Text in PDF-Format öffnen

Damit es anders wird zwischen uns – Interreligiöser Dialog als Beitrag zu einem friedvollen Zusammenleben

 

Vortrag in der Clarakirche Basel vom 20. Februar 2008

 

"Religion" ist wieder zu einem öffentlichen Thema geworden. Selbst die Massenmedien beschäftigen sich damit, wenn auch meist reisserisch: Auseinandersetzungen zwischen dem Röschenzer Pfarrer und seinem Bischof, Fälle von pädophilen Priestern in der Schweiz, die öffentlichen Auftritte des Papstes oder des Dalai Lama, vor allem aber Debatten rund um den Islam – sei es der Karikaturenstreit, der Protest gegen den Bau von Minaretten oder die Kopftücher junger Musliminnen – dies sind Themen, über die in den Medien intensiv berichtet wird. Religion ist wieder en vogue. Auch ein boomender Büchermarkt zu spirituellen und religiösen Themen belegt dies. Ist also von einer Rückkehr oder Wiederkehr der Religion in unseren säkularen Gesellschaften zu reden, wie dies allenthalben behauptet wird?

Die Rede von der Wiederkehr der Religion suggeriert, dass Religion während einer gewissen Zeit verschwunden gewesen ist, um nun plötzlich wieder "zurückzukehren". Schaut man genauer hin, ist jedoch nicht nur eine Wiederkehr von Religion zu beobachten, sondern wir sehen gleichzeitige Trends von religiösem Aufschwung und religiösem Niedergang. Dies stellen jedenfalls die Religionswissenschaftler Martin Baumann und Jörg Stolz in ihrem neuesten Buch "Eine Schweiz – viele Religionen fest":[1] So verlieren die kirchliche und die traditionelle Christlichkeit mehr und mehr an Boden. Dies lässt sich für die Schweiz auch an der Abnahme der Mitgliederzahlen der grossen christlichen Kirchen zeigen: 1970 machten Reformierte und Katholiken zusammen noch 95,8% der Bevölkerung aus; im Jahr 2000 waren es nur noch knapp 80% der Bevölkerung.[2] Gleichzeitig legen evangelikale Gruppen sowie neue religiöse Bewegungen massiv zu.

Durch die Migrations- und Globalisierungsprozesse sind zudem in den letzten Jahrzehnten weitere, nicht-christliche Religionen in unsere Gesellschaft eingewandert. Auch sie machen Religion neu zum Thema – zu einem Thema, um das vielerorts heftig gestritten wird. Denn die neue Religionsvielfalt wird nicht nur als Bereicherung erlebt, sondern sie führt auch zu Verunsicherungen und Ängsten bei Angehörigen der sog. Mehrheitskultur. Als Reaktion darauf wird von vielen Menschen eine christliche Leitkultur hochgehalten, um sich vor den fremden "Anderen" abzugrenzen und um die eigene kulturelle Identität zu schützen. Häufig bestimmen dabei Vorurteile und Klischees den Umgang mit den "fremden" Religionen, vor allem mit dem Islam, und führen zu emotional geführten Debatten. Und weltweit gesehen wird seit dem 11. September 2001 Religion wieder mehr und mehr zur Rechtfertigung von Gewalt oder zur Durchsetzung von politischen Machtinteressen benutzt. Religion, so scheint es, trägt eher zu Konflikten bei als zu einem friedlichen Zusammenleben von Menschen verschiedener Herkunft.

Wie kann angesichts dieser Situation ein friedvolles Zusammenleben in unseren multireligiösen Gesellschaften gestaltet werden? Welchen Beitrag kann der interreligiöse Dialog dazu leisten? Welches sind die Voraussetzungen und Rahmenbedingungen, damit Verständigung zwischen Angehörigen unterschiedlicher Religionsgemeinschaften gelingen kann? Wie gestalten Frauen den interreligiösen Dialog – sie, deren Erfahrungen und Sichtweisen in den von Männern dominierten Religionsdialogen bislang kaum Beachtung gefunden haben?

Diesen Fragen möchte ich in meinem Vortrag nachgehen. Im ersten Teil meines Vortrags möchte ich ein paar Fakten präsentieren zur Religionslandschaft Schweiz sowie eine kurze Problemskizze versuchen. In einem zweiten Teil werde ich dann auf den interreligiösen Dialog eingehen und fragen, ob und wie er zu einem friedlichen und gerechten Zusammenleben beitragen kann und welche Sicht Frauen in den Dialog einbringen.

 

Teil 1:  Religionsvielfalt und Wiederkehr der Religion: Herausforderungen für das Zusammenleben

1.  Die Schweiz ist multireligiös geworden: Zahlen und Fakten zur Religionslandschaft in der Schweiz

Durch die Migrationsprozesse hat sich die Schweiz wie viele westeuropäische Staaten in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts von einem weitgehend christlich geprägten in ein religiös pluralistisches Land verwandelt. Nicht mehr nur viele verschiedene christliche Gruppierungen prägen die religiöse Landschaft der Schweiz, sondern auch nicht-christliche Religionsgemeinschaften sind Teil unserer Gesellschaft geworden. Seit den 1960er Jahren sind insbesondere Menschen muslimischer, buddhistischer und hinduistischer Herkunft in die Schweiz eingewandert. Dazu einige Zahlen und Fakten:

Der Islam ist inzwischen zur zweitgrössten Religion der Schweiz geworden. Die ca. 350'000 Muslime machen gegenwärtig knapp 5% der Bevölkerung aus, davon sind aber nur ein kleiner Prozentsatz, ca. 10-15%, praktizierende Gläubige. Muslime begannen in den 1970er-Jahren einzuwandern – aus wirtschaftlichen oder politischen Gründen. Sie stammen vorwiegend aus dem ehemaligen Jugoslawien und aus der Türkei; zum Teil auch aus Schwarzafrika, Asien und den Maghreb-Staaten. Der Islam in der Schweiz ist stark ethnisch geprägt und keineswegs ein monolithischer Block: Die verschiedenen Nationalitätengruppen treffen sich in eigenen Kulturzentren, um nicht nur ihre Religion, sondern ebenso ihre Sprache, Kultur und Tradition zu pflegen. So gibt es z.B. bosnische, albanische, türkische und arabische Moscheegemeinden.

Auch der Buddhismus ist zum Teil durch Migrantinnen und Migranten in die Schweiz gekommen. Es gibt in der Schweiz Buddhisten und Buddhistinnen tibetischer, vietnamesischer, thailändischer, taiwanesischer und chinesischer Herkunft. Insgesamt machen sie ca. 0,3% der Bevölkerung aus. Auffällig ist, dass laut Volkszählung 2000 über 50% der BuddhistInnen Schweizer und Schweizerinnen sind, darunter auch viele eingebürgerte thailändische Ehefrauen.[3]

Die Hindus in der Schweiz stammen vor allem aus Sri Lanka und Indien. Der Grossteil der Hindus bei uns sind tamilische Flüchtlinge aus Sri Lanka, die in den 1980er und 1990er Jahren vor dem Bürgerkrieg flohen. Die Hindus machen insgesamt ungefähr 0,7% der Bevölkerung in der Schweiz aus.[4]

Von den "einheimischen" Religionsgemeinschaften macht die jüdische Glaubensgemeinschaft mit ihren rund 18'000 Mitgliedern 0,24% der Bevölkerung aus, während fast 80% der Bevölkerung einer christlichen Konfession oder Strömung angehören. Dies zeigt: Das Christentum ist noch immer eindeutig die dominierende Religion in der Schweiz. Und es zeigt: Die Angst vor der "Überfremdung" durch die "eingewanderten", fremden Religionen, insbesondere durch den Islam, wie sie von gewissen Medien und SVP-Politikern geschürt wird, entbehrt jeder realen Grundlage, schaut man sich die Zahlenverhältnisse an.

Die Anwesenheit von nicht-christlichen Religionen ist im öffentlichen Raum erst wenig sichtbar geworden. So gibt es in der Schweiz zwar ungefähr 150 Moscheen und muslimische Gebetstätten, gut 100 buddhistische Zentren, rund 30 Synagogen, 19 Hindu- und 2 Sikh-Tempel , aber die meisten von ihnen sind in Hinterhöfen, alten Fabrik- oder Lagerhallen einquartiert. Noch dominieren Kirchtürme unsere Städte und unsere Landschaft.[5] Erst ganz vereinzelt sind Moscheen, hinduistische oder buddhistische Tempel als Sakralbauten in unserer Landschaft erkennbar.

Das hat u.a. auch damit zu tun, dass die Mehrheitsgesellschaft Mühe hat, die neue Religionsvielfalt anzuerkennen und den nicht-christlichen Religionsgemeinschaften die gleichen Rechte zuzugestehen wie den christlichen. So wurde die Forderung nicht-christlicher Religionsgemeinschaften nach einer öffentlich-rechtlichen Anerkennung ihrer Religion beispielsweise im Kanton Zürich 2003 in einer Volksabstimmung abgelehnt. Auch was die Ausübung ihrer religiösen Praxis oder den Bau von Sakralbauten angeht, sind die nicht-christlichen Religionsgemeinschaften benachteiligt. Öffentlich-rechtlich anerkannt sind in der Schweiz nur die evangelisch-reformierte, die römisch-katholische, die christ-katholische und in einigen Kantonen die jüdische Gemeinschaft. Diese Situation ist aus Sicht der Rechtsgleichheit zunehmend fragwürdig.[6]

Vor allem mit der Anerkennung des Islam, der zweitgrössten Religionsgemeinschaft in der Schweiz, tut sich die Mehrheitsgesellschaft bis heute schwer. Die heftigen Kontroversen um den Bau von Minaretten und Moscheen, um das Tragen des Kopftuches, um Fragen muslimischer Praxis im Schul- und Arbeitsbereich sind uns allen bekannt. Ungelöste Fragen der Integration oder soziale Probleme im multikulturellen und multireligiösen Zusammenleben werden von Vielen auf einen Konflikt unterschiedlicher religiöser Weltanschauungen und Werte reduziert. Die bestehenden Probleme werden zusätzlich durch die Medien aufgeheizt, die mit Vorurteilen, Pauschalisierungen und Feindbildern operieren und einen regelrechten "Kampf der Kulturen" bzw. "Religionen" herbeireden.

Damit komme ich zu einem zweiten Punkt in meiner kurzen Skizze der aktuellen Lage: Religionen als Konflikt- und Gewaltherde.

 

2.  Religionen sind beides: Sinn- und Friedensstifter, aber auch Gewalt- und Konfliktherde

Nicht erst seit dem 11. September 2001, aber seither verstärkt, wird Religion wieder zur Rechtfertigung von Gewalt oder zur Durchsetzung von Machtinteressen benutzt. So bezeichnen sich islamistische Terroristen als "Gotteskrieger", die einen Heiligen Krieg, Jihad, gegen den Westen führen. Und auf der Gegenseite führte der wiedergeborene Christ George W. Bush mit seinen fundamentalistischen Glaubensbrüdern einen Kreuzzug gegen das Böse, einen gerechten Krieg der Guten gegen die Achse des Bösen. Die Politisierung von Religion auf beiden Seiten, des Islam und des Christentums, zeigt uns die gefährlichen Seiten von Religion. Es stellt sich dabei die Frage, ob die Religionen in all den Konflikten, an denen sie rund um den Erdball beteiligt sind, nur für politische Zwecke missbraucht werden oder ob sie da und dort nicht selber Brandstifter sind.

Ich bin der Meinung, dass Religionen beides sind bzw. sein können: Konfliktherde und Friedensstifter. Denn Religionen sind ambivalent: Auf der einen Seite weisen sie enorme Kräfte der Sinnstiftung, der Lebensbewältigung, der Weltdeutung, der Orientierung für das Handeln, der Versöhnung und der Heilung auf. Ihre Symbole dienen immer auch dazu, das Leben der Einzelnen in einen letzten Deutungshorizont zu stellen. Sie helfen, die zerbrechlichen und widersprüchlichen Erfahrungen des eigenen individuellen Lebens zu deuten, sie in einen grösseren Zusammenhang einzubetten.

Religionen sind aber auch normative Instanzen, d.h. sie regeln mit ihren Werten und Ritualen das gesellschaftliche Zusammenleben und auch die Beziehung der Geschlechter. Als normative Instanzen haben Religionen aber nicht nur ein gerechtes Zusammenleben befördert, sondern auch Diskriminierungs- und Unterdrückungsverhältnisse legitimiert, so zum Beispiel die patriarchale Unterordnung der Frau unter den Mann.

Ein Gewaltpotenzial bergen Religionen auch dann, wenn sie einen theologischen Exklusivitäts- und Absolutheitsanspruch erheben: Im Zeichen des einen Gottes, der einen Wahrheit, der einen und einzig richtigen Religion wird sehr oft ein Ausschluss der Andersgläubigen oder deren Missionierung und Bekehrung gefordert. Und auch in der Sicherheit und Heilsgewissheit, die Religionen versprechen, liegt eine Gefahr: Indem sie das Bedürfnis der Menschen nach einem Ort der Vollkommenheit, des Idealen und des Heils in einem Jenseits erfüllen, tendieren sie dazu, das irdisch Unvollkommene bzw. die Infragestellung dieser Heilsgewissheit mit allen Mitteln abzuwehren.

Die Theologin und Religionspsychologin Susanne Heine schreibt zu dieser grundsätzlichen Ambivalenz von Religion:

"Die Antworten der Religionen auf die Suche des Menschen nach einer holistischen [ganzheitlichen] Weltdeutung sind verschieden, aber sie haben durchwegs das Ziel, das Leben in seinen Begrenzungen gelingen zu lassen. Dazu bedarf es des Rückgriffs auf einen dem menschlichen Zugriff entzogenen Akteur, der in den monotheistischen Religionen Gott genannt wird. Religion vermittelt die Erfahrung, in ein Wirken eingebettet zu sein, dem sich die Gläubigen anvertrauen, ähnlich dem, was die Psychologie innerhalb menschlicher Beziehungen Grundvertrauen nennt. Genau in dem, was Religion bietet, liegt jedoch zugleich eine Versuchung. Der umfassende Sinnrahmen, die Befreiung von existenziellem Zweifel, sich von Gott beachtet, in ihm geborgen zu wissen – das ist ein Gewinn, dem die Intensität der Abwehr bei jeder Infragestellung des Glaubens entspricht. Das aus dem Glauben gewonnene Selbstwertgefühl kippt bei Bedrohung leicht in eine Verteidigung, die vor Gewalt nicht zurückschreckt. Das ist die fundamentalistische Versuchung: Die Gläubigen stehen nicht mehr dem kritischen Korrektiv Gott gegenüber, sondern verstehen sich – Schulter an Schulter mit Gott – nun selbst als kritisches Korrektiv für alle, die der eigenen Gruppe nicht angehören. Dann erscheinen gewaltsame "Bekehrung", Vertreibung oder Auslöschung aller jener, die – auch innerhalb einer Religion – zu einer anderen Gruppe gehören, als "heilige Pflicht", um sich im Glauben sicher fühlen zu können. Die Geschichte ist voll von Beispielen dafür bis in die unmittelbare politische Gegenwart."[7]

 

3.  Fundamentalisten schüren einen "Kampf der Kulturen"

Wenn man religionssoziologischen Studien glaubt, ist die fundamentalistische Versuchung der Religion, von der Susanne Heine spricht, wieder auf dem Vormarsch. Und damit ist keineswegs nur der islamistische Fundamentalismus gemeint. Auch der christliche Fundamentalismus erlebt einen Aufschwung – und zwar weltweit und nicht nur in seinem Herkunftsland, den USA. Die wachsenden fundamentalistischen Tendenzen in allen Religionen stellen übrigens besonders für die Freiheit und Selbstbestimmung von Frauen aller Religionsgemeinschaften eine grosse Gefahr dar. Denn fundamentalistische Bewegungen zeichnen sich durch eine hierarchisch-dualistische Geschlechterordnung aus, nach der die Frau dem Mann untergeordnet ist und seine Autorität zu respektieren hat. Zudem vertreten sie eine patriarchale Sozial- und Sexualmoral, die den Körper der Frau kontrolliert.

Als Frauen sollten wir nicht nur den zunehmenden Fundamentalismus, sondern auch den öffentlich herbei geredeten "Kampf der Kulturen" bzw. den "Zusammenstoss der Religionen" wachsam im Auge behalten. Denn in dieser Gegenüberstellung wird häufig die Frauenfrage instrumentalisiert, um das Eigene – die eigene Kultur, die eigene Religion – als überlegen hervorzustreichen. So wird in den aktuellen Debatten um die Integration nicht-christlicher Religionen in unsere Gesellschaft auffällig oft die "Frauenfrage" oder genauer: die Gleichstellung der Geschlechter als Massstab genannt für die Verträglichkeit mit unserer demokratisch-säkularen Gesellschaft. Und dies besonders, wenn es um den Islam geht. Selbst SVP-Vertreter, die sich sonst ja nicht durch gleichstellungspolitisches Engagement hervor tun, werden da plötzlich zu vehementen Feministen und verteidigen ein in ihren Augen egalitär-frauenfreundliches Christentum gegen ein scheinbar frauenfeindliches Geschlechterkonzept im Islam.

Den Begriff "Kampf der Kulturen" hat der US-Politikwissenschaftler Samuel Huntington geprägt. Er sieht nach dem Ende des Ost-West-Konflikts die Gegensätze zwischen unterschiedlichen religiösen Zivilisationssystemen als die wichtigsten Quelle von politischen Konflikten an. Gegen diese weit verbreitete Sicht gibt es verschiedene Einwände, von denen ich zwei nennen möchte.

Erstens: Die meisten religiösen Konflikte sind keine reinen Religionskonflikte, sondern sie sind überlagert und verflochten mit machtpolitischen und geopolitischen Interessen, weltwirtschaftlichen Gefällen und Abhängigkeiten, ungleichen Zugängen zu Ressourcen und historischen "Altlasten".

Zweitens: Der von Huntington beschworene Kampf der Kulturen findet nur dann statt, wenn die von den Fundamentalisten aller religiösen Couleur geschürte Polarisierung der Religionen und Kulturen zugelassen wird. Die grosse Mehrheit der religiösen Menschen weltweit – Juden und Jüdinnen, ChristInnen, MuslimInnen, Hindus und BuddhistInnen – ist jedoch nicht fundamentalistisch.

Zu den Kräften, die diese Polarisierung zwischen den Religionen nicht zulassen wollen und aktiv dagegen halten, gehören auch all die Frauen und Männer, die sich um einen Dialog und die Begegnung zwischen den Religionen bemühen – sei dies durch konkrete Alltagsbegegnungen, durch theologische Gespräche oder durch gemeinsame gesellschaftspolitische Projekte. Und damit bin ich beim Thema angelangt, das ich im zweiten Teil meines Vortrags entfalten will: der interreligiöse Dialog und seine Bedeutung für die Gestaltung eines friedlichen und gerechten Zusammenlebens in unserer Gesellschaft.

 

Teil 2:  Der Beitrag des interreligiösen Dialogs zu einem guten und friedlichen Zusammenleben

Welchen Beitrag kann der interreligiöse Dialog zu einem friedlichen Zusammenleben leisten? In meiner Frage ist schon angedeutet, dass ich den interreligiösen Dialog nicht als eine rein theologische Angelegenheit von religiösen Würdenträgern ansehe, sondern als ein gesellschaftliches Projekt, dessen Ziel ein gleichberechtigtes Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Religionszugehörigkeit ist. Der interreligiöse Dialog umfasst denn auch verschiedene Formen und Ebenen:

a)  den institutionellen Dialog mit Organisationen, Kommissionen und Beauftragten für interreligiöse Beziehungen, ein Beispiel ist der Rat der Religionen in der Schweiz;

b)  den theologischen Dialog über Fragen der Glaubenslehre;

c)  den Dialog des Lebens im Alltag der Menschen, in denen es in der Nachbarschaft oder im Quartier zu Kontakten und Begegnungen kommt;

d)  den spirituellen Dialog im Rahmen gemeinsamer interreligiöser Feiern;

e)  und den ethischen Dialog im gemeinsamen Handeln, in der Suche nach religiösen Ressourcen für ein gemeinsames Handeln auf eine Kultur des Friedens und der Gerechtigkeit hin.

Der interreligiöse Dialog besteht also keineswegs, wie bereits gesagt, nur im theologischen Austausch, sondern ebenso in der Verständigung über politische und ethische Fragen. Und er ist auch nicht auf Expertengespräche zwischen (meist männlichen) Vertretern verschiedener Religionsgemeinschaften zu reduzieren, sondern umfasst verschiedene Bereiche der Lebenspraxis. Gemeinsam ist all diesen Bereichen eine bestimmte Form der Kommunikation und eine bestimmte Grundhaltung: nämlich der Dialog. Was ist mit Dialog genau gemeint?

 

1.  Dialog ist eine bestimmte Form der Kommunikation und beruht auf einer Haltung der Anerkennung der Anderen als gleichberechtigtes Du

Im Gegensatz zu konfrontativen Gesprächen, in denen von beiden Seiten versucht wird, der eigenen Position Geltung zu verschaffen, bezeichnet der Dialog eine andere Form von Kommunikation: die Balance von Zuhören und Reden auf der Basis von Respekt, gegenseitiger Akzeptanz und Anerkennung der Anderen. Das heisst: Der einzelne Akt der Kommunikation ist eingebettet in eine bestimmte Einstellung, in eine bestimmte Form der Beziehung, die aus einer Grundhaltung hervorgeht: nämlich der Anerkennung des/der Anderen, ihrer/seiner Wertschätzung als prinzipiell gleichberechtigtes und gleichwertiges Du.[8]

Mit dem Dialog oder dem dialogischen Prinzip ist auch eine bestimmte Art des Verstehens der Anderen verbunden. Eine der Grundregeln lautet: Den Anderen/die Andere so verstehen, wie er/sie sich selbst versteht. [9]Dies heisst, es geht darum, einen Perspektivenwechsel vorzunehmen, mit den Augen der Anderen sehen zu lernen. Ein solcher Perspektivenwechsel ist ein Ideal, das sich immer nur annäherungsweise realisieren lässt, aber es drückt eine Haltung aus, die für interreligiöses Verstehen grundlegend ist: nämlich dass wir versuchen, uns in die Anderen hineinzuversetzen, in ihren Schuhen zu laufen, um ihre Sicht auf die Welt zu verstehen lernen.

Verstehen schliesst dabei nicht automatisch Zustimmung oder gar ein "Sich-zu-Eigen-Machen" ein. Das Eigene kann und soll durchaus auch in den Dialog eingebracht werden. Der Dialog besteht ja in der Dynamik von: Verstehen des Anderen und Mitteilen des Eigenen, der eigenen Weltsicht und des eigenen Glaubensverständnisses. In einer offenen Dialogsituation kann diese Dynamik aber für beide Dialogpartner zu einer Erweiterung und Veränderung ihrer Perspektive führen.

Es geht im Dialog daher nicht nur darum, das jeweils Andere zu verstehen und zu respektieren, sondern auch das Eigene mit den Augen der Anderen neu zu sehen. Oder wie der jüdische Philosoph Emmanuel Lévinas meint: Es geht darum, sich selbst durch den Anderen kennen zu lernen.

 

2.  Raum schaffen für Respekt und gegenseitige Anerkennung

Nach diesen grundsätzlichen und etwas abstrakten Ausführungen zum Dialog als interreligiöse Kommunikationsform komme ich nun im Folgenden etwas stärker auf die Ebene der Realität. Der reale Dialog findet ja zwischen konkreten Menschen und in den gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen unserer Gesellschaft statt. Und in dieser ist die Beziehung zwischen den Angehörigen verschiedener Religionsgemeinschaften von Ungleichheit und Machtverhältnissen geprägt: zwischen den ChristInnen als Angehörige der Mehrheitsreligion und -gesellschaft und den Juden/Jüdinnen, MuslimInnen, BuddhistInnen und Hindus als Angehörige von Minderheiten, die in unserer Gesellschaft religiös benachteiligt werden.

Um Raum zu schaffen für einen Dialog zwischen prinzipiell Gleichberechtigten, um den es im interreligiösen Dialog gehen soll, sind daher politische und gesellschaftliche Voraussetzungen bzw. Veränderungen nötig, von denen ich im Folgenden einige nennen möchte. Ich beziehe mich dabei vor allem auf eigene Erfahrungen im interreligiösen Dialog mit Musliminnen und Jüdinnen in der Schweiz, sowie auf Erkenntnisse aus meinem Buch "Damit es anders wird zwischen uns. Interreligiöser Dialog aus der Sicht von Frauen".

 

2.1.  Gleichbehandlung und öffentlich-rechtliche Gleichstellung aller Religionsgemeinschaften

Eine grundlegende Voraussetzung für einen Dialog auf gleicher Augenhöhe ist auf der politischen Ebene die Gleichbehandlung und Gleichstellung aller Religionsgemeinschaften, also auch die öffentlich-rechtliche Anerkennung der nicht-christlichen Religionen in unserem Land. Buddhistische, hinduistische und muslimische Gläubige müssen ihren Glauben genau so ungehindert praktizieren können wie die christlichen. Gesuche nach dem Bau von Moscheen und Tempeln, nach der Errichtung eigener Friedhofsplätze, nach Ausbildungsgängen für religiöse Lehrpersonen, z.B. Imame, oder schulischen Religionsunterricht müssen gleich behandelt werden wie jene der Mehrheitsreligion.

 

2.2.  Vor-Urteile und Unwissen abbauen und die Anderen kennen lernen

Auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene ist die Voraussetzung für ein friedliches und gleichberechtigtes Zusammenleben zwischen den Angehörigen der verschiedenen Religionsgemeinschaften der Abbau von Vor-Urteilen, Unwissen oder gar Feindbildern.

So sind die Ängste der Mehrheitsgesellschaft beispielsweise gegenüber dem Islam zum grössten Teil von Vor-Urteilen, Stereotypen und Klischees genährt. Seit dem 11. September 2001 stehen Muslime in Europa als potenzielle Terroristen unter Generalverdacht, und der Islam wird pauschal als gewalttätige Religion angesehen. Dazu tragen ganz entscheidend die Medien bei: Diese prägen unsere Bilder und Vorstellungen vom Islam und den MuslimInnen. Denn die meisten SchweizerInnen haben keinen direkten Kontakt zur muslimischen Bevölkerung und machen sich ihr Bild vom Islam aufgrund der Medienberichterstattung. Da die Massenmedien die Aufmerksamkeit eines möglichst breiten Publikums erringen wollen, berichten sie generell fast nur über "Sensationen", Konflikte und Probleme und nicht über den Alltag oder die Normalität.

In Bezug auf den Islam heisst dies, dass in den Medien ein einseitig negatives Bild vom Islam vermittelt wird. "Terrorismus", "Verschleierung und Unterdrückung der Frauen", "Ehrenmorde", "Zwangsehen": Dies sind die Themen, unter denen der Islam in den Medien erscheint und die diesen als eine rückständige, gewalttätige und frauenfeindliche Religion erscheinen lassen.[10] Auch Buch-Bestseller mit reisserischen Titeln wie "Ich klage an"[11] oder "Die fremde Braut"[12] stützen diese Pauschalisierungen, wenn sie versprechen, die Wahrheit über den Islam zu enthüllen. So erschütternd diese Erlebnisberichte im Einzelnen auch sind, haben sie meist mit dem Islam als Religion und seinen Lehren wenig zu tun, sondern mit kulturellen patriarchalen Traditionen, die z.T. religiös zu begründen versucht werden.

Gegen Vorurteile und Desinformationen hilft nur eins: mehr Wissen über den Islam und konkrete Begegnungen mit MuslimInnen, um diese Urteile überhaupt als Vor-Urteile zu erkennen und sie abzubauen. Studien zeigen, dass der direkte Kontakt und die Begegnungen mit Andersgläubigen vielfach als persönliche Bereicherung erfahren werden. Die fremde Religion verliert in der Personalisierung ein Stück ihrer Fremdheit. Die Sicht von MuslimInnen, ihre Vorstellungen vom Leben und ihre Träume zu kennen, Einblicke zu erhalten in ihre religiösen Traditionen, in die Vielfalt ihrer Lebensweisen und Alltagsgestaltung: All dies hilft Misstrauen und Ängste abzubauen.

Aber auch mehr Wissen über die anderen Religionen trägt dazu bei, Vor-Urteile und Fremdheit aufzubrechen und ein differenziertes Bild zu entwickeln. Zu diesem differenzierten Bild gehört auch, dass wir die Religionen nicht als monolithische Blöcke ansehen – das Christentum, das Judentum, der Islam, sondern uns bewusst werden, dass es in allen Religionen eine Vielfalt unterschiedlicher Strömungen gibt.

Dies sind Lernprozesse, die Zeit brauchen und Offenheit auf beiden Seiten. Die Schule leistet zu diesem Lernprozess einen wichtigen Beitrag. So wurden in vielen Kantonen der Schweiz die Fächer "Ethik und Religionen" oder "Religion und Kultur" eingeführt, in denen Wissen über die bei uns ansässigen religiösen Traditionen vermittelt wird.

 

2.3.  Die anderen Religionen als gleichwertig anerkennen und keinen Exklusivitätsanspruch erheben

Auch für die theologische Ebene gilt: Ein Dialog zwischen den Religionen kann nur dann gelingen, wenn sich die Beteiligten als Gleichwertige anerkennen. Dies heisst: Keine der Beteiligten darf für ihre Religion einen Exklusivitätsanspruch vertreten oder gar die anderen missionieren. Theologische Voraussetzung für ein friedliches Miteinander der Religionen ist die Anerkennung, dass alle Religionen Wege zum Göttlichen und zum Heil sind, auch wenn sie sich in der Form ihres Weges unterscheiden. Alle Religionen haben spirituelle Ressourcen, aus denen wir schöpfen können für den Aufbau einer gerechteren und friedlicheren Welt.

Der Dialog mit anderen Religionen bietet zudem die Chance, die eigene Religion mit den Augen der Anderen zu sehen und neu verstehen zu lernen. Im "Spiegel der Anderen" erkennen wir uns selber klarer: die Schätze unserer religiösen Tradition, das, was uns wichtig und kostbar ist, aber auch die Schattenseiten, das, was sich in unserer Tradition als schädlich erwiesen hat.[13] So verstanden führt der Dialog der Religionen zu einer Auseinandersetzung mit der eigenen religiösen Tradition und zur veränderten Wahrnehmung der eigenen religiösen Identität, nicht zur "Bekehrung" der Anderen. Er bietet die Möglichkeit, in der Begegnung mit einer anderen Religion, nicht nur die Anderen, sondern auch sich selber besser verstehen zu lernen.

 

2.4  Lernen, mit Unterschieden produktiv umzugehen

Damit ist gemeint, dass wir lernen, die Anderen nicht nur in dem, womit sie mit uns übereinstimmen, zu achten, sondern auch in ihrer Besonderheit, die sich von unserem Eigenen unterscheidet. Aus eigener Erfahrung weiss ich, dass dies ein Lernprozess ist, der viel Achtsamkeit und Selbstreflexion verlangt. Denn normalerweise begegnen wir "Anderem", "Fremdem" mit unseren eigenen Weltbildern und Wertvorstellungen: An denen messen wir die Anderen. Und dies führt dann meist dazu, dass wir versuchen, das uns Fremde bzw. die Unterschiede entweder durch Vereinnahmung oder durch Ausgrenzung zum Verschwinden zu bringen. Es geht deshalb beim interreligiösen Dialog ganz grundsätzlich auch darum, dass wir als christliche Mehrheitsgesellschaft lernen, religiöse und kulturelle Unterschiede und religiöse Vielfalt nicht als Bedrohung des Eigenen, der eigenen Religion, der eigenen Kultur und Identität zu sehen, sondern dass wir lernen, diese Vielfalt als Bereicherung und als Erweiterung des eigenen Horizonts zu erkennen. Denn sie öffnet uns die Augen für die vielfältigen und unterschiedlichen Facetten der menschlichen und der göttlichen Wirklichkeit.

 

3.  Frauen im interreligiösen Dialog

Ich komme zum letzten Teil meines Vortrags: zur Frage, wie Frauen den interreligiösen Dialog gestalten, welches ihre spezifischen Erfahrungen und Anliegen sind. Auch hier beziehe ich mich auf eigene Erfahrungen im interreligiösen Dialog mit Musliminnen und Jüdinnen, auf mein Buch "Damit es anders wird zwischen uns" sowie auf die Studie einer schwedischen Theologin zu diesem Thema.[14]

Im interreligiösen Dialog begegnen sich nicht religiöse Systeme, sondern Menschen. Diese Menschen leben in bestimmten Kontexten, sind von verschiedenen Faktoren wie Kultur, Religion, ökonomische Verhältnisse und Geschlechtszugehörigkeit geprägt. Welche Rolle spielt nun die Geschlechtszugehörigkeit im interreligiösen Dialog? Schaut man sich die Religionsdialoge an, sieht man, dass sie zumindest auf offizieller Ebene, bis heute von männlichen Religionsexperten und religiösen Würdenträgern dominiert sind. Jüngstes Beispiel ist der im Mai 2006 gegründete Rat der Religionen in der Schweiz, der sich als Vertretung der drei monotheistischen Religionen und als offizieller Ansprechpartner gegenüber staatlichen Behörden versteht. In einem Protestbrief, den ich mit einer muslimischen Kollegin im Juni 2006 initiiert habe, kritisierten über 40 namhafte jüdische, christliche und muslimische Frauen, es sei unhaltbar, dass wichtige religionspolitische Fragen ohne die Frauen verhandelt werden. Als Reaktion auf ihre Forderung nach einer geschlechtergerechten Neubesetzung des Gremiums hat der Rat im September 2007 drei Frauen als Expertinnen berufen.

Es gibt neben den interreligiösen Männergremien weltweit auch eine beachtliche Anzahl von interreligiösen Initiativen, Projekten und Konferenzen von Frauen, die allerdings von den Wortführern des interreligiösen Dialogs nicht zur Kenntnis genommen werden. Wie sehen diese Projekte aus? Gibt es spezifische Erfahrungen und Sichtweisen von Frauen im interreligiösen Dialog?

 

3.1.  Frauen sind nicht offizielle Repräsentantinnen ihrer Religionen

Ein grundlegendes Merkmal interreligiöser Dialoge von Frauen ist, dass die Teilnehmerinnen meist nicht offizielle Repräsentantinnen ihrer Religionen sind, da Leitungsämter und religiöse Autorität noch immer mehrheitlich bis ausschliesslich in den Händen von Männern liegen. Frauen im interreligiösen Dialog sind daher freier, ihre eigene Meinung zu äussern als Männer, die sich selber meist als Repräsentanten ihrer Religionsgemeinschaft sehen und im Namen ihrer religiösen Institutionen reden.

Die Erfahrung, als Frauen in ihrer religiösen Tradition an den Rand gedrängt und nicht im Zentrum zu sein, führt zu einer anderen Art von Dialog: Es geht ihnen nicht primär um den Austausch von Lehrmeinungen oder um dogmatische Debatten über unterschiedliche theologische Konzepte. Wichtig sind vielmehr der Prozess des Dialogs selbst und das Kennenlernen anderer religiöser Traditionen; wichtig sind aber auch persönliche Begegnungen und das Teilen des gelebten Glaubens – ein Dialog des Lebens oder ein Dialog des Herzens (Sung-Hee Lee-Linke).

 

3.2  Kritischer Blick aufs Zentrum von den Rändern her

Die Tatsache, dass in allen Religionsgemeinschaften Frauen an den Rand gedrängt werden und Männer die Definitionsmacht innehaben, führt dazu, dass viele Frauen einen kritischen Blick auf  die eigene religiöse Tradition haben und weniger zu einer Haltung des religiösen Dogmatismus neigen.

Die Position am Rande des religiösen Mainstreams wird durchaus auch positiv gesehen: Die Ränder, das Grenzland, und nicht das Zentrum der religiösen Traditionen seien der Ort, wo sich religiöse Traditionen entwickeln, wo Veränderungen geschehen und Menschen mit den Anderen jenseits der Grenzen in Kontakt kommen. Hier, an den Rändern, liege die Zukunft des interreligiösen Dialogs und nicht bei den religiösen Führern, sind viele Frauen überzeugt.

Die positive Sicht der Position am Rande birgt allerdings auch die Gefahr, dass die "Randständigkeit" von Frauen in den Religionen festgeschrieben wird. Wenn Frauen sich ihre eigenen Räume an den Rändern schaffen, in denen sie ihre eigenen Formen von Dialog entwickeln, werden sie dann je das Zentrum beeinflussen können? Andererseits: Wenn sie die Ränder verlassen und in grosser Zahl ins Zentrum vorstossen, können sie dann noch die kritische Perspektive der Marginalisierten in den Dialog einbringen? Ich persönlich bin der Meinung, dass es beides braucht: als Frauen ins Zentrum vorzustossen und einen Platz in den Experten-Dialogen einzufordern, das Feld also nicht allein den männlichen Religionsführern und -experten zu überlassen; gleichzeitig aber die kritische Position als Grenzgängerin, die von aussen auf das Zentrum der Macht schaut, nicht ganz aufzugeben.

 

3.3.  Ein gemeinsames "Wir" als Basis

Die gemeinsame Erfahrung von Frauen, in ihrer Religion als die "Anderen" diskriminiert oder an den Rand gedrängt zu sein, bildet eine gemeinsame Basis im Dialog – und damit eine andere Voraussetzung als sie bei interreligiösen Dialogen von Männern gegeben ist.

Dieses gemeinsame "Wir" ist aber keine homogene Grösse im Sinne eines biologisch verstandenen "Frauseins". Dieses "Wir" bildet sich aufgrund ähnlicher Erfahrungen, die Frauen in religiösen Gemeinschaften machen, und ihrem Kampf gegen Diskriminierungen in ihren Religionsgemeinschaften. Das gemeinsame "Wir" ist so etwas wie ein gemeinsamer Boden – über die Unterschiede von Kultur und Religion hinweg.

Dies heisst nicht, dass es keine Konflikte zwischen Frauen gibt. Das Machtgefälle, das auch unter Frauen besteht, führt z.B. häufig dazu, dass die westlichen bzw. die christlichen Frauen die Definitionsmacht beanspruchen. Das habe ich auch in unseren interreligiösen Theologiekursen in der Schweiz erlebt. Am deutlichsten ist dies beim Geschlechterthema geworden: So gab es von christlicher Seite häufig heftige Einwände, wenn die muslimischen Frauen das islamische Geschlechterrollenkonzept positiv darstellten und den Koran als nicht frauenfeindlich verteidigten. Das heisst: Die christlichen Frauen sprachen den Musliminnen das Recht auf Selbstinterpretation ihrer Religion ab, indem sie beanspruchten zu wissen, wie die Rolle der Frau im Islam wirklich aussieht und den Musliminnen eine unkritische Haltung unterstellten. Sie realisierten nicht, dass ihr Emanzipationskonzept, das sie als Massstab anlegten, nicht universal gültig, sondern kulturell geprägt ist.

Doch meistens kamen die Konflikte auf den Tisch und konnten angegangen werden. Dies wurde auch deshalb möglich, weil in interreligiösen Projekten von Frauen der Beziehungsebene meist viel Gewicht gegeben wird. Die persönlichen Beziehungen untereinander schaffen einen "geschützten" Raum, in dem auch Konflikte konstruktiv gelöst werden können und Lernprozesse möglich werden.

 

3.4.  Veränderung der patriarchalen Aspekte von Religionen

Ein Schlüsselwort in den interreligiösen Projekten von Frauen ist Veränderung: Veränderung der patriarchalen religiösen Traditionen und Strukturen. Trotz der Erfahrung von Diskriminierung, die Frauen in ihren Religionsgemeinschaften machen, werden diese als veränderbar angesehen.

Quellen für diese Veränderungen auf eine auch für Frauen befreiende religiöse Tradition hin, finden die meisten Frauen in den Religionen selbst, die nicht homogen sind, d.h. die nebst unterdrückenden auch befreiende Traditionen enthalten. Ein zentrales Anliegen des interreligiösen Dialogs aus der Sicht von Frauen ist es daher, die unterdrückerischen patriarchalen Aspekte ihrer religiösen Traditionen zu transformieren, sich als Frauen die Interpretations- und Definitionsmacht, von der sie ausgeschlossen waren, anzueignen und die Heiligen Schriften selber auszulegen.

 

3.5.  Spiritualität und Rituale eröffnen einen existentiellen Zugang zur Religion der Anderen

Spiritualität und religiöse Rituale sind wichtige Elemente in den meisten interreligiösen Projekten von Frauen. Das Teilen von Spiritualität, von religiösen Ritualen und Feiern, ist aus verschiedenen Gründen essentiell im interreligiösen Dialog von Frauen: Zum einen vermitteln sie sinnlich und existenziell erlebbar etwas von der gelebten Religion der Anderen. Zum anderen ist es gerade für Frauen, die in ihren religiösen Traditionen häufig von den kultischen Handlungen ausgeschlossen sind, von besonderer Bedeutung, Frauen kultisch handeln zu sehen – zu sehen, wie sie sich ihre religiöse Tradition als Frauen selbstbewusst aneignen. Dies ist nicht nur ein Erlebnis von spirituellem Empowerment, sondern es schafft ein Band zwischen Frauen, die das Gute und Lebensfördernde miteinander teilen, das sie für sich in ihren religiösen Traditionen wiederentdeckt haben.

 

3.6.  Ethische Anliegen und gemeinsames Handeln sind wichtiger als dogmatische Fragen

Gemeinsam ist vielen Dialogprojekten von Frauen, dass sie den Fokus stärker auf ethische als auf dogmatische Fragen legen. Es geht ihnen dabei nicht nur um eine Veränderung der negativen, Ausschluss und Gewalt fördernden Strukturen religiöser Traditionen, sondern um eine Veränderung der Welt: um die Gestaltung eines gesellschaftlichen Zusammenlebens, in dem alle Religionen gleichberechtigt sind, Männer und Frauen respektvoll miteinander umgehen und ihrem Glauben und ihrer Kultur gemäss leben können.

Ein ethisch motivierter interreligiöser Dialog will also nicht nur der Verständigung mit den Anderen dienen, sondern einer gemeinsamen befreienden Praxis. Oder wie meine muslimische Kollegin Amira Hafner-Al Jabaji im Schlussgespräch unseres Buches meint: Der interreligiöse Dialog sollte vermehrt auch zu einem gemeinsamen Handeln führen. Sie ist überzeugt, dass theologische Differenzen für eine gemeinsame Friedensarbeit irrelevant sind, dass wir nicht dasselbe glauben müssen, um miteinander und aneinander gut handeln zu können.[15] Und sie fährt fort: "Ich wünsche mir für meine Mitmenschen – egal welchen Glauben und welches Geschlecht sie haben oder zu welcher sozialen Gruppe sie gehören –, dass sie alle gefördert und befähigt werden, von ihrem Verstand Gebrauch zu machen, dass sie sich geistig entfalten und (...) Verantwortung übernehmen können. Das setzt voraus, dass Menschen nicht ständig um ihre physische und psychische Existenz kämpfen müssen. Und ich wünsche mir für meine Mitmenschen, dass sie Gotteserfahrungen machen können fern von Dogmen und Zwang. Eine solche Welt zu schaffen, gemeinsam zu schaffen – dies sollte Aufgabe der verschiedenen Religionsgemeinschaften sein. Hier gäbe es konkrete Ansatzpunkte des gemeinsamen Handelns."[16] Dem kann ich mich nur anschliessen.

 

Doris Strahm

 

Fussnoten:

1  Martin Baumann / Jörg Stolz (Hg.), (Hg.), Eine Schweiz – Viele Religionen. Risiken und Chancen des Zusammenlebens, Bielefeld 2007, 63.

2  Baumann / Stolz (Hg.), Eine Schweiz – Viele Religionen, 60.

Vgl. dazu Baumann / Stolz (Hg.), Eine Schweiz – Viele Religionen, 210f.

Vgl. dazu Baumann / Stolz (Hg.), Eine Schweiz – Viele Religionen, 226.

5  Facts, 9. März 2006, 19.

6  Vgl. dazu Cla Reto Famos, Religiöse Vielfalt und Recht, in: Baumann / Stolz (Hg.), Eine Schweiz – Viele Religionen, 307f.

7  Susanne Heine, Der Versuchung widerstehen. Eine Erörterung der Frage: Was ist eine gute Religion?, in: NZZ 07.08.2006, Nr. 180, 21.

8  Vgl. Reinhold Bernhardt, Ende des Dialogs?, Zürich 2005, 92-99.

9  Vgl. Annette Wilke, Interreligiöses Verstehen. Rahmenbedingungen für einen gelingenden christlich-muslimischen Dialog, in: Doris Strahm / Manuela Kalsky (Hg.), Damit es anders wird zwischen uns. Interreligiöser Dialog aus der Sicht von Frauen, Ostfildern 2006, 19-23.

10  Vgl. zur Rolle der Medien ausführlicher: Kurt Imholz / Patrik Ettinger, Religionen in der medienvermittelten Öffentlichkeit, in: Baumann / Stolz (Hg.), Eine Schweiz – Viele Religionen, 285-298.

11  Ayaan Hirsi Ali, Ich klage an. Plädoyer für die Befreiung der muslimischen Frauen, München 2005.

12  Necla Kelek, Die fremde Braut. Ein Bericht aus dem Inneren des türkischen Lebens in Deutschland, Köln 2005.

13  Rita M. Gross, Feminist Theology as Theology of Religions, in: Susan Frank Parsons (ed.), The Cambridge Companion to Feminist Theology, Cambridge 2002, 67f.

14  Helene Egnell, Other Voices. A Study of Christian Feminist Approaches to Religious Plurality East and West, Uppsala 2006.

15  Vgl. dazu Amira Hafner-Al Jabaji, Eva Pruschy, Doris Strahm, Das gute Leben für alle – ethischer Horizont für den interreligiösen Dialog? Ein Gespräch, in: Strahm / Kalsky (Hg.), 134–155.

16  Ebd. 155.

 

 

© Doris Strahm 2008