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Damit es anders wird zwischen uns

 

Die Schweiz hat sich in den letzten Jahrzehnten von einer christlich geprägten zu einer religiös pluralistischen Gesellschaft gewandelt. Diese Vielfalt anzuerkennen und positiv zu werten, fällt nicht allen leicht. Sie löst bei einigen Menschen Verunsicherungen und Ängste vor den "Anderen" aus und führt zu gesellschaftlichen Konflikten. Diese werden aber auch von politischen Kreisen geschürt, wie die Anti-Minarett-Abstimmung gezeigt hat und aktuell politische Vorstösse zu einem Kopftuch- und einem Burkaverbot zeigen.

 

Seit einigen Jahren dient nicht mehr die "fremde" Kultur, sondern die "fremde" Religion der Abwehr und Ausgrenzung von "Fremden". Angesichts dieser Situation wird die Frage immer wichtiger, wie das Zusammenleben in religiös pluralistischen Gesellschaften positiv gestaltet werden kann. Neben der politischen und rechtlichen Gleichbehandlung aller Religionsgemeinschaften, die es zu verwirklichen gilt, sind es vor allem Lernprozesse der so genannten Mehrheitsgesellschaft, die dafür Voraussetzung sind.

 

Vor-Urteile erkennen und abbauen

Ein erster Schritt ist, so banal es tönen mag, die "Anderen" kennen zu lernen. So sind die Ängste vieler Menschen beispielsweise gegenüber dem Islam zum grössten Teil von Vorurteilen und Klischees genährt. Seit dem 11. September 2001 stehen Muslime in Europa als potenzielle Terroristen unter Generalverdacht, und der Islam wird pauschal als gewalttätige Religion angesehen. Dazu tragen ganz entscheidend die Medien bei: Diese prägen unsere Bilder und Vorstellungen vom Islam und den MuslimInnen. Denn die meisten SchweizerInnen haben keinen direkten Kontakt zur muslimischen Bevölkerung und machen sich ihr Bild vom Islam aufgrund der Medienberichterstattung. Die Massenmedien berichten aber generell fast nur über "Sensationen", Konflikte und Probleme und nicht über den Alltag oder die Normalität. Terrorismus, Verschleierung und Unterdrückung der Frauen, Ehrenmorde, Zwangsehen: Dies sind die Themen, unter denen der Islam in den Medien erscheint und die diesen als rückständige, gewalttätige und frauenfeindliche Religion erscheinen lassen.

Auffällig in den Islam-Debatten ist, dass meist Frauenrechte bzw. die Gleichstellung der Geschlechter als Massstab für die Verträglichkeit mit unserer demokratisch-säkularen Gesellschaft ins Feld geführt wird, und dies insbesondere von rechtsbürgerlichen Kreisen, denen Frauenrechte bisher kein Anliegen waren. Mit anderen Worten: Die Frauenfrage wird bewusst aufgegriffen, um Emotionen gegen die "fremde" Religion Islam und die MuslimInnen zu schüren. Mit dem Islam werden eine Reihe von kulturellen Praktiken verknüpft, die Frauen betreffen und zu verurteilen sind, aber mit dem Islam als Religion nichts zu tun haben wie Zwangsheiraten, Genitalverstümmelung und Ehrenmorde.

Gegen solche Vorurteile und Desinformationen hilft nur eins: mehr Wissen über den Islam und konkrete Begegnungen mit MuslimInnen, um diese Urteile überhaupt als Vor-Urteile zu erkennen und sie abzubauen. Der direkte Kontakt und die Begegnungen mit Andersgläubigen werden meist als persönliche Bereicherung erfahren. Die Sicht von Menschen anderer religiöser Zugehörigkeit zu kennen – ihre Vorstellungen vom Leben und ihre Träume –, Einblicke zu erhalten in ihre religiösen Traditionen, in die Vielfalt ihrer Lebensweisen und Alltagsgestaltung, hilft nicht nur, Misstrauen und Ängste abzubauen. Die Begegnungen machen auch bewusst, dass Menschen anderer Religionszugehörigkeit – wie wir auch – nicht allein durch ihre Religion geprägt sind und ihre Biografien so vielfältig und unterschiedlich sind wie unsere.

 

Mit Unterschieden produktiv umgehen

Auf die Unterschiede kommt es an! Damit ist gemeint, dass wir lernen sollten, die Anderen nicht nur in dem zu achten, womit sie mit uns übereinstimmen, sondern auch in ihrer Besonderheit, die sich von unserem Eigenen unterscheidet. Denn normalerweise begegnen wir Anderen, Fremden mit den eigenen Weltbildern und Wertvorstellungen. Und dies führt dann meist dazu, dass wir versuchen, das uns Fremde bzw. die Unterschiede entweder durch Vereinnahmung oder durch Ausgrenzung zum Verschwinden zu bringen. Differenzverträglichkeit, die Fähigkeit, Unterschiede nicht überwinden zu wollen, sondern sie auszuhalten und zu respektieren, bildet deshalb eine der Kernkompetenzen in der Begegnung mit religiöser Vielfalt. Es geht darum zu lernen, religiöse und kulturelle Unterschiede nicht als Bedrohung des Eigenen zu sehen, sondern diese Vielfalt als Bereicherung und als Erweiterung des eigenen Horizonts zu erkennen. Denn sie öffnet uns die Augen für die vielfältigen und unterschiedlichen Facetten der menschlichen und der göttlichen Wirklichkeit.

 

Dialog der Religionen

Um eine solche offene Begegnung in gegenseitigem Respekt geht es im interreligiösen Dialog. Dieser umfasst verschiedene Ebenen wie z.B. den institutionellen Dialog zwischen Gremien, den theologischen Dialog über Glaubensfragen, den Dialog des Lebens im Alltag der Menschen sowie den ethischen Dialog im gemeinsamen Handeln auf eine Kultur des Friedens und der Gerechtigkeit hin. Immer aber meint Dialog eine bestimmte Form der Verständigung und der Begegnung: eine wechselseitige Kommunikation, die aus einer Grundhaltung der radikalen Anerkennung der Anderen hervorgeht, ihrer Wertschätzung als prinzipiell gleichberechtigtes und gleichwertiges Du.

Mit dem Dialog ist auch eine bestimmte Art des Verstehens verbunden: Es geht darum, die Anderen so zu verstehen, wie sie sich selbst verstehen; einen Perspektivenwechsel vorzunehmen und mit den Augen der Anderen sehen zu lernen. Ein Beispiel: Um den Koran zu verstehen, sollten wir nicht von aussen, mit dem Blick der historisch-kritischen Methode der christlichen Bibelauslegung auf den Koran schauen, sondern versuchen, den Koran und seinen Stellenwert im Islam so zu verstehen, wie dies muslimische Gläubige tun. "Der Koran ist im Islam das, was – sehr vereinfacht ausgedrückt – Jesus im Christentum ist: Beide sind Wort Gottes – Fleisch geworden der eine, Rede geworden der andere. Der Koran ist also sozusagen die 'Inverbation' Gottes im Unterschied zur 'Inkarnation' Gottes in Jesus Christus."[1]

Es geht im Dialog aber auch darum, das Eigene mit den Augen der Anderen neu zu sehen. Oder wie der jüdische Philosoph Emmanuel Lévinas meint: Es geht darum, sich selbst durch den Anderen kennen zu lernen. Der Dialog der Religionen bietet die Chance, die eigene Religion im Spiegel anderer Religionen zu sehen und neu verstehen zu lernen.

Dabei ist zu beachten, dass Religionen keine monolithischen Blöcke sind. Es gibt weder die Juden noch die Christen noch die Muslime. Es gilt also nicht nur die interreligiöse Diversität anzuerkennen, sondern ebenso die innerreligiöse und bei interreligiösen Begegnungen die Vielfalt an Strömungen innerhalb aller beteiligter Religionen bewusst zu machen. Und es gilt der Gefahr der "Identitätsfalle" (Amartya Sen) entgegenzuwirken und die interreligiösen AkteurInnen nicht einzig auf ihre religiöse Identität zu reduzieren.

 

Kein herrschaftsfreier Diskurs

Was im interreligiösen Dialog häufig übersehen wird, ist der gesellschaftliche Kontext, in dem dieser stattfindet. Dieser Kontext ist von strukturellen Asymmetrien geprägt: Es gibt ein Machtgefälle zwischen ChristInnen als Angehörige der Mehrheitsgesellschaft und -religion und Juden/Jüdinnen, MuslimInnen, BuddhistInnen, HinduistInnen usw. als einer – auch religiös – benachteiligten Minderheit. Diese Asymmetrie hat Auswirkungen auf die DialogteilnehmerInnen und ist häufig die unbewusste Ursache von interreligiösen Konflikten: So sind sich Angehörige der Mehrheitsgesellschaft meist nicht im Klaren, dass sie im Dialog die Definitionsmacht beanspruchen und die Norm setzen, an der die Anderen gemessen werden. Umgekehrt werden Angehörige religiöser Minderheiten häufig in die Position gedrängt, ihre Glaubensvorstellungen erklären und verteidigen zu müssen, was dazu führen kann, dass sie die eigene Religion idealisieren. Zudem ist die christliche Seite meist von theologischen Fachleuten vertreten, auf der Seite der religiösen Minderheiten sind es dagegen oft Laien und Laiinnen. Auch dieses Gefälle ist einem Dialog auf Augenhöhe nicht förderlich. DialogveranstalterInnen sollten daher versuchen, diesen Asymmetrien in der Dialoganlage möglichst entgegenzuwirken.[2]

 

Vielfältige christliche Identität

Ein Dialog, der auf radikalem Respekt vor dem Gegenüber und seinen religiösen Überzeugungen beruht, der sich einlässt auf die Begegnung mit den Schätzen anderer Glaubenstraditionen, kann auch zu einer Veränderung der eigenen religiösen Identität führen. Er schliesst die Möglichkeit ein, dass die mitgebrachten Gewissheiten in Frage gestellt werden, sich verändern und erweitern, so dass nicht nur die fremden Traditionen, sondern auch die eigenen in einem anderen Licht erscheinen. Dies kann als Erweiterung des eigenen Glaubens erfahren werden oder aber als Gefährdung seiner "Reinheit", als Gefährdung der eigenen christlichen Identität.

Ängste vor letzterem wurzeln in der Auffassung, dass es so etwas wie einen reinen, geschichtslosen Wesenskern des christlichen Glaubens gibt. Doch dies war nie der Fall: Christliche Identität ist von Anfang an pluralistisch gewesen und im Austausch und in der Auseinandersetzung mit dem jeweiligen kulturellen Kontext gebildet worden, wie ein Blick ins Neue Testament zeigt. Am Anfang des Christentums stand keine einheitliche christliche Identität, sondern eine Vielfalt von Christuszeugnissen. Und dieser Prozess hat sich fortgesetzt: Es gab nie eine einzige christliche Identität. Diese hat sich in jeder neuen Zeit und Kultur neu ausgeprägt: im Rückbezug auf den biblischen Jesus von Nazaret und seine Botschaft und in Relation zu anderen Überzeugungen des jeweiligen Kontexts.

 

Offenheit für andere religiöse Wege

Wenn sich christliche Identität theologisch als Prozess der immer neuen Orientierung an Jesus als dem Christus formt, an seiner Gottes- und Menschenbeziehung, wie sie in seiner Reich-Gottes-Verkündigung und -Praxis zum Ausdruck kommt, dann vollzieht sie sich vor allem auf dem Weg der Nachfolge – und zwar unter den kontextuellen Bedingungen der eigenen Zeit. Nicht die religiöse Selbstbehauptung durch absolute Wahrheitsansprüche ("Jesus Christus ist der einzige Weg zum Heil"), kann dann beanspruchen, Kennzeichen wahrer Christlichkeit sein, sondern die christliche Praxis: "An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen."

Es ginge so gesehen für ChristInnen dann nicht darum, die Exklusivität Jesu Christi gegenüber anderen Heilsgestalten und religiösen Heilswegen zu behaupten, sondern darum, durch ihren Glaubensvollzug und ihre soziale Praxis aufzuzeigen, dass seine befreiende Botschaft vom Gottesreich, seine Lebenspraxis und die darin erfahrbar gewordene Gegenwart Gottes für sie von bleibender Gültigkeit ist. Eine solcherart verstandene christliche Identität bietet keinen Boden für Identitätsängste. Sie sieht in der Begegnung mit anderen Glaubenswegen vielmehr eine Bereicherung: In der Begegnung mit anderen religiösen Erfahrungen göttlicher Gegenwart kann sich der eigene Glaube vertiefen und erweitern, können absolut gesetzte oder erstarrte theologische Interpretationsmuster aufgebrochen werden auf das "göttliche Geheimnis hin, in dem wir leben und sind" (Ivone Gebara).

 

Frauen im interreligiösen Dialog

Während die institutionellen Religionsdialoge mehrheitlich von Männern dominiert sind, gibt es weltweit viele Dialogprojekte von Frauen, die aber noch wenig zur Kenntnis genommen werden. In diesen geschieht oft ein "Dialog des Lebens", in dem es nicht in erster Linie um Debatten unterschiedlicher theologischer Konzepte geht, sondern um den Prozess des Dialogs selbst und das Kennenlernen anderer religiöser Traditionen. Wichtig sind aber auch persönliche Begegnungen und Beziehungen, der Austausch über praktischen Themen des Alltags und das Teilen des gelebten Glaubens.

Dies hat auch damit zu tun, dass Frauen im interreligiösen Dialog selten Repräsentationsrollen einnehmen, da in allen Religionsgemeinschaften religiöse Autorität und Leitungsämter mehrheitlich in den Händen von Männern liegen. Frauen sind daher oft freier, ihre eigene Meinung zu vertreten, und brauchen nicht die Interessen ihrer Religionsgemeinschaft gegenüber den Dialogpartnerinnen zu vertreten. Die Tatsache, dass in allen Religionsgemeinschaften Frauen an den Rand gedrängt werden und Männer die Definitionsmacht innehaben, führt auch dazu, dass viele Frauen einen kritischen Blick auf die eigene religiöse Tradition haben und diese nicht von vornherein als die bessere Religion verteidigen müssen. Ein Schlüsselwort in den interreligiösen Dialogen von Frauen ist daher Veränderung: Veränderung der patriarchalen religiösen Traditionen und Strukturen. Frauen eignen sich die Definitionsmacht an, lesen die Heiligen Schriften mit ihren Augen und suchen nach den befreienden Elementen in ihren religiösen Traditionen, um die patriarchalen Strukturen zu transformieren.[3]

 

Eine gemeinsame befreiende Praxis

Viele im Dialog engagierte Frauen legen das Gewicht stärker auf ethische als auf dogmatische Fragen. Es geht ihnen nicht nur um eine Veränderung der negativen, Ausschluss und Gewalt fördernden Strukturen religiöser Traditionen, sondern um die Gestaltung eines gesellschaftlichen Zusammenlebens, in dem alle Religionen gleichberechtigt sind, Männer und Frauen respektvoll miteinander umgehen und in dem Platz ist für religiöse und kulturelle Vielfalt und viele unterschiedliche Identitäten.

Angesichts des zunehmenden Fundamentalismus in allen Religionsgemeinschaften, der bekanntermassen mit Geschlechterkonservatismus und patriarchaler Beschneidung der Freiheit und Selbstbestimmung von Frauen einhergeht, wäre ein gemeinsames Handeln von Frauen unterschiedlicher Religionszugehörigkeit im Kampf gegen patriarchale Strukturen und Traditionen besonders wichtig. Frauen hätten viele gemeinsame Ziele: ein Ende der Ungleichheit und der Gewalt gegen Frauen, Zugang zu Ressourcen und Macht, ein gleichberechtigter Platz sowie Interpretations- und Definitionsmacht in ihren Religionsgemeinschaften.

Ein ethisch motivierter interreligiöser Dialog will also nicht nur der Verständigung mit den Anderen dienen, sondern einer gemeinsamen befreienden Praxis: Wir müssen nicht dasselbe glauben, um miteinander und aneinander gut handeln zu können (Amira Hafner-Al Jabaji). Interreligiöser Dialog ist so gesehen ein gesellschaftliches Projekt, das die radikale Anerkennung der "Anderen", religiöse Vielfalt und ein gerechtes und respektvolles Zusammenleben fördern will: "Damit es anders wird zwischen uns."

 

Doris Strahm

 

Fussnoten:

1  Interreligiöser Think-Tank, Leitfaden für den interreligiösen Dialog, Basel 22014, 40.

2  Dazu ausführlicher: Leitfaden für den interreligiösen Dialog, 32-38.

3  Dazu ausführlicher Doris Strahm/Manuela Kalsky (Hg.), Damit es anders wird zwischen uns. Interreligiöser Dialog aus der Sicht von Frauen, Ostfildern 2006.

 

 

© Doris Strahm 2014