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Schleiersichten – Feministische Debatten um das Kopftuch, Geschlechterkonzepte und Religion

 

Vorlesung vom 23. November 2007 im Rahmen des Lehrauftrags Theologische Gender Studies: "Interreligiöser Dialog: Frauen- und Genderperspektiven" im Herbstsemester 2007 an der Universität Luzern

 

Die heftigen Diskussionen um ein Kopftuchverbot in westlichen Gesellschaften zeigen: Der sog. "Kampf der Kulturen" findet nicht zuletzt in der Geschlechterdebatte seinen Ausdruck. So wird in den aktuellen Debatten um eine christliche Leitkultur oder die Integration nichtchristlicher Religionen in die Schweizer Gesellschaft auffällig oft die "Frauenfrage" bzw. die Gleichstellung der Geschlechter als Massstab genannt für die Verträglichkeit mit unserer demokratisch-säkularen Gesellschaft – und dies insbesondere gegenüber dem Islam. Da werden selbst SVP-Vertreter plötzlich zu veritablen Feministen und verteidigen ein angeblich egalitär-frauenfreundliches Christentum gegen ein scheinbar frauenfeindliches Geschlechterkonzept im Islam.

In diesen Auseinandersetzungen mit der anderen, fremden Kultur und Religion spielt die Verschleierung bzw. Entschleierung des weiblichen Körpers eine wichtige Rolle, schreiben die Kultur- und Genderwissenschaftlerinnen Christina von Braun und Bettina Matthes in ihrer gross angelegten Studie Verschleierte Wirklichkeit. Die Frau, der Islam und der Westen (2007), "denn an ihr lassen sich komplizierte und widersprüchliche Phänomene auf einen scheinbar konkreten Nenner bringen: neben der Geschlechterordnung auch die Gegenüberstellung zwischen einem angeblich 'progressiven' Westen und einem angeblich 'rückständigen' Orient."[1]

Am Schleier der Musliminnen werden aber auch die unterschiedlichsten Fragen einer multireligiösen Gesellschaft verhandelt: Für die einen geht es beim Kopftuch um Fragen der Bekenntnis- und Religionsfreiheit, für andere um die Gefährdung der Neutralität der Schule und der Säkularität des Staates. Für die einen ist das Stück Stoff Sinnbild eines vormodernen, fundamentalistischen und frauenfeindlichen Islam, für andere Ausdruck religiöser Überzeugung oder selbstbewusster kultureller Identität. Und kein anderes Stück Stoff dient so sehr als Projektionsfläche für Ängste und Befürchtungen gegenüber einer fremden Religion, sorgt für Zündstoff und aufgeheizte Debatten.

Im Frühling 2004 ist auch in der Schweiz die Kopftuchdebatte neu entfacht worden – angeregt durch die Diskussionen um ein Verbot des Kopftuchtragens und die Gesetzesentscheide dazu in Deutschland (September 2003) und in Frankreich (Februar 2004). Plötzlich wurde das Kopftuchtragen muslimischer Mädchen und Frauen auch bei uns von den Medien und einigen Politikern zu einem Problem hochgespielt, obwohl es weder in der Öffentlichkeit noch an den Schulen bislang Konflikte verursacht hatte. Seither taucht das Thema immer wieder in den Medien auf.

Man könnte sagen, dass in vielen europäischen Gesellschaften buchstäblich über die Köpfe muslimischer Frauen Debatten um das Verhältnis von Religion und moderner säkularer Gesellschaft, von Religionsfreiheit und Gleichstellung der Geschlechter ausgetragen werden.

Ich möchte das Thema in zwei Teilen angehen. In einem ersten Teil geht es um die Sicht westlicher Feministinnen auf das Kopftuch, anhand zweier Fragen:

1.  Wie verhalten sich Feministinnen, denen es um Emanzipation, Gleichstellung und das Selbstbestimmungsrecht von Frauen geht, diesem umstrittenen Stück Stoff gegenüber?

2.  Welche verborgenen Motive stecken hinter der äusserst emotional geführten feministischen Kopftuchdebatte? Welche gesellschaftlichen Probleme werden am Schleier der Anderen verhandelt und welche eigenen dadurch verschleiert?

Nach dieser Aussensicht auf das Kopftuch geht es in einem zweiten Teil um die Innensicht, um die Sicht von jungen Kopftuchträgerinnen in Deutschland und der Schweiz: Weshalb ziehen immer mehr junge, gut ausgebildete Musliminnen das Kopftuch an? Welche Bedeutung hat die Religion für ihre Identitätsfindung in einem Migrationskontext?

Und eine wichtige Vorbemerkung: Es geht im Folgenden um das Kopftuch von muslimischen Migrantinnen bei uns, d.h. in Deutschland und der Schweiz, nicht um die Zwangsverschleierung von Frauen im Iran oder in Afghanistan.

 

Teil I:  Verschleiern und Entschleiern – Die feministische Kopftuchdebatte

Wie verhalten sich Feministinnen, denen es um Emanzipation, Gleichstellung und das Selbstbestimmungsrecht von Frauen geht, diesem umstrittenen Stück Stoff gegenüber? Die feministische Diskussion darüber ist tief gespalten. Auf der einen Seite gibt es vehemente feministische Befürworterinnen eines Kopftuchsverbots, auf der anderen Seite ebenso vehemente feministische Gegnerinnen eines Verbotes. Ich versuche im Folgenden, die Positionen und Argumente der beiden Seiten kurz zu skizzieren. Ich beziehe mich dabei vor allem auf die Diskussion in Deutschland, weil dazu – im Gegensatz zur Schweiz – sehr viel mehr Material vorliegt.

 

1.  Feministische Argumente und Positionen im Kopftuchstreit

1.1.  Für ein Verbot:  Das Kopftuch als patriarchales Unterdrückungssymbol und politisches Signal

Für viele Feministinnen – wie für einen Grossteil der Gesellschaft – ist die Antwort eindeutig, wofür das Kopftuch steht: Es ist ein Instrument patriarchaler Unterdrückung. Diese Position wird mit aller Vehemenz von der deutschen Feministin und Emma-Herausgeberin Alice Schwarzer vertreten. Es wird auf die Zwangsverschleierung von Frauen in islamischen Ländern verwiesen und auf die Mädchen und Frauen bei uns, die von ihren Männern und Familien gezwungen werden, das Kopftuch zu tragen. Ähnlich sieht es auch die französische Feministin Elisabeth Badinter: Für sie ist das Kopftuch Instrument der patriarchalen Fundamentalisten, um Frauen, die von der westlichen Gleichheit profitierten, wieder unter Kontrolle zu bekommen.[2]

Die Kopftuchträgerinnen werden von diesen Feministinnen mit dem Frauenbild des fundamentalistischen Islam identifiziert, in dem die Rechte der Frau gegenüber dem Mann eingeschränkt sind und ihre Verhüllung Teil ihrer Unterordnung unter den Mann ist. Der Körper der Frau werde benutzt, um männliche Herrschaftsansprüche festzumachen. So wirke das Kopftuch selbst dann unterdrückend, wenn es – scheinbar – freiwillig getragen werde. "Mein Kopf gehört mir": Diesem Slogan von Musliminnen stehen viele Feministinnen skeptisch gegenüber: Für sie sind die Kopftuchfrauen fremdbestimmt und manipuliert.[3]

Das Kopftuch ist für viele feministische Kopftuchgegnerinnen aber auch Symbol eines politischen und fundamentalistischen Islam, der die demokratische und säkulare Gesellschaft bedrohe – so sieht es etwa die Politikerin und Theologin Antje Vollmer, ehemalige Vizepräsidentin des deutschen Bundestages. Vehementer vertritt Alice Schwarzer dieselbe Ansicht und warnt vor dem Kopftuch als "Flagge des islamistischen Kreuzzugs, der die ganze Welt zum Gottesstaat deformieren will". Für sie hat das Kopftuch nichts mit muslimischer Tradition oder mit Glauben zu tun, sondern sei politische Demonstration eines fundamentalistischen Islam.

Beim Urteil des deutschen Verfassungsgerichts bezüglich des Kopftuchs geht es nach Schwarzer um den Kern des Rechtsstaats: um die Trennung von Staat und Religion, eine mühsam erkämpfte Errungenschaft der Aufklärung. Der Aufweichung dieser Trennung gelte es als Feministinnen entschieden entgegenzutreten. Denn die ersten Betroffenen würde die Mehrheit der noch unverschleierten Musliminnen in Deutschland sein, die von ihren Familien jetzt verstärkt unter Druck gesetzt werden können.[4] Auch viele andere Feministinnen sprechen sich für eine säkulare und laizistische Gesellschaft aus, in der Kopftücher als religiöse Symbole in der Schule oder im öffentlichen Dienst keinen Platz haben. Die Trennung von Staat und Religion sei endlich umzusetzen und Frauenunterdrückung dürfe nicht im Namen einer falschen Toleranz geduldet werden.

Das Kopftuch wirkt integrationshemmend: Dies ist ein weiteres Argument, das in den Augen vieler Feministinnen für ein Kopftuchverbot für Lehrerinnen und Schülerinnen spricht. Mit dem Kopftuch bleiben die muslimischen Mädchen und Frauen immer die fremden "Anderen", werden in der Schule und auf dem Arbeitsmarkt diskriminiert und nicht als integrierter Teil der Mehrheitsgesellschaft angesehen.

 

1.2.  Gegen ein Verbot:  Selbstbestimmung und religiöse Vielfalt statt  Zwangsemanzipation

So könnte die Position der feministischen Verbotsgegnerinnen kurz umschrieben werden. Unter dem Motto "Religiöse Vielfalt statt Zwangsemanzipation" haben 70 prominente Frauen Ende 2003 in Deutschland einen Aufruf wider eine Lex Kopftuch der Integrationsbeauftragten der deutschen Bundesregierung, Marieluise Beck, unterschrieben (Politikerinnen, Wissenschaftlerinnen, Migrationsfachfrauen, Kulturschaffende und zwei Bischöfinnen).[5] Einig sind sich diese Frauen mit den feministischen Verbotsbefürworterinnen darin, dass die Gleichstellung der Geschlechter als Grundrecht unserer Gesellschaft gegenüber islamistischen Fundamentalisten und ihrer patriarchalen Geschlechterordnung durchzusetzen ist.

Aber es gelte zu unterscheiden: "Nicht jede Frau, die bei uns ein Kopftuch trägt, vertritt den politischen Islam oder sympathisiert mit ihm. Gerade Frauen in der Diaspora greifen häufig auf das Kopftuch zurück, um mit Selbstbewusstsein ihr Anderssein zu markieren oder eine Differenz im Verständnis von Sittsamkeit oder Tugendhaftigkeit gegenüber der Aufnahmegesellschaft zu dokumentieren. Emanzipation und Kopftuch sind für viele Musliminnen kein Widerspruch. Werden Frauen mit Kopftuch unter Generalverdacht gestellt und generell vom öffentlichen Schulleben ausgeschlossen, trifft dies zudem gerade jene Frauen, die mit ihrem Streben nach Berufstätigkeit einen emanzipatorischen Weg beschreiten wollen."

Dazu kommt, dass ein von einem generellen Verdachtsmoment abgeleitetes Kopftuchverbot, das zudem geschlechtsspezifisch wirkt und nur die Frauen trifft, eine religiös bedingte Diskriminierung mit praktischem Berufsausschluss wäre.[6]

Für Heide Oestreich, Politologin und Verfasserin eines Buches zum Kopftuchstreit lautet die feministische Frage: "Was macht das Kopftuch mit dem Recht der Frau auf Selbstbestimmung?" – und ist dementsprechend von Fall zu Fall zu  beurteilen. Statt Zwangsemanzipation nach westlichem Vorbild plädieren viele feministische Gegnerinnen eines Kopftuchsverbots für das religiöse Selbstbestimmungsrecht, das Recht auf Selbstbestimmung muslimischer Frauen. Die Freiheit einer Frau, selber zu bestimmen, was sie tragen will, sei höher zu bewerten als der mögliche Missbrauch des Kopftuchs.

Weder Zwangsverschleierung noch Zwangsentschleierung muslimischer Frauen: So lautet der Appell vieler Feministinnen, die gegen ein Kopftuchverbot sind. Auch der "Aufruf wider eine Lex Kopftuch" schliesst mit den Worten: "Weil in vielen islamischen Ländern Frauen und Mädchen gezwungen werden, ein Kopftuch zu tragen, wollen wir sie zwingen, es abzusetzen. Fällt uns wirklich nichts besseres ein, um ihnen zu mehr Bildung und Selbstbestimmung zu verhelfen?"

Kritisiert wird von einigen Feministinnen auch der koloniale Gestus vieler militanter Kopftuchgegnerinnen, die an der armen, unterdrückten und rückständigen Muslimin ihre Überlegenheit als westlich-emanzipierte Frauen demonstrieren, dabei aber vielleicht eigene Konflikte überdecken oder abarbeiten.[7] Denn die viel beschworene Emanzipation ist ja auch für westliche Frauen nicht voll realisiert und geht zudem mit Widersprüchen einher: So hat die sexuelle Befreiung hat ja nicht nur grössere Selbstbestimmung, sondern auch neue (Körper-)Zwänge mit sich gebracht und weitere Formen sexueller Ausbeutung. Die berufliche Emanzipation geht mit Doppel- und Dreifachbelastungen einher, und die Gleichstellungspolitik hat noch nicht wirklich zu einer gleichberechtigten Teilhabe von Frauen an Einkommen und Macht geführt. Sind es solch ungelöste Konflikte, die unterschwellig dem Kampf vieler Feministinnen gegen das Kopftuch beziehungsweise für die Befreiung der armen, rückständigen Muslimin zugrunde liegen? Ich werde auf diesen Aspekt im 2. Teil meiner Vorlesung näher eingehen.

Auffällig an der ganzen Kopftuch-Debatte ist, dass sich die Verbote und Gebote einmal mehr allein an die Frauen richten. Angst vor und Probleme der westlichen Einwanderungsgesellschaften mit dem Islam, aber auch Fragen zum Verhältnis von Religion und säkularem Staat, Religionsfreiheit und Emanzipation werden über die Körper von muslimischen Frauen ausgetragen. Der Kampf gegen das Kopftuch als Instrument patriarchaler Unterdrückung oder Signal eines politischen und fundamentalistischen Islam trifft – da dieses ein geschlechtsspezifisches Ausdrucksmittel ist – immer nur Frauen, nie den Mann, weder als Unterdrücker noch als politisch Agierenden, kritisieren viele feministische Gegnerinnen eines Kopftuchverbots.

Auch für die Verbotsgegnerinnen ist die Kopftuchfrage zudem eine integrationspolitische Frage, die sie aber anders beurteilen: Ihrer Ansicht nach würde ein Verbot die gesellschaftliche Stigmatisierung der Kopftuchträgerinnen weiter vorantreiben und viele Musliminnen in der Einschätzung bestärken, gesellschaftlich ausgegrenzt und chancenlos zu sein. Oder wie es eine junge Kopftuchträgerin in einem Interview in einer deutschen Zeitung kürzlich formuliert hat: "Ich habe an das Versprechen geglaubt, dass man hier etwas werden kann, wenn man gut ist. Wenn ich aber als Muslimin eh keine Chance habe, dann mühe ich mich nicht durchs Studium. Dann kann ich gleich heiraten."[8]

Das Beispiel zeigt: Auf Ausgrenzungserfahrungen folgt häufig der Rückzug aus der Gesellschaft bzw. in traditionelle Lebensmuster. Es gelte daher, muslimische Frauen auf ihrem Bildungs- und Berufsweg zu stärken und ihnen damit zu ermöglichen, einen selbstbewussten, frei gewählten Lebensentwurf zu verfolgen – mit oder ohne Kopftuch. Die Erfahrung zeigt zudem, dass es nicht das Kopftuch ist, das über Integration oder Nicht-Integration entscheidet. Statt die wirklichen Integrationsprobleme anzugehen, werde ein Stellvertreter-Streit über das Kopftuch geführt, meinen die Verbotsgegnerinnen.

Anders als viele feministische Säkularistinnen, die Religionen meist nur als repressive, frauenfeindliche Ordnungssysteme ansehen, denen sich der aufgeklärte Staat nun endlich ganz zu entledigen habe, und die das Kopftuch daher auch als religiöses Symbol aus dem öffentlichen Raum verbannen möchten, plädieren Feministinnen wie z.B. Marieluise Beck dafür, den Islam als gleichwertige Religion anzuerkennen. Der Weg zur Integration zugewanderter Religionen führe nicht über die Tilgung religiöser und kultureller Traditionen, sondern über die Erweiterung des kulturellen und religiösen Spektrums, die interkulturelle Öffnung der öffentlichen Institutionen. So könnte und sollte die Schule z.B. Lernort sein für eine Erziehung zu Pluralismus, Demokratie und Toleranz.

 

2.  Kritische Sicht der feministischen Kopftuchdebatte

Im Folgenden möchte ich nun der Frage nachgehen, was hinter der feministischen Kopftuchdebatte steckt, welches die Gründe sein mögen, dass viele säkulare Feministinnen so grosse Probleme mit dem Kopftuch muslimischer Frauen haben. Und das sind auch bei uns in der Schweiz nicht wenige, wie ich bei Veranstaltungen mit Gleichstellungsbeauftragten und feministischen Juristinnen zu diesem Thema erfahren habe.

Ich versuche einige Erklärungsmuster und Aspekte zusammenzufassen. Dabei stütze ich mich vor allem auf die beiden Beiträge zur feministischen Kopftuchdebatte in dem von mir mit herausgegebenen Buch zum interreligiösen Dialog "Damit es anders wird zwischen uns" (Ostfildern 2006): auf den Briefwechsel von Hatice Ayten und mir "Verschleiern und Entschleiern" (S. 98-117) sowie auf den Artikel von Birgit Rommelspacher "Multikulturelle Dialoge" (S. 118-132). Beide Beiträge versuchen, kritisch hinter die Kopftuchdebatte zu blicken und verborgene Motive aufzudecken. Das versucht auch die bereits erwähnte Studie "Verschleierte Wirklichkeit" von Christina von Braun und Bettina Matthes, auf die ich mich in meinen Thesen ebenfalls da und dort beziehe.

 

2.1.  Neokolonialer Gestus westlicher Feministinnen

Eine erste These lautet, dass im feministischen Diskurs über die Unterdrückung der armen, kopftuchtragenden Muslimin ein neokolonialer Gestus zum Ausdruck kommt: In der Entgegensetzung zur unterdrückten muslimischen Frau könne sich die westliche Frau in ihrer Selbstwahrnehmung als befreite und emanzipierte Frau bestärken. Diese Gegenüberstellung der islamisch unterdrückten und westlich emanzipierten Frau ist keineswegs neu, sondern fester Bestandteil einer jahrhundertelangen europäisch-kolonialen Sicht auf die islamische Welt. Bereits die Kolonialmächte haben den Islam als genuin frauenunterdrückerisch verstanden. Die europäischen Männer träumten davon, die Haremsmauern niederzureissen, um die versklavten und entrechteten orientalischen Frauen zu befreien. Dabei meinten sie mit Befreiung die Übernahme der europäischen Geschlechterordnung bzw. der Frauenrolle der europäischen Hausfrau und Mutter. Welches Paradox sich in diesem kolonialen Kampf für die "Befreiung" der orientalischen Frau verbarg, zeigt das Beispiel des Repräsentanten der englischen Krone in Ägypten, Lord Cromer. Nachdem Grossbritannien das Land 1882 besetzt hatte, wurde Cromer zu einem Vorkämpfer für die Entschleierung und die Befreiung der ägyptischen Frau. In seinem Heimatland dagegen war er Mitbegründer der "Liga der Männer gegen das Frauenstimmrecht".[9]

Zu diesem "kolonialen Feminismus" haben auch westliche Frauen beigetragen. So stellten beispielsweise weibliche Orientreisende des 18. und 19. Jahrhunderts, die sich als Reisende in die Fremde gewagt und damit die eigene traditionelle Frauenrolle gesprengt hatten, die fremden Frauen in ihren Berichten häufig als besonders unterdrückt dar. Die negative Beschreibung der Situation der Orientalin diente der westlichen Frau als Kontrastfolie, auf der sich ihre eigene Situation als westliche Frauen positiv abhob. Die fremde Frau wurde auf die Dimension der Unterdrückung festgelegt, während die eigene Kultur und Geschlechterordnung als überlegen bestätigt wurde, indem deren patriarchale Strukturen ausgeblendet worden sind.[10]

Ein ähnliches Muster lässt sich im heutigen feministischen Diskurs gegen das Kopftuch feststellen: Die Muslimin mit Kopftuch wird nur als Opfer patriarchaler Unterdrückung angesehen, auch dann, wenn sie das Kopftuch freiwillig trägt und es als Zeichen ihrer Emanzipation versteht. Es wird ihr unterstellt, sie sei fremdbestimmt und manipuliert, während sich die westliche Frau als durch und durch selbstbestimmt und autonom versteht. Dabei wird nicht nur eine Homogenisierung und Polarisierung vorgenommen: alle muslimischen Frauen sind unterdrückt, alle westlichen Frauen sind emanzipiert, sondern es wird überdies das westliche Emanzipationsmodell als Massstab und Norm für alle Frauen gesetzt.

 

2.2.  Frauen und ihr Erscheinungsbild als kulturelle Markierungen

Interessant ist auch, dass es das Erscheinungsbild von Frauen ist, an dem kulturelle und politische Konflikte ausgetragen werden. Über die Position der Frauen wurde und wird die kulturelle Differenz und Distanz zu den Anderen bestimmt. In diesem Sinne fungieren Frauen als kulturelle Markierungen, wie Birgit Rommelspacher in einem anderen Beitrag schreibt. Dies sei für "patriarchale Gesellschaften insofern typisch, als Frauen sich umso mehr zur Symbolisierung des Allgemeinen einer Gesellschaft eignen, je weniger sie selber für etwas Bestimmtes stehen, d.h. je weniger sie selbst zu sagen haben. So können sie als Projektionsfläche dienen, auf die beispielsweise auch die Nation ihre Identität projiziert, wie in Deutschland etwa in der Figur der 'Germania' und in Frankreich der 'Marianne'."[11] Der weibliche Körper symbolisiert den Kollektivkörper der eigenen politischen oder kulturellen Gemeinschaft.

Dies ist auch zu beobachten für die Konstruktion einer aufgeklärt-modernen europäischen Kultur im Kontrast zu einer traditionalistisch-patriarchalen islamischen Kultur. So wurde zum Beispiel in der Türkei der von Kemal Atatürk initiierte Modernisierungsprozess durch die Entschleierung der Frauen symbolisiert. Hatice Ayten schreibt in unserem Briefwechsel dazu: "Nach der Gründung der türkischen Republik wurde der Schleier abgeschafft und die türkischen Frauen kleideten sich so modern wie die europäischen. Das heisst: Die moderne türkische Frau repräsentierte durch ihre europäische Kleidung und ihre Sichtbarkeit in der Öffentlichkeit die moderne Türkei."[12]

Auch heute wird im sog. Kampf der Kulturen die Geschlechterfrage bzw. die Rolle und das Erscheinungsbild der Frau funktionalisiert, um die Modernität der westlichen gegenüber der Rückständigkeit der islamischen Welt zu konstatieren, oder umgekehrt: um die moralische Überlegenheit der islamischen Kultur gegenüber dem moralischen Verfall des Westens hervorzustreichen. Und auch für Feministinnen wird das körperliche Erscheinungsbild von Frauen zum Symbol von Freiheit und Unterdrückung, von Modernität und Rückständigkeit: So repräsentiere die Verhüllung muslimischer Frauen ihre Unfreiheit und Unterdrückung; die Enthüllung des weiblichen Körpers hingegen, die freizügige Kleiderordnung westlicher Frauen repräsentiere ihre Emanzipation und (sexuelle) Selbstbestimmung.

 

2.3.  Entlastung von Geschlechterkonflikten durch Idealisierung des westlichen Geschlechterverhältnisses

Ein weiteres Motiv, das Birgit Rommelspacher hinter dem Interesse von Feministinnen vermutet, das Ideal der "emanzipierten" einheimischen Frau gegenüber der "unterdrückten" eingewanderten Frau so zu betonen, ist die Entlastung von Geschlechterkonflikten in unserer eigenen Gesellschaft. Denn die Emanzipation einheimischer Frauen beruht nicht auf einer neuen, gerechteren Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern, sondern auf der Doppelbelastung berufstätiger Frauen und/oder ihrer Entlastung in der Familien- und Hausarbeit durch Migrantinnen. Die Übernahme "typischer" Frauenarbeit durch Migrantinnen hat aber auch zur Folge, wie Rommelspacher schreibt, dass die traditionelle geschlechtsspezifische Arbeitsteilung erhalten bleibt.[13] Die "türkische" Putzfrau hat die deutsche Hausfrau ersetzt – und nicht der deutsche Mann. Die Arbeitsteilung und Hierarchie zwischen den Geschlechtern bleibt unverändert, weil sie durch eine Hierarchie zwischen einheimischen und zugewanderten Frauen kompensiert wird. Der Konfliktstoff zwischen den Geschlechtern wird also gewissermassen ausgelagert.

Die Emanzipation westlicher Frauen, die den muslimischen Frauen als Norm vor Augen gestellt wird, beruht auf einem Ideal, um nicht zu sagen auf einer Illusion. Es wird so getan, als ob in unserer Gesellschaft in Sachen Emanzipation und Gleichstellung der Geschlechter kaum mehr Handlungsbedarf bestehe, während die muslimischen Migrantinnen Opfer patriarchaler Traditionen seien. Das Stereotyp von der unterdrückten muslimischen Frau dient also auch der Entlastung von eigenen inneren Spannungen und Konflikten. Dies gilt nach Rommelspacher nicht nur in Bezug auf das westliche Geschlechterverhältnis, sondern auch in Bezug auf das westliche Emanzipationskonzept.

 

2.4.  Widersprüche im westlichen Emanzipationskonzept

Die Provokation der muslimischen Kopftuchträgerinnen liegt für westliche Feministinnen auch darin, dass diese ein anderes Frauenbild, ein anderes Konzept von Geschlechterbeziehungen und andere Vorstellungen von Sittsamkeit und Scham ver-körpern. Mit ihrer öffentlichen Inszenierung eines anderen Frauseins verwehren sich gerade die jungen, selbstbewussten und gut ausgebildeten Musliminnen, die freiwillig das Kopftuch tragen, gegen westliche Dominanz- und Assimilationsansprüche. Und sie decken Defizite und Widersprüche unseres westlichen Emanzipationskonzepts auf. Dies mag einer der Gründe sein, weshalb die Debatte so emotional geführt wird.

Ein erster solcher Punkt ist die Frage der Geschlechtertrennung:[14] Die islamische Frau mit Kopftuch signalisiert eine Geschlechterordnung, die von einer Verschiedenheit und einer Segregation der Geschlechter ausgeht. Diese Frage ist auch im westlichen Feminismus nicht wirklich geklärt. Zwar gehen die meisten Feministinnen von einer Gleichheit der Geschlechter aus und sind der Ansicht, dass es nur eine Frage der Zeit sei, bis die Tatsache, einem bestimmten Geschlecht anzugehören, keine gesellschaftliche Relevanz mehr hat. Doch es gibt auch westliche Feministinnen, die von einer grundlegenden Differenz der Geschlechter ausgehen (Feministinnen des Mailänder Buchladens u.a.). Der sog. Differenzfeminismus will diese Differenz zwischen Männern und Frauen nicht aufheben, sondern für Frauen in ihrer Differenz als Frauen – und nicht in ihrer Angleichung an Männer – Gleichberechtigung schaffen. Obwohl sich der Gleichheitsfeminismus politisch gegenüber dem Differenzfeminismus durchgesetzt hat, ist die Grenzziehung zwischen den Geschlechtern in der Erwerbssphäre ebenso wie im privaten Bereich vielfach aufrechterhalten geblieben. So hat sich die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung in den letzten Jahrzehnten so gut wie nicht verändert. Frauen arbeiten nach wie vor hauptsächlich in sog. Frauenberufen, Männer in typischen Männerberufen. Ebenso leisten Frauen nach wie vor den grössten Teil der Haus- und Familienarbeit. Faktisch besteht also auch in westlichen Gesellschaften eine Segregation der Geschlechter, zumindest was die Arbeit anbelangt.

Das Thema "Geschlechtertrennung" zeigt sich aber auch in der Frauenbewegung selbst. Diese hat nämlich für eine Geschlechtertrennung in bestimmten Situationen plädiert: So hat die neue Frauenbewegung von Anfang an Frauenräume für sich beansprucht wie z.B. Frauenzentren, Frauenbibliotheken, Frauenverlage usw. Inzwischen wird sogar die Frage gestellt, ob diese Geschlechtertrennung nur als eine vorübergehende politische Strategie zu verstehen sei oder ob darin nicht doch auch das Konzept unterschiedlicher Geschlechtlichkeit verborgen ist. Man denke etwa an die Pläne, die Koedukation in Schulen zumindest teilweise wieder aufzuheben, das heisst, sich in der Geschlechtertrennung einzurichten. Das Thema Geschlechtertrennung ist also noch nicht vom Tisch – auch nicht in den westlichen "modernen" Gesellschaften, hält Rommelspacher fest. In der islamischen Frau, die das Kopftuch trägt, begegnet uns nun eine Position, die ohne Umschweife die Verschiedenheit und Segregation der Geschlechter betont. Damit rührt sie an einen ungelösten, ja neuralgischen Punkt in der westlichen Debatte.

Ein weiteres Thema, das mit der Kopftuchdebatte angesprochen wird, ist die Würde oder Ehrbarkeit der Frau. Die Ehrbarkeit der Frau hat eine lange Tradition, auch in der abendländischen Geschichte, und war über Jahrhunderte ein Mittel patriarchaler Herrschaft. Die verschiedenen Praktiken der Verschleierung dienten auch in unserer Kultur dazu, die verführerische Sexualität von Frauen zu verhüllen und (Ehe-)Frauen als Eigentum eines Mannes zu kennzeichnen. An diese eigene Schleiergeschichte rührt der Schleier der muslimischen Frauen.

Andererseits führt die Verhüllung muslimischer Frauen westlichen Frauen auch vor Augen, dass das westliche Modell der sexuellen Befreiung für Frauen nicht nur grössere Selbstbestimmung mit sich gebracht hat, sondern auch neue Formen sexueller Ausbeutung von Frauen. Sexindustrie und Frauenhandel gehören zu den umsatzstärksten Branchen. Nach einem Bericht der EU-Kommission von 2003 werden jedes Jahr etwa 500'000 Frauen mit dem Ziel der Prostitution auf den Markt der Länder der Europäischen Gemeinschaft gebracht – zumeist illegal eingereiste Migrantinnen, viele davon minderjährig. Ist es nicht merkwürdig, dass die westlichen Gesellschaften und auch die westlichen Frauen sich mehr oder weniger gleichgültig gegenüber der Zwangsprostitution und dem millionenfachen Handel mit Frauen und Kindern verhalten, sich aber über das Kopftuch der muslimischen Frauen, das sie mit Unterdrückung und Zwangsheiraten verbinden, erregen und gesetzliche Regelungen fordern?[15]

Ein weiterer Aspekt, der durch die Erregung über den Schleier der "anderen" Frau verschleiert wird, ist der Zwang zur Enthüllung in unseren westlichen Gesellschaften. Die Entblössung der westlichen Frauen wird als Akt weiblicher Freiheit und Emanzipation proklamiert. Dabei wird verdeckt, dass ihre Enthüllung das Ergebnis kultureller Zwänge und Disziplinierungen ist, wie dies Christina von Braun und Bettina Matthes in ihrem Buch "Verschleierte Wirklichkeit" u.a. am Beispiel des Bikinis sehr schön aufzeigen.[16] Die Entblössung des Frauenkörpers geht heute einher mit seiner totalen Sexualisierung als Objekt der (Konsum-) Begierde und unerbittlichen Körpernormierungen, einer "Fabrikation des schönen Körpers"[17], die immer mehr Mädchen und Frauen physisch und psychisch krank machen. Die marokkanische Schriftstellerin Fatima Mernissi spricht daher sehr treffend von "Grösse 36 als dem Harem westlicher Frauen": Frauen dürfen den schlanken Körper eines heranwachsenden Mädchens nicht verlassen und müssen sich mit allen Mitteln dem normierten Körperideal anpassen.[18]

Das Thema der körperlichen Selbstbestimmung und Würde der Frau ist also auch bei uns keineswegs gelöst, sodass auch hier an einen neuralgischen Punkt der feministischen Debatte gerührt wird.

 

2.5.  Offensive Religiosität als Irritation in einer säkularen Gesellschaft

Im Kopftuchstreit geht es neben Frauenbild und Geschlechterverhältnis aber auch um Religion. Das Stück Stoff irritiert die säkulare Gesellschaft ebenso als religiöses Symbol, als öffentlich sichtbares Glaubensbekenntnis, als Zeichen eines religiös bestimmten Lebens. Denn die selbstbewusst gelebte und sich öffentliche präsentierende Religiosität muslimischer Frauen rührt an das Selbstverständnis einer Gesellschaft, die sich als säkular versteht und in der religiöse Symbole im öffentlichen Leben keinen Platz mehr haben. Gleichzeitig macht sie aber auch gesellschaftliche Widersprüche sichtbar, indem die vermeintlich säkulare Gesellschaft sich in der Auseinandersetzung mit dem Islam doch als zutiefst von christlichen Werten durchdrungen entpuppt, wenn nun plötzlich wieder von der Verteidigung der christlichen Kultur die Rede ist. Aber auch auf der individuellen Ebene verunsichert die sichtbare Religiosität muslimischer MitbürgerInnen, weil sie Fragen nach dem eigenen Glauben provoziert, die bei vielen ungeklärt geblieben sind.

Bei Feministinnen kommt hinzu, dass sie die Religion als Instrument patriarchaler Frauenunterdrückung längst ad acta gelegt haben. Auch als religiöses Symbol lehnen sie den Schleier der Musliminnen deshalb rundweg ab. Sie vermögen darin nicht eine Hingabe an Gott, sondern nur eine Unterwerfung unter eine von Männern dominierte Religion zu erkennen. Da alle Religionen von patriarchalen Strukturen und Traditionen geprägt sind, sind Religion und Emanzipation in den Augen säkularer Feministinnen unvereinbar. Schaut man sich die Geschichte des Christentums und die Folgen für Frauen an, kann man ihnen diese Sicht nicht verdenken. Das egalitäre Ethos der jesuanischen Verkündigung und die Praxis der Gleichstellung der Geschlechter im frühen Christentum sind kaum geschichtsprägend geworden. Im Gegenteil: Die Emanzipation der Frauen im 19. und 20. Jahrhundert wurde gegen die konservativen kirchlichen Kreise erkämpft, und selbst im 21. Jahrhundert kann es sich die römisch-katholische Amtskirche erlauben, Frauen aufgrund ihres Geschlechts zu diskriminieren und dies als göttlichen Willen auszugeben.

Auch das Christentum kennt den Schleier bzw. ein Schleiergebot für Frauen, um die weibliche Sexualität und die angeblich verführerische Macht der Frauen zu kontrollieren. In der Bibel gibt es vor allem zwei Stellen, die von Frauen fordern, im Gottesdienst den Kopf zu bedecken: 1 Tim 2,8–15 und das eigentliche Schleiergebot bei Paulus in 1 Kor 11,3-10. Hintergrund dieser Anweisungen waren damalige Strömungen, die Schönheit und Sexualität als etwas Gefährliches ansahen und Frauen geboten, ihre erotischen Reize zu verhüllen. Das Tragen des Schleiers wurde begründet durch die Unterordnung der Frau unter den Mann und die (sexuelle) Verführungskraft der Frauen, die durch die Männer kontrolliert werden muss.

Das Motiv von der Frau als verführerische Eva zieht sich durch die Jahrhunderte hindurch und hat für Frauen höchst negative Auswirkungen gehabt. Sexualfeindlichkeit und Unterwerfung der Frauen gingen in der christlich-abendländischen Geschichte weitgehend Hand in Hand und haben bis in die Gegenwart hinein Spuren hinterlassen.[19]

Ich vermute, dass die heftigen Reaktionen westlicher Feministinnen auf das islamische Kopftuch bzw. den Schleier sehr viel mit dieser eigenen "Schleiergeschichte", den frauen- und körperfeindlichen Traditionen der eigenen Religion zu tun haben.

 

3.  Schlussgedanken

Meine Ausführungen wollten zeigen, dass in der Kritik westlicher Feministinnen am Kopftuch Themen angesprochen werden, die auch in der eigenen Gesellschaft umstritten sind oder als ungelöste Konflikte unterschwellig mitlaufen. Insofern kann man sagen, wie ich zu Beginn behauptet habe, dass am Schleier der Anderen – unbewusst – auch eigene Probleme verhandelt werden bzw. dass diese, indem frau sie allein auf die muslimische Frau projiziert, verdrängt oder eben "verschleiert" werden.

Wenn die Kopftuchdebatte dazu führen würde, die eigenen ungelösten Fragen in Sachen Frauenemanzipation und Veränderung des Geschlechterverhältnisses wieder stärker zu debattieren, dann, aber nur dann könnte sie eine positive Herausforderung für unsere Gesellschaft darstellen.

 

Teil II:  Migration, Integration und Religion: Zur Bedeutung der Religion für das Selbstverständnis von Musliminnen der zweiten und dritten Generation

Nach der feministischen Kopftuchdebatte und ihrer kritischen Analyse will ich nun auf jenen Aspekt des Themas eingehen, der in den verschiedenen Debatten, auch den feministischen, meist zu kurz kommt, nämlich die Sicht der Betroffenen: der Kopftuchträgerinnen. Diese, eine Minderheit unter den Musliminnen, die bei uns leben, kommen in den Medien kaum zu Wort oder sie werden als manipulierte Sprachrohre der Islamisten angesehen.

Dagegen beginnen sich Musliminnen zu wehren. So hat z.B. in Deutschland die AG "Muslimische Frau in der Gesellschaft" einen Appell an die PolitikerInnen Deutschlands veröffentlicht, in dem sie sich gegen eine Stigmatisierung der muslimischen Frauen in Deutschland zur Wehr setzen und eine differenzierte, sorgfältige und verantwortungsbewusste Diskussion über den Islam und die muslimische Frau fordern.[20] Sie fordern nicht nur das Recht auf Religionsfreiheit auch für die muslimischen Gläubigen ein, sondern halten entschieden fest: Die Entscheidung für oder gegen das Tragen eines Kopftuchs liege allein in der Verantwortung einer muslimischen Frau; weder ein Kopftuchzwang noch ein Kopftuchverbot fördere die Emanzipation der Frau. Auch liesse sich das Kopftuch weder auf ein Symbol des politischen Islam noch der Frauenunterdrückung reduzieren.[21]

Schaut man sich die Gründe genauer an, weshalb muslimische Frauen bei uns in Europa ein Kopftuch tragen, so lassen sich diese nicht auf einen einzigen Nenner bringen und schon gar nicht auf den eines islamistischen Fundamentalismus. So tragen einige gläubige Musliminnen das Kopftuch, weil es für sie ein unabdingbares religiöses Gebot darstellt, während es andere aus Gründen der kulturellen Tradition oder aus Konvention tragen und manche auch als Folge von sozialem Zwang.

Immer häufiger sieht man auf den Strassen aber Musliminnen, vor allem junge, die das Kopftuch als modisches Accessoire tragen. Sie kombinieren es häufig mit dem aktuellen modischen Outfit, also z.B. auch mit engen Jeans und körperbetonten T-Shirts oder Blusen. Das Kopftuch, Ton in Ton mit oder assortiert zum Rest der Kleidung, umhüllt dabei oft ein auffällig und perfekt geschminktes Gesicht. Diese jungen Frauen heben sich damit deutlich ab von der ersten Generation Musliminnen, die meist schlicht in lange, dunkle Mäntel gekleidet sind. Diese jungen Frauen tragen das Kopftuch nach dem Motto: "Ich bin ein sauberes Mädchen, glaube an Gott und kleide mich im Übrigen, wie es mir gefällt."[22] Pop-Muslime/Musliminnen nennt die deutsche Politik- und Islamwisssenschaftlerin Julia Gerlach diese Gruppe muslimischer Jugendlicher, die westliche und islamische Lebensstile verbinden und mischen.[23]

Andere Musliminnen dagegen sehen in dieser modischen Verwendung des Kopftuchs einen Widerspruch zu dessen ursprünglichem Sinn, weibliche Reize zu verbergen und die Trägerin als gläubige Muslimin mit strenger moralischer Lebensführung auszuweisen. Interessant ist, dass es auch hier vorwiegend junge Musliminnen der zweiten und dritten Generation sind, die für sich das Kopftuch als religiöses Symbol, als Ausdruck von Frömmigkeit oder als Ausdruck eines emanzipierten islamischen Selbstbewusstseins neu entdeckt haben.

Diesem neuen Phänomen, der kopftuchtragenden, gläubigen Muslimin der zweiten und dritten Generation, sind in jüngerer Zeit einige wissenschaftliche Studien nachgegangen. Sie haben die Frage untersucht, weshalb junge, gut ausgebildete muslimische Migrantinnen das Kopftuch freiwillig anziehen, und grundsätzlicher noch: welche Rolle die Religion in einem Migrationskontext spielt und welche Bedeutung ihr für den Integrationsprozess junger muslimischer Migrantinnen der zweiten und dritten Generation zukommt.

Migrationsforschung hat sich bis vor kurzem kaum mit der Rolle der Religion beschäftigt – oder wenn, dann häufig negativ. Vor allem in Bezug auf den Islam wurde und wird Religion als integrationshemmender Faktor angesehen. Mit ihr würden sich MigrantInnen von einer als säkular verstandenen Einwanderungsgesellschaft distanzieren und das "Fremde" bewahren. Ausgehend von Studien zur Bedeutung des Islam für die Identitätsbildung junger, türkischer Musliminnen der zweiten Generation in Deutschland zeigt Gritt Klinkhammer in ihrem Beitrag in unserem Buch "Damit es anders wird zwischen uns" auf, dass ein differenzierter Blick nötig ist. Das Kopftuch kann Unterdrückung und Zwang signalisieren, aber auch das Gegenteil: ein eigener Weg der Emanzipation junger Musliminnen in einem Migrationskontext. Die Hinwendung zum Islam wird von vielen jungen, gut ausgebildeten Migrantinnen mit der Emanzipation von traditionellen Geschlechterrollen und der Entwicklung einer selbstbestimmten Identität verbunden. Dem möchte ich im Folgenden nachgehen.

 

1.  Religion, Emanzipation und Integration

Für die folgende Darstellung stütze ich mich hauptsächlich auf die Studien der Soziologin Sigrid Nökel: "Die Töchter der Gastarbeiter und der Islam" (2002) und der Religionswissenschaftlerin Gritt Klinkhammer "Moderne Formen islamischer Lebensführung" (2000) zu jungen Musliminnen in Deutschland. Klinkhammer stellt in ihrem Beitrag  "Emanzipation und Islam in der Diaspora"[24] einige der Ergebnisse dieser Studien vor.

Soweit mir bekannt ist, gibt es noch keine vergleichbaren Studien zur religiösen Identitätsbildung von Musliminnen in der Schweiz. Es gibt aber Interviews und Filmporträts. So zum Beispiel den SF-Dokumentarfilm "Allah's Töchter" von Paul Riniker, der Musliminnen zu Wort kommen lässt, die in der Schweiz leben und sich als gläubige Musliminnen verstehen – manche mit, andere ohne Kopftuch.[25]

Das Fazit der genannten Studien lautet: Das Kopftuch kann Unterdrückung und Zwang signalisieren, aber auch das Gegenteil: ein eigener Weg der Emanzipation junger Musliminnen im Spannungsfeld von Tradition und Moderne. Entgegen den üblichen Erwartungen, dass die Kopftuchträgerinnen arme, ungebildete, unterdrückte Frauen sind, zeigt sich, dass es gerade innerhalb der jüngeren Generation oft aktive, selbstbewusste, selbständige Frauen sind, die sich für das Kopftuch entscheiden. Weshalb?

- Manche tun es, weil sie auf diese Weise die Erwartungen zweier Welten zu einem eigenen Lebensentwurf verknüpfen können und damit in mehrfacher Hinsicht auch ein Stück Freiraum gewinnen. Das Kopftuch hat zugleich traditionelle und traditionsüberschreitende Bedeutung. Es erlaubt ihnen, sich in die "moderne" Öffentlichkeit hineinzubewegen und trotzdem die kulturellen Erwartungen ihres Elternhauses zu erfüllen.[26] So drückt sich für diese jungen Frauen im Kopftuch ein Ritus des Übergangs aus; ein eigener, dritter Weg zwischen Nicht-Integration und Assimilation.

- Das Kopftuch kann auch Ausdruck kultureller Identität sein, quasi ein Identitätsmarker. Positiv: um die Zugehörigkeit zur religiös-kulturellen Herkunft zu bewahren, zu betonen und zu inszenieren; negativ: um sich abzugrenzen von der Mehrheitsgesellschaft, sofern diese ihnen unfreundlich oder mit der Forderung nach Assimilation begegnet. Während die Mehrheitsgesellschaft von der Muslimin verlangt, dass sie das Kopftuch auszieht, um nicht mehr als "Fremdkörper" sichtbar zu werden, legt diese das Kopftuch an, um etwas von ihrer Fremdheit bzw. ihrer kulturellen Differenz zu bewahren.[27]

- Vor allem aber ist das Kopftuch ein Ausdruck der Religiosität der Trägerin, und zwar häufig nicht einer von aussen aufgezwungenen Religiosität, sondern eines eigenen Lebensentwurfs, der selbstbewusst Religion und Moderne verbindet. Hier wird, wie die Studie der Soziologin Sigrid Nökel zeigt, das Kopftuch nicht nur zu einer individuellen und selbstbewussten Deutung des Islam, sondern auch zum Symbol einer eigenen Deutung der Moderne. Ein neuer Typ von jungen Musliminnen wird sichtbar, die in Deutschland geboren bzw. aufgewachsen, meist gut ausgebildet sind und freiwillig das Kopftuch anziehen (häufig gegen den Widerstand der Eltern). Diese Frauen haben keinen Rückzug aus der modernen Gesellschaft im Sinn. Die bewusste Aneignung des Islam ist oft ein Akt der Emanzipation von einer als traditionell und ritualisiert wahrgenommenen Religiosität der Elterngeneration. So stellt die individuelle (Neu-) Aneignung des Islam sich für sie im Gegenteil als ein Akt der Emanzipation dar.

Die Soziologin Nilüfer Göle meint dazu: "Die Verschleierung, in modernen Kontexten gemeinhin als Zeichen für die Herabwürdigung der weiblichen Identität angesehen – als Zeichen dafür, dass Frauen weniger wert sind als Männer, dass sie passiv und im Inneren des Hauses eingesperrt sind –, wird jetzt freiwillig gerade von jenen muslimischen Frauen gewählt, die nicht mehr auf die traditionelle Rolle beschränkt, die nicht mehr im Haus eingesperrt sind, sondern sich aus den Innenräumen in die Öffentlichkeit begeben, von Frauen, die Zugang zu höherer Bildung, zum städtischen Leben und zum öffentlichen Handeln haben."[28]

Ich möchte im Folgenden diesen dritten Punkt vertiefen und kurz einige Ergebnisse aus den Studien von Klinkhammer und Nökel vorstellen, die auf Interviews mit jungen Studentinnen basieren, die das Kopftuch freiwillig tragen.

 

1.1.  Die Kopftuchträgerinnen distanzieren sich häufig von der religiösen Praxis  ihrer Familien

Gemeinhin wird das Tragen des Kopftuchs entweder auf die restriktiven und traditionellen Erziehungsmethoden der muslimischen Eltern zurückgeführt oder als Übernahme der Wertvorstellungen der Elterngeneration interpretiert. Die Studien von Nökel und Klinkhammer zeigen hingegen, dass die jungen kopftuchtragenden Frauen der zweiten Generation nicht in jedem Fall aus einem religiösen oder besonders strengen Elternhaus kommen. Immer aber wird das Elternhaus von den jungen Frauen als mehr oder weniger patriarchal wahrgenommen.[29] So distanzierten sich die befragten Frauen von der "traditionellen" Elterngeneration vor allem aufgrund ihrer unterschiedlichen islamischen Geschlechtsrollenauffassung. Gleichzeitig kritisieren die meisten der befragten Frauen die religiöse Praxis der Eltern als "oberflächlich", da diese meist nicht mit einer aktiven Aneignung und Reflexion des Glaubens und seiner Regeln einhergehe, sondern mit Bewahrung althergebrachter Traditionen zu tun habe.[30]

Die reflektierte, selbständige Aneignung von Wissen über den Islam vermittelt ihnen den Status von Expertinnen, mit dem sie gegenüber der Elterngeneration eine Art "sanfte Emanzipation" durchsetzen können, ohne in offene Konfrontation mit ihnen zu geraten.

 

1.2.  Fremdzuschreibungen führen zu einer aktiven Selbstaneignung des Islam

Die alltäglichen Erfahrungen der Zuordnung als Türkin und Muslimin durch die deutsche Gesellschaft, mit der vor allem Differenz und Nicht-Zugehörigkeit festgeschrieben wird, setzen sich bei den befragten Musliminnen als Erfahrungen der Diskriminierung fest: Denn die stereotypen Fremdbilder "der Türkin" und "der Muslimin" sind meist distanzierend und abwertend gemeint. Die Erfahrung dieser Fremdzuschreibungen hat dann dazu geführt, dass manche der Frauen sich mit dem Islam beschäftigen und sich diesen aktiv anzueignen beginnen.

Die Studien zeigen, dass diese Frauen versuchen, der erlebten Diskriminierung als Ausländerinnen und dem "impliziten Islamismusvorwurf" speziell gegenüber religiös   orientierten Migrantinnen, bewusst einen alternativen, eigenen Lebensentwurf entgegen zu setzen. Dem Stereotyp der ungebildeten, rückständigen Türkin und der fundamentalistischen Kopftuchmuslimin setzen sie die gebildete, moderne Deutsch-Türkin mit Kopftuch entgegen, die sich dem gesellschaftlichen Anspruch von Leistung, Emanzipation und Modernität selbstbewusst und eigenständig stellt. Das Kopftuch wird dabei zu einem Zeichen des Widerstandes gegen stereotype Fremdzuschreibungen, Ausdruck errungener Eigenständigkeit und dient nicht zuletzt auch der Auslotung des Toleranzverständnisses in der Mehrheitsgesellschaft. Integration wird bejaht; Assimilation, die sie als Anpassung auch in der Kleidung verstehen, wird abgelehnt.[31]

Gestützt wird das Idealbild der selbständigen, gebildeten islamischen Frau auch über historisch-legendäre Persönlichkeiten wie Hatice und Aisha, die Ehefrauen des Propheten Mohammed, und seine Tochter Fatima. Sie werden als Vorbilder für Gelehrsamkeit, wirtschaftliche Unabhängigkeit und Selbständigkeit gegenüber Männern angeführt.

 

1.3.  Die Hinwendung zum Islam als persönliches, individuelles Projekt

Islamisch-Sein begreifen die befragten Frauen vor allem als ein persönliches Projekt, als persönliche Entscheidung. Selbst jene Frauen, die bereits in jungen Jahren von den Eltern aufgefordert wurden, ein Kopftuch zu tragen, erzählen von einer späteren "bewussten" persönlichen Aneignung des Islam und des Kopftuchs. Damit rückt das Individuum in den Mittelpunkt der Religionsaneignung, und traditionelle Autoritätsansprüche können abgewertet und entmachtet werden, schreibt KIinkhammer.[32] Fast modellhaft wird von den meisten Frauen dieselbe Konversionsgeschichte erzählt: Erst haben sie sich gegen den Islam gewendet, dann wurden sie in ihrer Identität durch Diskriminierungserfahrungen erschüttert, darum haben sie nach Wissen über den Islam gesucht und herausgefunden, dass der Islam nicht wirklich frauenfeindlich ist. Erst dann sei der Wille entstanden, mit dem Kopftuch ihrer inneren Veränderung auch äusseren Ausdruck zu verleihen.

Zwang in Sachen Religion wird dabei vehement abgelehnt. Die Person ist die einzig legitime Entscheidungsinstanz in Sachen Religion, da sie allein ihre Beziehung zu Gott kenne. Die individuelle Wahl steht im Zentrum, und die religiöse Lebensführung wird als identitätsstiftend erfahren. So meint eine junge Muslimin:

"Was mir meine Religion gibt? Zunächst einmal eine Persönlichkeit. Sie gibt mir eine Antwort darauf, wo ich mich befinde, was ich bin. Wie soll ich es ausdrücken: Ich bin kein Allerweltsmensch, ich habe eine Persönlichkeit, einen Maßstab, einen Lebensstil. Und da ich dies bewusst verwirkliche, fühle ich mich eben geborgener."[33]

 

1.4.  Rückbezug auf einen frauenfreundlichen Islam

Von entscheidender Bedeutung ist bei allen Frauen die Praxis der meist autodidaktischen Aneignung von Wissen über den Islam, der Rückbezug auf die Quellen und das Leben des Propheten. Mit diesem Wissen gehen die Frauen ihre Islamisierung an und nutzen es zur Selbstbestimmung und Autorisierung gegenüber islamischen Männern. Wesentlich für diese Herangehensweise ist die Unterscheidung zwischen einem "traditionellen", von Männern interpretierten und dominierten, und einem "wahren", universalen Islam, auf den sie sich beziehen und der eine Gleichheit der Geschlechter bezeuge. Der Rückbezug auf den Koran und auf den Propheten, der, wie eine Frau es formulierte, "Frauen nie etwas Schlechtes getan hat", und der die Prinzipien islamischer Gerechtigkeit verkörpert, verleiht den Ansprüchen der Frauen Autorität.

Die Frage nach der Geschlechteridentität im Islam ist für die befragten Frauen zentral. An der schlechten Situation von Frauen in vielen islamischen Gesellschaften und auch an der untergeordneten Stellung vieler muslimischer Frauen in Deutschland sind in ihren Augen die Männer schuld. Nicht der Islam. Dieser habe den Frauen viele Rechte gebracht und der Koran verkünde die Gleichheit der Geschlechter vor Gott. Diese Gleichheit der Geschlechter ergibt sich aus den gleichen Pflichten gegenüber Gott und der Gesellschaft. Befragt zur Dominanz des Mannes in den islamischen Geschlechterbeziehungen meint eine junge Muslimin:

"Mein Gott, das hat überhaupt nichts mit dem Islam zu tun. Islam hat überhaupt nicht gesagt, dass die Frau zu Hause bleiben soll oder dass Haushalt nur für Frauen bestimmt ist. Es gibt keine koranischen Verse und kein Hadith, der so was bestätigt. Also eine Frau ist genau so –, was eine Frau nicht darf, darf auch der Mann nicht. (...) Das ist halt sehr wichtig zu unterscheiden, Tradition und Religion, also Tradition und Islam sind total verschiedene Sachen."[34]

Die Art, wie an die Geschlechterfrage herangegangen wird, zeigt ein Zitat von Amina Erbakan, Vorsitzende der Deutschsprachigen Islamischen Frauengemeinschaft (DIF), sehr schön. Diese meint:

"Wer will bestreiten, dass Gott die Frau in besonderer Weise mit der potentiellen Begabung zur Mutterschaft ausgestattet hat und dass ihr hierdurch eine Reihe individueller Rechte, z. B. Freistellungen von der Beschaffung des Lebensunterhalts und der Haushaltsführung, zukommen. Nirgendwo steht aber geschrieben, dass dies ihre einzige oder vornehmste Rolle sei, und schon gar nicht, dass sie aufgrund dieses biologischen Unterschiedes, durch den Gott sie teilnehmen lässt am lebenspendenden und lebenserhaltenden Schöpfungsakt, in irgendeiner Weise benachteiligt werden dürfe. Im Gegenteil. Und auch nirgendwo können wir finden, dass der Ehemann von Erziehungsaufgaben und Haushaltspflichten freigestellt ist. War es nicht der Prophet, der sich dadurch auszeichnete, dass er im Haushalt half und seine eigenen Sachen auch selbst in Ordnung hielt? Wie kann das eine propagiert und das andere ausgeblendet werden? Gerade die besondere Fähigkeit der Frauen, in der sich alle Aufgaben, die auch in der Gesellschaft anfallen, widerspiegeln, befähigt die Frauen in besonderer Weise, die Geschicke der Gemeinschaft zu gestalten.

Um das Ziel menschlicher Bestimmung, wie der Koran es definiert, zu erreichen, ist es jedoch weder nötig, Mutter zu sein, noch Ehefrau; völlig egalitär ist die Rolle von Mann und Frau in dieser Beziehung definiert. Allah scheint an unserem Geschlecht wenig interessiert zu sein, sondern an unserem Handeln."[35]

 

1.5.  Islamisierung der Geschlechterbeziehungen

Mit dem Rückbezug auf den Koran fordern muslimische Frauen nicht nur eine egalitäre Geschlechterbeziehung ein, sondern sie weisen auch die Männer anhand islamischer Geschlechterethik in die Schranken: Was die Frau nicht darf, darf auch der Mann nicht, und umgekehrt. Es gebe keine spezifischen Rechte, die sich auf das Geschlecht gründen. Die faktische Ungleichheit in den Geschlechterbeziehungen wird von den Frauen benannt und der Tradition zugeschrieben; sie soll in eine Praxis gerechter islamischer Ethik überführt werden. Konkret bedeutet dies, dass männliche Privilegien, die als nicht islamisch gelten, auf ein weibliches, strikter kontrolliertes Mass zurückgeschnitten werden sollen. So werden die Männer angehalten, Selbstkontrolle zu üben und sich ebenfalls sittlich zu verhalten, zum Beispiel indem sie genauso wie die Frauen gemischtgeschlechtliche Schwimmbäder meiden.[36]

In diesem Zusammenhang wird meist auf Sure 24:30f. verwiesen, in der sowohl Männer wie Frauen angewiesen werden, sich schamhaft zu verhalten. Dort heisst es:

"Sprich zu den gläubigen Männern, sie sollen ihre Blicke senken und ihre Scham bewahren. Das ist lauterer für sie. (...) Und sprich zu den gläubigen Frauen, sie sollen ihre Blicke senken und ihre Scham bewahren; den Schmuck, den sie (am Körper) tragen, nicht offen zeigen, soweit er nicht (normalerweise) sichtbar ist, ihre Tücher sich über den Busen ziehen und den Schmuck, den sie (am Körper) tragen, niemandem offen zeigen, ausser ihren Gatten, oder ihren Vätern, oder den Vätern ihrer Gatten, oder ihren Söhnen, oder den Söhnen ihrer Gatten usw."

Mit dem Anlegen des Kopftuchs akzeptieren die Frauen allerdings die islamische Auffassung, dass es der Frau obliegt, die Abgrenzung zum männlichen Geschlecht durch die Verhüllung des Körpers, insbesondere ihrer Haare, vorzunehmen.

Die von Nökel und Klinkhammer befragten Musliminnen, die sich für den Schleier bzw. das Kopftuch entschieden haben, akzeptieren damit einerseits die islamischen Geschlechterbeziehungen; andererseits weisen sie mit ihrer durch das Kopftuch öffentlich gemachten Gläubigkeit die "halbgläubigen" Männer in Schranken und erinnern die Männer an die religiösen Pflichten und den Respekt, den sie einer gläubigen Frau schulden. Klinkhammer stellt daher fest, dass das Kopftuch für diese Frauen öffentlicher Ausdruck ihrer Religiosität ist und auf ihre besondere Gebundenheit an den Islam verweist, nicht aber auf die Gebundenheit an einen männlichen Haushalt oder an das traditionelle hierarchische Geschlechterrollenkonzept.

 

1.6.  Individuelle (Neu-)Aneignung des Islam als Akt der Emanzipation

Die Studien von Klinkhammer und Nökel zeigen, dass die befragten Frauen die Hinwendung zum Islam mit der Loslösung aus alten Zwängen verbinden. Für sie ergibt sich aus ihrer neuen religiösen Identität ein Gewinn an Autorität, Status und Freiheit. Das Emanzipationspotenzial dieser jungen muslimischen Frauen ist nach Klinkhammer gross: Die Befreiung aus traditionellen Lebensmustern "nehmen sie in Form von Selbstaneignung des Islam in die Hand. Wenn auch die Auffassungen der Frauen mit dem Anlegen des Kopftuchs äusserlich gesehen wieder in traditionellen islamischen Bahnen zu verlaufen scheinen, so ist es gerade für die innerislamische Dynamik von Bedeutung, dass dies nicht auf der Basis eines traditionellen Beziehungs- und Religionsverständnisses geschieht. Die interviewten 'Kopftuch-Frauen' haben ihre Verhüllung vom Selbstverständnis her individuell gewählt. Sie fühlen sich weder an einen Mann noch an ihre Eltern massgeblich gebunden, und die Religion des Islam interpretieren sie von der Erfahrung ihrer Eigenständigkeit her."[37] Die individuelle (Neu-) Aneignung des Islam stellt sich für sie somit als ein Akt der Emanzipation dar.

 

2.  Schlussbemerkungen

Das Kopftuch ist kein eindeutiges, sondern ein vieldeutiges Zeichen. Und die Frage, wann es tatsächlich jene Bedeutung signalisiert, die die Mehrheitsgesellschaft und viele Feministinnen immer vermuten, nämlich Unterdrückung und Zwang, lässt sich nicht leicht beantworten und schon gar nicht generell.

Mit anderen Worten: Das Kopftuch als solches ist weder unterdrückend noch befreiend. Es gewinnt seine Bedeutung erst durch die jeweiligen Umstände und kann in ein und derselben Gesellschaft für unterschiedliche Frauen unterschiedliche Bedeutungen besitzen: Es wird getragen aus Tradition und Konvention, als modisches Accessoire, als Ausdruck von Frömmigkeit oder eben auch, wie wir gesehen haben, als Ausdruck eines emanzipierten islamischen Selbstbewusstseins.

Das Kopftuch ist aber nicht nur ein vieldeutiges, sondern in gewisser Hinsicht sogar ein paradoxes Symbol: So bewirkt zum Beispiel die Verschleierung, die als Symbol der Verbannung aus der Öffentlichkeit gilt, in Europa, dass muslimische Frauen sichtbarer sind als je zuvor. Junge, verschleierte, kopftuchtragende Musliminnen erscheinen plötzlich auf den Titelblättern, wie die Soziologin Nilüfer Göle konstatiert. Dabei werden sie nicht einfach nur von den Medien ans Licht gezerrt, sondern sie drängen selber verstärkt in den öffentlichen Raum, gerade indem sie mit dem Kopftuch ihre religiöse Identität und ihr Anderssein betonen. Göle schreibt: "So ist das Verschleiern eine unverhüllte Demonstration des Andersseins, obwohl das Kopftuch als solches eine Verhüllung, eine Art Maske ist."[38]

Damit verleihen muslimische Migrantinnen auch einer "Gegenidentität" Ausdruck. Mit dem Kopftuch signalisieren sie, dass sie nicht bereit sind, ihre Zugehörigkeit zum Islam zu verbergen und sich den Assimilationsforderungen der Mehrheitsgesellschaft vollständig zu unterwerfen. Göle interpretiert das Kopftuch von jungen Musliminnen bei uns auch als "freiwillige Übernahme eines stigmatisierten Symbols" und sieht darin sowohl einen Ausdruck differenter Identität als auch eine Quelle "kollektiver Selbstermächtigung", die sich gegen die Zumutungen der Mehrheitsgesellschaft richtet.[39]

Ein zweites Paradox, dass das Kopftuch für eine westliche Gesellschaft verkörpert, ist die Tatsache, dass Modernisierung und Religiosität nicht zueinander im Widerspruch stehen müssen. Denn die Religiosität der jungen Kopftuchträgerinnen ist, wie wir gesehen haben, häufig modern, ein eigener Weg der Emanzipation im Spannungsfeld von Tradition und Moderne: Mit dem Streben nach individueller Selbstaneignung des Islam zur Artikulation eines neuen weiblichen Selbstverständnisses brechen sie mit der Tradition; mit der Betonung ihrer Religiosität grenzen sie sich vom säkularen Mainstream ab und entziehen sich der Forderung nach Assimilation.

Für viele dieser jungen Frauen drückt sich im Kopftuch so ein eigener, dritter Weg aus zwischen Nicht-Integration und Assimilation. Fazit: Das Kopftuch an sich verhindert weder Emanzipation noch Integration.

Was meine eigene Position anbelangt, so ist aus all den genannten Gründen klar, dass ich gegen ein Kopftuchverbot bin und die Aufregung über das Kopftuch nicht teilen kann. Im Gegenteil: Ich sehe darin eine falsche Debatte am falschen Objekt und bin der Meinung, dass ein gesetzliches Kopftuchverbot Probleme schafft, anstatt sie zu lösen. Denn nicht das Kopftuch ist die entscheidende Frage, sondern vielmehr, ob und wie Frauen ein selbstbestimmtes Leben führen können – mit oder ohne Kopftuch.

Und ich schliesse mich der Feststellung der Sozialwissenschaftlerin Elisabeth Beck-Gernsheim an:

"Das Kopftuch führt uns vor Augen, was wir uns immer noch kaum vorstellen können: Es gibt verschiedene Wege in die Moderne, nicht bloss den einen, den wir selbst kennen und meinen. Ebenso gibt es verschiedene Wege, als Frau selbstbewusst ein eigenes Leben zu leben – sei's mit Kopftuch, sei's ohne."[40]

 

Doris Strahm

 

Fussnoten:

Christina von Braun / Bettina Mathes, Verschleierte Wirklichkeit. Die Frau, der Islam und der Westen, Berlin 2007.

Heide Oestreich, Der Kopftuchstreit. Das Abendland und ein Quadratmeter Islam, Frankfurt a. M. 2004, 157.

Vgl. Oestreich, Der Kopftuchstreit, 105f.

4  Alice Schwarzer: Über das Kopftuch-Urteil in Karlsruhe, EMMAonline 24.09.03, Abfrage vom 23.09.2004.

5  Vgl. Marieluise Beck: Religiöse Vielfalt statt Zwangsemanzipation! Aufruf wider eine Lex Kopftuch (Dezember 2003).

Ebd.

7  Vgl. dazu Simone Prodolliet: Was tut uns das Kopftuch an?, in: Olympe Nr. 20, September 2004, 169-178; Birgit Rommelspacher, Multikulturelle Dialoge. Selbst- und Fremdbilder im Widerstreit unterschiedlicher Interessen, in: Doris Strahm / Manuela Kalsky (Hg.), Damit es anders wird zwischen uns. Interreligiöser Dialog aus der Sicht von Frauen, Ostfildern 2006, 118-132.

8  zit. nach Julia Gerlach, Der Kampf um das Tuch, DIE ZEIT Nr. 29, 12. Juli 2007, 67.

9  Vgl. von Braun / Matthes, Verschleierte Wirklichkeit, 20.

10  Vgl. Birgit Rommelspacher, Anerkennung und Ausgrenzung. Deutschland als multikulturelle Gesellschaft, Frankfurt a. M. 2002, 114-117; von Braun / Matthes, Verschleierte Wirklichkeit, 210-229.

11  Brigit Rommelspacher, Anerkennung und Ausgrenzung, 113.

12  Hatice Ayten / Doris Strahm, Verschleiern und Entschleiern. Ein Briefwechsel, in: Strahm / Kalsky (Hg.), Damit es anders wird zwischen uns, 101.

13  Vgl. Rommelspacher, Multikulturelle Dialoge, 124-126

14  Vgl. zum Folgenden Rommelspacher ebd. 127.

15  Vgl. dazu von Braun / Mathes, Verschleierte Wirklichkeit, 416-428.

16  Vgl. von Braun / Matthes, Verschleierte Wirklichkeit, 155-167.

17  Vgl. von Braun / Matthes, Verschleierte Wirklichkeit, 173-184.

18  vgl.  Ayten / Strahm, Verschleiern und Entschleiern, 100.

19  Vgl. dazu ausführlicher Ayten / Strahm, Verschleiern und Entschleiern, 109-112.

20  www.muslimat-berlin.de / Appell muslimischer Frauen an die PolitikerInnen Deutschlands

21  www.muslimat-berlin.de / 12 wichtige Aspekte zur Debatte um "das Kopftuch" und muslimische Frauen /

22  Claudia Schwartz, Übersetzerinnen in zwei Welten. Junge Musliminnen auf der Suche nach einer deutsch-islamischen Identität, in: NZZ Nr. 171, 26. Juli 2004, 21.

23  Julia Gerlach, Zwischen Pop und Dschihad. Muslimische Jugendliche in Deutschland, Berlin 2006.

24  Gritt Klinkhammer, Emanzipation und Islam in der Diaspora, in: Doris Strahm / Manuela Kalsky (Hg.), Damit es anders wird zwischen uns. Interreligiöser Dialog aus der Sicht von Frauen, Ostfildern 2006, 84-97.

25  Eine Studie allgemein zu den Muslimen und Musliminnen in der Schweiz wurde 2005 herausgegeben von der Eidg. Ausländerkommission: Muslime in der Schweiz. Identitätsprofile, Erwartungen und Einstellungen. Kann heruntergeladen werden unter: www.eka-cfe.ch

26  Elisabeth Beck-Gernsheim, Wir und die Anderen. Vom Blick der Deutschen auf Migranten und Minderheiten, Frankfurt a. M. 2004, 60.

27  Vgl. von Braun / Matthes, Verschleierte Wirklichkeit, 358.

28  Nilüfer Göle, Die sichtbare Präsenz des Islam und die Grenzen der Öffentlichkeit, in: Nilüfer Göle / Ludwig Ammann (Hg.), Islam in Sicht. Der Auftritt von Muslimen im öffentlichen Raum, Bielefeld 2004, 23.

29  Klinkhammer, Emanzipation und Islam in der Diaspora, 85.

30  Klinkhammer, ebd. 85/87.

31  Klinkhammer, ebd. 88f.

32  Klinkhammer, ebd. 89

33  Zit. nach Klinkhammer, ebd. 90.

34  Zit. nach Sigrid Nökel, Die Töchter der Gastarbeiter und der Islam, Bielefeld 2002, 244.

35  Amina Erbakan, Islamische feministische Theologie – Chance oder Sackgasse?, in: Angelika Vauti / Margot Sulzbacher (Hg.), Frauen in islamischen Welten, Wien 1999, 57–83, 70.

36  Vgl. Nökel, Die Töchter der Gastarbeiter und der Islam, 245/261

37  Klinkhammer, Emanzipation und Islam in der Diaspora, 97.

38  Nilüfer Göle, Die sichtbare Präsenz des Islam und die Grenzen der Öffentlichkeit, in: Göle / Ammann (Hg.), Islam in Sicht, 23.

39  Vgl. ebd. 24.

40  Beck-Gernsheim, Wir und die Anderen, 64.

 

© Doris Strahm 2007