich nie abschliessend festlegen. Sie ist die stets neue Aktualisierung der befreienden Reich-Gottes-Botschaft Jesu in einem je konkreten kulturellen und historischen Kontext. Sie vollzieht sich vor allem auf dem Weg der gelebten Nachfolge – und zwar unter den Bedingungen der je eigenen Zeit und Kultur. Christliche Identität ist daher dynamisch: Christinnen und Christen sind nicht im Besitz ihrer christlichen Identität, sondern sie wachsen konstant in sie hinein.

Prüfstein des christlichen Glaubens ist, ob er im Dienste der befreienden Reich-Gottes-Praxis Jesu steht oder nicht, ob er das Heil-sein von Menschen fördert oder im Namen Christi zur Unterdrückung von Menschen beiträgt. Nicht die religiöse Selbstbehauptung durch exklusive und absolute Wahrheitsansprüche kann somit beanspruchen, Kennzeichen wahrer Christlichkeit zu sein, sondern die christliche Praxis: "An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen." Meine Kollegin Manuela Kalsky schreibt dazu: "Nicht der Glaube an Jesus und die Einzigartigkeit seiner Person bestimmen dann christliche Identität, sondern der Glaube mit ihm an ein Reich des Friedens und der Gerechtigkeit, welches das gute Leben für alle Menschen vor Augen hat."[26]

 

9.  Für viele christliche Frauen ist die Suche nach ihrer religiösen Identität eine Gratwanderung zwischen drinnen und draussen, ein Sein auf der Grenze

Geschlecht ist eine zentrale Komponente von Identität, wie Studien zur Identitätsentwicklung von Frauen und Männern zeigen. Für viele christliche Frauen vollzieht sich die christliche Identitätsfindung in unserem gesellschaftlichen Kontext in der Spannung zwischen Tradition und Autonomie, d.h. zwischen einer inneren Bindung an die christlich-kirchliche Tradition einerseits und dem Streben nach Selbstbestimmung und einem veränderten Selbstbild als Frau andererseits. Wie empirische Studien zur Religiosität von Frauen zeigen, erleben besonders Frauen, die sich bewusst mit ihrer Rolle als Frau in Kirche und Gesellschaft auseinander setzen, ihre Suche nach einer eigenen religiösen Identität häufig als Gratwanderung oder als Sein auf der Grenze.[27] Die kritische Auseinandersetzung mit der patriarchal geprägten christlichen Tradition führt viele Frauen dazu, diese als frauenunterdückend abzulehnen und aus der Kirche auszutreten. Andere Frauen entdecken auf ihrer religiösen Identitätssuche frauenbefreiende Traditionen in Bibel und kirchlicher Tradition und eignen sich das Erbe ihrer biblischen Vorschwestern an.

Immer mehr Frauen weisen die Autorität und Definitionsmacht der Kirche zurück. Selbstbestimmte religiöse Identitätsbildung als christliche Frau wird häufig als ein Akt der Selbstautorisierung und Ermächtigung verstanden: Frauen ergreifen das Wort und interpretieren die biblischen Schriften und die zentralen Themen christlicher Theologie aus Frauensicht neu; sie schaffen sich Gestaltungsräume für ihre religiösen Erfahrungen und spirituellen Bedürfnisse und entwickeln neue Formen von Gemeinschaft wie FrauenKirche-Gruppen, feministische und geschlechtergerechte Netzwerke und Initiativen innerhalb und ausserhalb der Kirchen.

Religiöse Identität christlicher Frauen ist kein Einheitskonzept, sondern ein vielfältiger, unabgeschlossener, dynamischer und lebensgeschichtlicher Prozess jeder einzelnen Frau. Die von Frauen häufig gemachte Erfahrung der Fremdheit in der eigenen Tradition ist dabei nicht nur ein Mangel, sondern kann auch als Potenzial gesehen werden. Denn die offene Identitätsentwicklung und das Sein auf der Grenze zwischen dem Drinnen und dem Draussen der Kirche, das viele Frauen – oft auch schmerzhaft – erleben, setzen spezifische Fähigkeiten frei wie Offenheit und Toleranz im Umgang mit anderen oder Flexibilität in sich verändernden sozialen und kulturellen Kontexten.[28] Das Sein auf der Grenze kann also durchaus als positiver und zukunftsweisender Ort verstanden werden: Denn es sind die Ränder, das Grenzland, und nicht das dogmatische und autoritäre (Macht-)Zentrum der Religionen, wo sich religiöse Traditionen entwickeln, wo Veränderungen geschehen und Menschen mit den Anderen jenseits der Grenzen in Kontakt kommen. Eine so verstandene offene christliche Identität von Frauen befähigt zu einem Leben und Glauben in Vielfalt und Gemeinschaft mit anderen und zu einer Offenheit gegenüber anderen Glaubensrichtungen.

 

10.  Eine dialogische Theologie entwickeln, die christliche Identität nicht in Abgrenzung von den anderen Religionen, sondern in Beziehung und im Dialog mit ihnen formt

Christliche Identität hat sich lange Zeit in Abgrenzung zu anderen Religionen formuliert, die als falsch oder als defizitär gegenüber dem eigenen, einzig wahren Heilsweg angesehen wurden. Grund dafür war ein exklusiver Christozentrismus, der den universalen Heilswillen Gottes allein und unüberbietbar in Jesus Christus offenbart bzw. inkarniert sah. Dieser Christozentrismus kann überwunden werden durch die stärkere Gewichtung einer trinitarischen Theologie, die den Schöpfungsglauben und die göttliche Geistkraft wieder stärker ins Zentrum des christlichen Glaubens rückt. Sowohl die Schöpfungstheologie wie die Geisttheologie verweisen auf Gott als universale Kraft. Gottes Schöpfung umfasst alle Geschöpfe, alle Kulturen und Religionen; seine Schöpfungskraft ist in all seinen Geschöpfen gegenwärtig. Vor diesem Gott, von dem wir glauben, dass er/sie umfassende Liebe ist, sind wir Menschen alle gleich – auch in unserer kulturellen und religiösen Vielfalt und Verschiedenheit. Auch eine Geisttheologie, die das Wirken des göttlichen Geistes in der ganzen Welt am Werke sieht, bietet einen theologischen Ansatz für eine christliche Theologie des Dialogs. Wenn die göttliche Geistkraft allgegenwärtig ist, dann können auch die anderen Religionen davon nicht ausgenommen sein, dann sind auch sie als Wege des Heils und als verschiedene Offenbarungen der göttlichen Wirklichkeit anzuerkennen.

Eine dialogische Theologie versteht christliche Identität als relational: Sie entsteht und ist verortet in Beziehungen zu anderen innerhalb und ausserhalb der eigenen Gemeinschaft. Sie formt sich nicht in Abgrenzung zu anderen Religionen, sondern in Beziehung zu ihnen und im Dialog mit ihnen. Dieses relationale Verständnis von Identität wird auch von vielen feministischen Theologinnen vertreten. So plädiert beispielsweise Manuela Kalsky "für eine offene, fliessende Identität, die sich nicht gegenüber anderen religiösen (...) Weltanschauungen abgrenzt, sondern sich durch sie verwundern und inspirieren lässt bei der gemeinsamen Suche nach der göttlichen Wahrheit. Eine derartig verstandene christliche Identität kann auf die kontrastierende Logik des 'wir und die Anderen' verzichten."[29]

Der Dialog mit anderen Religionen ermöglicht dabei nicht nur, die religiös Anderen kennenzulernen, sie besser zu verstehen und die Welt auch aus ihrer Perspektive sehen zu lernen. Er bietet auch die Chance, auf uns selbst von aussen, aus der Perspektive der Andersgläubigen zu blicken, die eigene Religion also gleichsam im Spiegel anderer Religionen zu sehen und uns dabei neu verstehen zu lernen – die eigene religiöse Identität zu vertiefen und zu erweitern.[30] Eine dialogische Theologie besteht aus der "Dialektik des Bei-sich-Seins der eigenen Tradition, des Aus-sich-Herausgehens in andere Traditionen und der bereicherten, horizonterweiterten Rückkehr in die eigene Tradition"[31]

Eine dialogische Theologie führt nicht nur zu einem respektvollen Miteinander der Religionen, sondern fördert auch das gemeinsame Handeln auf eine Kultur des Friedens und der Gerechtigkeit hin. Religionen sollten nicht gegeneinander, sondern miteinander nach der göttlichen Wahrheit und nach Gerechtigkeit suchen und ihre religiösen Traditionen und spirituellen Ressourcen nutzen für die Förderung eines friedvollen und gerechten Zusammenlebens in einer pluralistischen Welt. ChristInnen und Gläubige anderer Religionen sind heute gefordert, gemeinsam einzutreten gegen jede Form von Rassismus und religiösem Fanatismus, gegen Antisemitismus und Islamfeindlichkeit, gegen Frauenunterdrückung und Fremdenfeindlichkeit und sich einzusetzen für eine Welt, in der alle Menschen ein würdiges und gutes Leben führen können. Religion sollte uns lehren, einen Wettstreit im Guten zu veranstalten statt über Wahrheitsansprüche zu streiten. Oder wie es meine muslimische Kollegin Amira Hafner-Al Jabaji in einem interreligiösen Gespräch sehr schön auf den Punkt gebracht hat: "Theologische Differenzen sind für eine gemeinsame Friedensarbeit irrelevant, wir müssen nicht dasselbe glauben, um miteinander und aneinander gut handeln zu können."[32]

Wenn wir christliche Identität so verstehen, wie ich es dargelegt habe, gibt es keinen Anlass für Identitätsängste. Im Gegenteil: In der Begegnung mit anderen religiösen Erfahrungen göttlicher Gegenwart kann sich der eigene Glaube vertiefen und erweitern, können absolut gesetzte Grenzen zwischen "wir" und "sie" aufgebrochen werden auf das göttliche Geheimnis hin, in dem wir leben und sind und das uns alle umgreift. So dass vielleicht eines Tages gilt, was der persische Sufi-Mystiker Rumi so wunderbar formuliert hat:

"Bisweilen sind wir sichtbar,
bisweilen verborgen,
bisweilen Muslime, Christen oder Juden.
Wir durchlaufen viele Formen,
bis unser Herz Zufluchtsstätte für alle wird."[33]

 

Doris Strahm

 

Fussnoten:

1  Nach Schätzungen praktizieren nur 10 bis 15% der Muslime ihren Glauben tatsächlich. Dies liegt in der Grössenordnung der anderen grossen Religionsgemeinschaften in der Schweiz. Die grosse Mehrheit der in der Schweiz lebenden Muslime sind also rein "nominelle", da sie ihren Glauben nicht institutionell oder regelmässig im Alltag praktizieren. Dies heisst allerdings nicht, dass sie nicht gläubig sind.

2  Jörg Stolz, Judith Könemann, Mallory Schneuwly Purdie, Thomas Englberger, Michael Krüggeler, Religion und Spiritualität in der Ich-Gesellschaft. Vier Gestalten des (Un-)Glaubens, NZN bei TVZ, Zürich 2014.

3  Vgl. ebd.

4  Vgl. Norbert Mette, Identitätsbildung heute – im Modus christlichen Glaubens, in: KatBl 124 (1999), 400.

5  Vgl. dazu Tatjana Schnell, Religiosität und Identität, in: Reinhold Bernhardt; Perry Schmidt-Leukel (Hg.), Multiple religiöse Identität. Aus verschiedenen Traditionen schöpfen, Beiträge zu einer Theologie der Religionen Band 5, TVZ, Zürich 2008, 163f.

6  Karl Gabriel, Pluralisierung und Individualisierung in Gesellschaft, Religion und Kirche, in: Hans J. Münk; Michael Durst (Hg.), Christliche Identität in pluraler Gesellschaft. Reflexionen zu einer Lebensfrage von Theologie und Kirche heute, Freiburg/CH, Paulusverlag, 2005, 35.

7  Vgl. dazu Christoph Bochinger, Multiple religiöse Identität im Westen zwischen Traditionsbezug und Individualisierung, in: Reinhold Bernhardt; Perry Schmidt-Leukel (Hg.), Multiple religiöse Identität, 150-161.

8  Laut Bundesamt für Statistik (BFS) - Strukturerhebung 2011-2013 machen die römisch-katholische Kirche 38,2 %, die Evangelisch-reformierten Landeskirchen 26,9 %, christlich-orientalische und christlich-orthodoxe Kirchen 2,1 % sowie freikirchlich-evangelikale und andere christliche Gemeinschaften ca. 3,5 % der Wohnbevölkerung aus. Quelle Bundesamt für Statistik (BFS) - Strukturerhebung 2011-2013; Neuchâtel 2015.

9  Quelle Bundesamt für Statistik (BFS) - Strukturerhebung 2011-2013; Neuchâtel 2015.

10  Quelle Quelle Bundesamt für Statistik (BFS) - Strukturerhebung 2011-2013; Neuchâtel 2015.

11  Nur in Israel und der Schweiz findet sich ein leichter Überhang an Konflikteinschätzung.

12  Vgl. Gert Pickel, Religiöse Pluralisierung als Bedrohungsszenario?, in: Katajun Amirpur; Wolfram Weisse (Hg.), Religionen, Dialog, Gesellschaft. Analysen zur gegenwärtigen Situation und Impulse für eine dialogische Theologie, Religionen im Dialog Bd. 8, Münster 2015, 24.

13  Vgl. Pickel, Religiöse Pluralisierung als Bedrohungsszenario?, 26ff.

14  Vgl. dazu Kai Hafez & Sabrina Schmidt, Die Wahrnehmung des Islam in Deutschland, Gütersloh 2015.

15  Vgl. Pickel, Religiöse Pluralisierung als Bedrohungsszenario?, 49.

16  Vgl. Gabriel, Pluralisierung und Individualisierung in Gesellschaft, Religion und Kirche, 38.

17  Vgl. Hans J. Münk; Michael Durst (Hg.), Christliche Identität in pluraler Gesellschaft, Freiburg/CH 2005, 11; Christian Danz, Religion und Theologie unter den Bedingungen pluraler Gesellschaften, in: Klaus Dethloff u.a. (Hg.), Orte der Religion im philosophischen Diskurs der Gegenwart, Berlin 2004, 347f.

18  Perry Schmidt-Leukel, Konflikt, Toleranz, Wertschätzung und Transformation. Vier Formen interreligiöser Beziehungen, in: Katajun Amirpur; Wolfram Weisse (Hg.), Religionen, Dialog, Gesellschaft, 132.

19  Vgl. zur Pluralistischen Theologie der Religionen ausführlicher: Reinhold Bernhardt, Ende des Dialogs? Die Begegnung der Religionen und ihre theologische Reflexion, Zürich 2006, 176-205.

20  Perry Schmidt-Leukel, Gott ohne Grenzen. Eine christliche und pluralistische Theologie der Religionen, Gütersloh 2005, 24.

21  SEK Position 8: Wahrheit in Offenheit. Der christliche Glaube und die Religionen, Bern 2007, 24/23.

22  Vgl. Reinhold Bernhardt, Pluralistische Theologie der Religionen, in: Peter Schreiner; Ursula Sieg u.a. (Hg.), Handbuch interreligiöses Lernen, Gütersloh 2005, 176.

23  Vgl. Wahrheit in Offenheit. Der christliche Glaube und die Religionen, 22. Auch im biblischen Verständnis meint Wahrheit nicht primär die Richtigkeit von Aussagen, sondern die Bedeutsamkeit für das Leben. Das hebräische Wort für "Wahrheit" (emet) meint Zuverlässigkeit, Treue, Glaubwürdigkeit, Sich-Verlassen-Können. Gemeint ist also nicht etwas Theoretisches wie bei der philosophischen Wahrheit, sondern etwas, das mit Vertrauen und damit mit Erfahrung zu tun hat.

24  Vgl. dazu Dorothee Sölle, Politische Theologie, Stuttgart 1982, 80-86.

25  Bernhardt, Ende des Dialogs?, 134.

26  Manuela Kalsky, Vielfalt umarmen. Überlegungen zur Transformation christlicher Identität, in: Doris Strahm; Manuela Kalsky (Hg.), Damit es anders wird zwischen uns. Interreligiöser Dialog aus der Sicht von Frauen, Ostfildern 2006, 68.

27  Vgl. Regina Sommer, Art. Identität, Theologisch / evangelisch, in: Elisabeth Gössmann u a. (Hg.), Wörterbuch der Feministischen Theologie, 2. Auflage, Gütersloh 2002, 294.

28  Vgl. Sommer ebd.

29  Manuela Kalsky, Wahrheit in Begegnung. Die Transformation christlicher Identität angesichts kultureller und religiöser Pluralität, in: Christian Identity / Christliche Identität, Forum Mission, Jahrbuch 2/2006, Kriens 2006, 50.

30  Vgl. dazu ausführlicher: Interreligiöser Think-Tank, Leitfaden für den interreligiösen Dialog, Basel, 5. Auflage 2015.

31  Reinhold Bernhardt, Pluralistische Theologie der Religionen, 176.

32  Amira Hafner-Al Jabaji, Eva Pruschy, Doris Strahm, Das gute Leben für alle – ethischer Horizont für den interreligiösen Dialog? Ein Gespräch, in: Doris Strahm; Manuela Kalsky (Hg.), Damit es anders wird zwischen uns, 134-155.

33  Die schönsten Gedichte aus dem klassischen Persien, von Ḥāfiẓ, Ǧalāl-ad-Dīn Rūmī, Umar Ḫaiyām, München 1998, 62.

 

 

© Doris Strahm 2016