Text in PDF-Format öffnen

Feministische Nachlese zur Minarettabstimmung in der Schweiz

 

Der 29. November 2009 war ein Schwarzer Sonntag für die Schweiz: 57.5 Prozent der Abstimmenden haben der von rechtsbürgerlichen Kreisen lancierten Volksinitiative "Gegen den Bau von Minaretten" zugestimmt. Gemessen am Total der Schweizer Stimmberechtigten waren dies ungefähr 30 Prozent. Mit demokratischen Mitteln hat eine Mehrheit eine (religiöse) Minderheit diskriminiert und in ihren Grundrechten eingeschränkt. Dies war ein Schock, den die Schweizer Gesellschaft noch nicht verarbeitet hat und der grundlegende Debatten über die Spannung zwischen Volksrechten und Rechtsstaat ausgelöst hat.

Bundesrat und Parlament hatten die Verfassungsinitiative zwar für gültig erklärt, da sie nicht gegen zwingendes Völkerrecht verstosse, sie aber zur Ablehnung empfohlen, da sie Grundrechte unserer Verfassung wie das Recht auf Religionsfreiheit und das Diskriminierungsverbot verletze. Bundesrat sowie linke, grüne und bürgerliche Parteien, Gewerkschaften, Wirtschaftsverbände, kirchliche und interreligiöse Kreise, Feministinnen, Intellektuelle und Integrationsfachleute – sie alle gingen deshalb davon aus, dass die Anti-Minarettinitiative abgelehnt würde. Gestützt wurde diese Annahme durch Umfrageergebnisse im Vorfeld der Abstimmung.

 

Wie konnte es soweit kommen?

Das haben sich die GegnerInnen der Anti-Minarettinitiative nach der Abstimmung verwundert gefragt. Worüber haben die Ja-Stimmenden eigentlich abgestimmt? Die Initiative zielte im Wortlaut ja auf ein Verbot des Baus von Minaretten, von denen es in der Schweiz gerade mal vier gibt. Die Angst, in der Schweiz würden die Kirchtürme durch Minarette verdrängt, konnte es also nicht sein, welche das Initiativkomitee und die rechtspopulistische Eidgenössische Demokratische Union der Schweiz (EDU) und später dann die SVP zum Abstimmungskampf gegen Minarette motivierte.

Die Initiative zum Verbot von Minaretten stand vielmehr in einer langen Tradition fremdenfeindlicher Initiativen rechter Kreise, die der "Überfremdung" der Schweiz Einhalt gebieten wollten. Früher waren es die Südeuropäer, die angeblich die schweizerische Kultur bedrohten, jetzt die Muslime bzw. "der" Islam, die zur Bedrohung der schweizerischen Werte erklärt werden. Neu ist nur, dass die Migrations- und Ausländerpolitik nicht mehr über die "fremde Kultur", sondern über die "fremde Religion" Islam betrieben wird. In einer Politik des Ausschlusses wird ein christlich-abendländisches "Wir" konstruiert und zugleich ein muslimisches "Ihr" definiert, um dieses von der Wir-Gemeinschaft auszuschliessen. Neu ist auch, dass eine explizit fremdenfeindliche Initiative von den StimmbürgerInnen angenommen wurde.

Die rechtspopulistische SVP und EDU, die seit Jahren eine restriktive und fremdenfeindliche Ausländerpolitik betreiben, haben diesmal ganze Arbeit geleistet: Mit einer diffamierenden und islamfeindlichen Kampagne gegen die mehrheitlich gut integrierten MuslimInnen in der Schweiz, die knapp 5% der Bevölkerung ausmachen, haben sie gezielt Stimmung gemacht gegen eine religiöse Minderheit in unserem Land. Am Symbol des Minaretts haben sie eine Reihe von Themen verhandelt, die in der Schweizer Bevölkerung Ängste wecken, die mit dem Minarett jedoch nichts zu tun haben: islamistischer Terror, Zwangsheiraten, Genitalverstümmelung, Ehrenmorde, Burka. Die Initianten gaben im Verlauf der Kampagne offen zu, dass es ihnen nicht um die Minarette ging, sondern um den Islam als Ganzes: Mit dem Minarettverbot sollte der "schleichenden Islamisierung" ein Riegel geschoben werden. Dabei wurde das Bild der Muslime in der Schweiz dementsprechend negativ typisiert, wie eine aktuelle Studie zur öffentlichen Debatte der Minarettinitiative zeigt.[1] Meinungen seien einfach zu Fakten gemacht worden.

 

Unrühmliche Rolle der Medien

Auch in den Medienberichten haben Pauschalisierungen überwogen, wie die erwähnte Studie zeigt. So wurde kaum eine Unterscheidung zwischen islamistischen Gruppierungen und der muslimischen Minderheit in der Schweiz gemacht, sondern es war generalisierend vom "Islam" und von "den Muslimen" die Rede. Viele Beiträge hätten das Verhältnis zwischen der schweizerischen Mehrheit und der muslimischen Minderheit in mehrfacher Hinsicht als problematisch beschrieben: Muslime wurden nicht nur unter Generalverdacht gestellt, bedrohlich und unaufgeklärt zu sein, sondern sie wurden auch als mangelhaft integriert dargestellt – ohne dass diese dargestellten "Gefahren" von den Medien recherchiert, d.h. mit Fakten untermauert worden wären. Generell seien die Medien schwach gewesen im "Hinterfragen" von als Fakten ausgegebenen Klischees und Vorurteilen.

Ein weiteres Resultat der erwähnten Studie zeigt, dass AkteurInnen wie Parteien, Wirtschaftsverbände, kirchliche Kreise in der medialen Berichterstattung untervertreten gewesen sind. 3/4 der öffentlichen Resonanz sei zugunsten der Befürworter der Initiative ausgefallen, in nur 1/4 der Berichterstattung seien die GegnerInnen zu Wort gekommen.

Allerdings haben sich gerade Parteien und Wirtschaftsverbände viel zu wenig stark engagiert, da sie die Initiative als chancenlos einstuften. Zudem haben die GegnerInnen den Stereotypen der Initianten über den Islam kaum je widersprochen, sondern die Abstimmung als Verletzung der Religionsfreiheit und der Minderheitenrechte kritisiert.

 

Wer hat Ja gestimmt und was waren die Motive?

Nach den ersten Mutmassungen und Erklärungsversuchen liegt nun eine Analyse des Instituts für Politikwissenschaft der Universität Bern vor. Die am 25. Januar veröffentlichte VOX-Analyse[2] zeigt: Die Initiative wurde von Linken mit über 80 Prozent abgelehnt, während die Rechte ihr fast ebenso deutlich zustimmte. Das Zünglein an der Waage spielte das Ja der politischen Mitte: 54% der CVP-AnhängerInnen und 60% der FDP-AnhängerInnen stimmten der Initiative zu, obwohl ihre Parteien die Nein-Parole ausgegeben hatten.

Ähnlich erging es den Kirchen: Auch sie fanden mit ihrer Nein-Parole bei ihrer Basis kaum Gehör: 59% KatholikInnen und 61% Reformierte stimmten Ja.

Wenig Unterschiede gab es im Abstimmungsverhalten nach Geschlecht bei den über 50-Jährigen (62% Ja-Stimmen bei den Frauen und 59% bei den Männern). Bei den unter 50-jährigen Frauen dagegen war der Unterschied signifikant: 60% Ja-Stimmen der Frauen gegenüber 46% bei den Männern.

Die von den Medien nach der Abstimmung verbreitete Mär, linke feministische Frauen hätten für das Minarett-Verbot gestimmt, hat sich dagegen als falsch erwiesen: nur 16% der linken Frauen stimmten Ja, weniger als ihre linken Genossen (21%). Eine deutliche Zustimmung zum Minarettverbot gab es dagegen im Lager der politisch rechts stehenden Frauen: Mit 87% haben diese die Initiative deutlicher angenommen als rechte Männer (71%).

Interessant, aber auch verwirrend sind die Motive für das Ja: Laut der VOX-Analyse wollten die Befürworter der Minarettverbots-Initiative ein symbolisches Zeichen gegen die Ausbreitung des Islams in der Schweiz setzen; nur 15% aber gaben als Motiv konkrete Kritik an den in der Schweiz lebenden MuslimInnen an. Als generelle Ablehnung der in der Schweiz lebenden MuslimInnen dürfe das Abstimmungsresultat also nicht interpretiert werden, heisst es in der VOX-Analyse. So habe eine Mehrheit von 64% erklärt, dass sich die schweizerische und islamische Lebensweise gut vertragen würden. Auf das Stimmverhalten wirkte sich diese positive Einschätzung allerdings überhaupt nicht aus. Die Hälfte jener, die von einer sehr guten Verträglichkeit ausgehen, stimmten trotzdem Ja, wie auch rund 40% jener StimmbürgerInnen, die für eine weltoffene und moderne Schweiz einstehen. Was soll man daraus schliessen? Dass das Feinbild Islam bestens ohne die real existierenden MuslimInnen hierzulande funktioniert? Dass die muslimische Gemeinschaft akzeptiert ist, ihre Religion aber abzulehnen ist? Die VOX-Analyse wirft auf jeden Fall viele neue Fragen auf.

Eine weitere Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Demoscope, die Mitte Februar veröffentlicht wurde,[3] zeigt, dass es vor allem Frauenthemen waren, d.h. die Rolle der Frau im Islam und Fragen rund um Burka und Kopftuch, die bei der Minarett-Abstimmung den Ausschlag gaben. Sie wurden bei den Befragten am häufigsten als Grund dafür genannt, dass die Initiative angenommen wurde. Die Initianten hatten diese Themen gezielt im Abstimmungskampf eingesetzt.

 

Instrumentalisierung der Frauen- und Geschlechterfrage im Abstimmungskampf

Die SVP sowie Teile der Massenmedien haben schon seit längerer Zeit die Gleichung aufgestellt: Islam = gewalttätig = frauenunterdrückend. Diese Gleichsetzung von Islam und Frauenunterdrückung wurde gegen Ende der Abstimmungskampagne von den Initianten der Anti-Minarett-Initiative dann immer offensiver ins Zentrum gerückt. So wurde mit dem Symbol des Minaretts explizit eine Reihe von zu verurteilenden kulturellen Praktiken verknüpft, die Frauen betreffen, aber mit dem Islam als Religion im Allgemeinen und mit Minaretten im Speziellen rein gar nichts zu tun haben wie Zwangsheiraten, Genitalverstümmelung, Ehrenmorde. Alle diese frauenfeindlichen kulturellen Bräuche gibt es zudem ebenso in christlichen Gesellschaften. Mit dem unsäglichen Abstimmungsplakat der Initianten wurde die Verknüpfung Islam – Frauenunterdrückung dann vollends ins Bild gesetzt: eine schwarz verhüllte Frau, in eine Art Burka gekleidet, und hinter ihr Minarette auf einer Schweizer Flagge, die wie Raketen in den Himmel ragen.

Besonders perfid an der ganzen Sache: Männer jener Partei, die ein rückständiges Frauenbild propagiert und seit Jahren jedes gleichstellungspolitische Postulat in der Schweiz bekämpft, haben sich die Befreiung der "armen, unterdrückten Musliminnen" auf die Fahnen geschrieben. Die Abstimmung über den Bau von Moscheetürmen mutierte so zum Kampf gegen die Unterdrückung von Frauen. Die "bedrohte muslimische Frau" wurde zur Propagandafigur einer rechtspopulistischen fremdenfeindlichen Politik; die alltägliche Gewalt gegen Frauen in unserer Gesellschaft, die von Männern jedwelcher Couleur, Kultur, Religion, sozialer Schicht etc. verübt wird, wurde bei einer Minderheit quasi "entsorgt", die im Abstimmungskampf als machohaft und frauenfeindlich karikiert wurde. Gezielt wurde die Angst geschürt, die "fremde" Religion Islam bedrohe die Demokratie, die mühsam errungene Gleichberechtigung der Geschlechter und die Frauenrechte.

 

Der Beitrag von Frauen zum Abstimmungsergebnis

Die Initianten haben mit ihrer Taktik der Instrumentalisierung der Frauenfragen offenbar auch bei einem Teil der Frauen Erfolg gehabt. Wie die VOX-Analyse[4] zeigt, haben Frauen der bürgerlichen Mitte und vor allem politisch rechts stehende Frauen Ja gestimmt, während  linke feministische Frauen am deutlichsten ablehnten. Welchen Beitrag die bekannte Schweizer Buchautorin und Psychotherapeutin Julia Onken zu diesem rechten Frauen-Ja geleistet hat, ist schwer abzuschätzen. Diese hat im Vorfeld der Abstimmung an 4000 Frauen E-Mails verschickt, in denen sie die Frauen aufrief, für ein Minarett-Verbot zu stimmen. Moscheen seien Männerhäuser, Minarette männliche Machtsymbole. Mit dem Bau von Minaretten würde gleichzeitig ein sichtbares Zeichen für die staatliche Akzeptanz der Unterdrückung der Frau gesetzt. In dieser Logik müssten auch Kirchtürme verboten werden, zumal katholische, da die römisch-katholische Amtskirche bis heute eine patriarchal strukturierte Männerbastion ist, Frauen diskriminiert, eine restriktive Sexualmoral verkündet und ein konservatives Frauenbild vertritt.

Doch um Logik und logische Argumente ging es in dieser Abstimmung nicht. Es ging offenbar um diffuse Ängste, um das "weibliche Unbehagen in Sachen Islam", wie Onken in einem Interview des Tages-Anzeigers vom 1. Dezember im Hinblick auf das Abstimmungs-Ja anmerkte. In dieser Abstimmung hätten die Leute – anonym – ihren Frust ausgedrückt. Frust über was und gegen wen?, fragt man sich da. Über die (männlichen) Abzocker in den Chef-Etagen? Über den Sozialabbau in unserer Gesellschaft, der vor allem Frauen trifft? Über ungleiche Löhne von Männern und Frauen? Über die alltägliche Gewalt gegen Frauen? Über die frauenfeindlichen Aspekte der eigenen Religion?

 

Im Namen welchen Feminismus?

In den Medien wurde Julia Onkens Pamphlet über die Unterdrückung der Frauen im Islam, die durch Minarette zementiert würde, kurz vor der Abstimmung breit aufgegriffen. Ihre Befürwortung der Minarettverbots-Initiative wurde der Bevölkerung als die feministische Position verkauft, während die anderen feministischen Stimmen, die das "Islambashing" nicht bedienten und sich gegen die Initiative engagierten, in den Medien kaum Gehör fanden.

So hatte zum Beispiel der Interreligiöse Think-Tank, ein institutionell unabhängiger Zusammenschluss von Exponentinnen des interreligiösen Dialogs in der Schweiz, zu dessen Gründerinnen ich selber gehöre, bereits drei Wochen vor der Abstimmung ein "Argumentarium" mit 16 Gründen für ein NEIN an alle Medien verschickt und darin unter anderem die Instrumentalisierung der Frauenfrage durch die Initianten kritisiert.[5] Ebenso hatten wir im Begleit-Mail unsere Besorgnis formuliert, dass es bei der Abstimmung eng werden könne, da statt Argumenten zunehmend Emotionen die Oberhand gewännen. Keine einzige Zeitung hat das Argumentarium aufgegriffen: Offenbar waren differenzierte Argumente von interreligiös engagierten Frauen nicht gefragt.

Dass Julia Onkens Position keineswegs repräsentativ für die Feministinnen der Schweiz war, zeigte die grosse Resonanz, die wir mit unserem "Offenen Brief an Julia Onken"[6] bei Frauen und Frauenorganisationen erzielten. Wir kritisierten darin u.a., dass sie mit ihrem diffamierenden Angriff auf die muslimischen Gemeinschaften in der Schweiz, die seit Jahren Teil unserer demokratischen Gesellschaft sind und unsere Rechtsordnung respektieren, gerade den muslimischen Frauen einen Bärendienst erweise. Diffamierende Angriffe und Ausgrenzungen bewirken nämlich nur einen Rückzug aus der Gesellschaft, eine stärkere Rückbesinnung auf konservative Positionen und Geschlechterrollen oder geben gar den frauenfeindlichen Kreisen unter den Muslimen Auftrieb, schaden also den muslimischen Frauen statt dass sie ihnen nützen. Das könne ja wohl nicht das Ziel von Feministinnen sein – jedenfalls nicht jenes Feminismus, wie wir ihn und viele andere Feministinnen in der Schweiz vertreten.

Diesem geht es um die Selbstbestimmung von Frauen, was auch heisst: dass die anderen Frauen nicht nur undifferenziert und einheitlich als Opfer wahrgenommen werden, sondern als Subjekte mit einer eigenen Stimme und dass mit ihnen zusammen nach Lösungen für ihre Anliegen gesucht wird. Besser zu wissen, was für muslimische Frauen gut ist, als die Musliminnen selbst, ist unseres Erachtens nicht feministisch, sondern ein (neo-)kolonialer Gestus.

Frauen, Frauenorganisationen sowie linke feministische Kreise haben den "Offenen Brief an Julia Onken" durch Mails weit verbreitet und zum Teil ihren Mitgliedern mit der Abstimmungsempfehlung verschickt – so z.B. die FemCo (Feministische Koalition der Schweiz). Auch kirchliche Frauenverbände wie die Evangelischen Frauen der Schweiz, die IG Frauenkirche und die IG Feministischer Theologinnen unterstützten und verbreiteten unseren "Offenen Brief an Julia Onken". Doch jene Breitenwirkung, welche Julia Onken dank der Unterstützung durch die Massenmedien bzw. deren Berichte erhalten hat, konnten wir leider nicht erzielen.

 

Selbstidealisierungen und koloniale Muster

Julia Onken und ihre Gesinnungsschwestern haben nicht nur rechtspopulistischen Politikern in die Hände gespielt. Sie haben auch ein altes Muster neu aufgelegt: die Gegenüberstellung der islamisch unterdrückten und der westlich emanzipierten Frau, die fester Bestandteil einer jahrhundertelangen europäisch-kolonialen Sicht auf die islamische Welt war. Mit dieser "Selbstidealisierung" (Birgit Rommelspacher) westlicher Frauen lassen sich die Gewalt gegen Frauen in der eigenen Kultur und die eigenen Defizite in Sachen Gleichstellung von Mann und Frau leichter verdrängen, und die "westliche Frau" kann sich in der Entgegensetzung zur unterdrückten "muslimischen Frau" in ihrer Selbstwahrnehmung als befreite und emanzipierte Frau bestärken.[7] Die eigene Stellung wird überhöht, indem die "arme" Muslimin nur als Opfer böser islamischer Männermacht wahrgenommen und medial als solches inszeniert wird. Fast täglich werden in den Medien Einzelfälle herangezogen, aneinandergereiht und hochstilisiert, um den Eindruck zu vermitteln, der Islam sei nichts anderes als eine Religion der Gewalt und der Frauenunterdrückung. Die eigene Kultur und die eigene Religion werden dabei in neokolonialer Manier als aufgeklärt und ethisch überlegen konstruiert.

Das war auch in der Minarett-Debatte zu beobachten: Von den BefürworterInnen wurde nicht nur ein monolithisches Bild von dem Christentum und dem Islam gezeichnet, die es so nicht gibt und nie gegeben hat, sondern die eigene, christliche Religion wurde als frauenfreundlich idealisiert. Mit anderen Worten: Die positivsten Traditionen der eigenen Religion wurden gegen die radikalen Auswüchse der anderen Religion ins Feld geführt, und die Tatsache, dass die Emanzipation und politische Gleichberechtigung der Schweizer Frauen u.a. gegen die patriarchalen Frauenbilder der Kirche erkämpft werden mussten, wurde geflissentlich übergangen.

Dass es gerade die Frauen- und Geschlechterfrage war, die in der Auseinandersetzung mit der fremden Religion Islam im Abstimmungskampf eine zentrale Rolle spielte, ist nicht von ungefähr. Denn Geschlechterordnungen sind ein zentraler gesellschaftlicher Bereich, in dem Machtansprüche abgesteckt werden und das Eigene in Abgrenzung gegenüber den "Anderen" definiert wird. Insbesondere dann, wenn eine Gesellschaft sich in Veränderung befindet oder mit Anderen innerhalb der Gesellschaft konfrontiert ist, wird die Geschlechterordnung zu einem zentralen Terrain, auf dem Konflikte ausgetragen werden.[8] Die Anderen werden als die Gegner der eigenen Norm, der eigenen Normalität angesehen. Religionen schreiben durch ihre symbolischen Geschlechterordnungen an diesen Grenzziehungen zwischen uns und den anderen mit. Die Geschlechterfrage wird so zur Bestimmung des Eigenen und zur Markierung der "Anderen", "Fremden" instrumentalisiert, um das Eigene – die eigene Kultur, die eigene Religion – als Norm bzw. als überlegen hervorzustreichen.

Genau dies geschah in der Abstimmungskampagne, wenn die BefürworterInnen der Initiative eine egalitäre westliche Geschlechterordnung bzw. ein in ihren Augen egalitär-frauenfreundliches Geschlechterkonzept im Christentum einem angeblich frauenfeindlichen Geschlechterkonzept im Islam gegenüberstellten.

 

Wie weiter?

Die Zustimmung zur Anti-Minarett-Initiative hat grundlegende Diskussionen über die Grenzen der direkten Demokratie und über die Möglichkeit von Ungültigkeitserklärungen von Verfassungsinitiativen ausgelöst. So wird die Einführung eines Vorprüfungsverfahrens für Initiativen diskutiert, die gegen Grundwerte der Verfassung verstossen, sowie über eine Verfassungsgerichtsbarkeit, die es in der Schweiz bislang nicht gibt. Denn mit der von der Schweizerischen Volkspartei (SVP) lancierten Ausschaffungsinitiative – kriminelle Ausländer sollen ausgeschafft werden – liegt aktuell wiederum eine Verfassungsinitiative vor, die nichtzwingendes Völkerrecht bzw. völkerrechtliche Verpflichtungen der Schweiz verletzt.

Für die Schweizer Gesellschaft wäre es dringend nötig, ein realistisches Bild von der Schweiz als Einwanderungsland und als multireligiöse Gesellschaft zu entwickeln. Gleichzeitig müsste die Islamdebatte ent-emotionalisiert und die reale Situation der muslimischen Bevölkerung in der Schweiz endlich zur Kenntnis genommen werden, die wenig gemein hat mit den medial verbreiteten Meinungen und Vorurteilen.[9] Zudem müsste mehr mit den verschiedenen muslimischen Gruppierungen in der Schweiz, vor allem auch mit muslimischen Frauen geredet werden, statt ständig über sie.

Für Feministinnen in der Schweiz stellt sich die Frage, was dagegen unternommen werden kann, dass nicht weiterhin ein Feminismus à la Julia Onken in den Medien die Definitionsmacht behält. Dies wäre gerade im Hinblick auf die Debatten um ein Burka-Verbot wichtig. Ausserdem sollte die Diskussion über (neo-)koloniale Muster in gewissen feministischen Islamdebatten – und wie dadurch rechtspopulistischer Politik in die Hände gespielt wird – unbedingt weitergeführt werden. Anders als im deutschen Feuilleton findet in der Schweiz eine solche Diskussion in der Öffentlichkeit noch kaum statt.

 

Doris Strahm

 

Fussnoten:

1  Kurt Imhof Imhof, Paul Ettinger: Zentrale Merkmale der öffentlichen Debatte über die Minarettinitiative. Inhaltsanalyse des fög - Forschungsbereichs Öffentlichkeit und Gesellschaft, Universität Zürich, 7. Dezember 2009, 4.

2  VOX-Analyse der Volksabstimmung vom 29. November: www.polittrends.ch/vox-analysen

3  Bericht in der Basler Zeitung, 16. Februar 2010, S. 5

4  VOX-Analyse der Volksabstimmung vom 29. November: www.polittrends.ch/vox-analysen

5  www.interrelthinktank.ch/Statements/16 Gründe für ein NEIN

6  www.interrelthinktank.ch/Statements/Offener Brief an Julia Onken

7  Vgl. Birgit Rommelspacher: Multikulturelle Dialoge, in: Doris Strahm / Manuela Kalsky (Hg.): Damit es anders wird zwischen uns. Interreligiöser Dialog aus der Sicht von Frauen, Ostfildern 2006, 118-132.

8  Ulrike Auga: "Die Anderen" definieren. Geschlechterordnungen als Grenzziehungen, in: FAMA. Feministisch-theologische Zeitschrift, 25. Jg., 1/2009, 8-9.

9  Ein Bericht aus dem Jahr 2005 zeigt, dass die "schweigende Mehrheit" der MuslimInnen in der Schweiz gut integriert ist und es keine Parallelgesellschaften gibt (vgl. Muslime in der Schweiz, hg. von der Eidgenössischen Ausländerkommission EKA, Bern 2005).

 

Eine gekürzte Fassung des Textes erschien in: Femina Politica. Zeitschrift für Feministische Politikwissenschaft 1/2010.

 

 

© Doris Strahm 2010