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Glück – eine religiöse Erfahrung?

 

Input aus christlicher Sicht im "Interreligiösen Theologiekurs für Jüdinnen, Christinnen und Musliminnen" zum Thema: "Mein ganzes Glück bist du allein (Psalm 16,2) – Die Frage nach dem Glück in den Religionen", Boldern 18./19. August 2007

 

Um diese Frage zu beantworten, muss ich zuerst umschreiben, was denn mit Glück gemeint ist. Sicherlich kann es sich nicht um das Glück handeln, das uns Werbung und Lifestyle-Magazine täglich versprechen beziehungsweise zu dem sie uns verlocken wollen: schöner zu werden, schlanker, faltenfreier, reicher, berühmter. Mit Erfolg und Glamour hat das Glück, dem ich in meinen Ausführungen nachspüren möchte, nichts zu tun. Es geht um eine andere Art von Glück. Im Gedicht "Glanz"[1] der jüdischen Dichterin Rose Ausländer kommt es wunderbar zum Ausdruck:

Glanz

Eine Welle
Glanz
herangeschwemmt
mit einer Muschel

Augenblicksglück
dieser Uferminute
aus feinen Farben

Du badest
im Glanz

Dass ich ein Gedicht gewählt habe für eine erste Annäherung an diese Art des Glücks kommt nicht von ungefähr: Denn das "Augenblicksglück", wie ich mit Rose Ausländer diese Form von Glück nennen möchte, ist eine Ver-dichtung: eine verdichtete Erfahrung mitten im Leben, ein Moment vollkommener Klarheit, völliger Präsenz, in dem für einen Augenblick sich das Leben in seiner Fülle erschliesst: "Du badest im Glanz."

 

Glückserfahrung als Selbsttranszendenz des Lebens und Sinnerfahrung

Philosophisch könnte man eine solche Erfahrung auch als Selbsttranszendenz des Lebens beschreiben: Für einen Augenblick bricht eine Dimension in die Alltagswirklichkeit ein, die für einen Moment die Begrenztheit der Endlichkeit durchbricht, ein Aufleuchten des Unendlichen im Endlichen.[2] Im Augenblicksglück begegnet uns ein Überschuss an Wirklichkeit, ein Mehrwert des Lebens, fühlen wir uns geborgen in einem grösseren Ganzen. In diesem Moment erscheint uns unser Leben als ein gutes und gelingendes Leben. Diese Glücksmomente erweisen sich so auch als Sinnerfahrungen.

 

Unverfügbares Sich-Einstellen des Glücks

Das Augenblicksglück, von dem hier die Rede ist, ist nichts, das wir herstellen, machen können. Es liegt nicht in unserer Verfügbarkeit. Es kommt unverhofft, wird uns zuteil. Manchmal an ganz unvermuteten und überraschenden Orten: bei einem Spaziergang, beim Klang von Musik, in der Stille, beim Kochen, im Lächeln eines anderen Menschen. Wir werden gefunden vom Glück. Es tritt ein als plötzliche, unverfügbare Erfahrung eines erfüllten Augenblicks – einer Erfüllung, die unsere Wünsche und Planungen übersteigt. Ein absichtsloses Sich-Finden in der Wirklichkeit, das uns für einen Moment von all unseren Ängsten und Sorgen befreit und uns ganz und gar zu uns selber bringt. Im Augenblick des Glücks erschliesst sich uns ein neuer, tieferer Zugang zur Wirklichkeit, in der wir uns für Momente ohne eigenes Zutun geborgen und aufgehoben wissen.

 

Sich vom Glück finden lassen [3]

Das Glück wird uns zuteil, es ist flüchtig und letztlich unverfügbar. Und doch gilt auch das Gegenteil: Wir müssen uns von ihm finden lassen. Es braucht eine Haltung der Offenheit und Aufmerksamkeit, um die Glücksmomente in unserem Leben geschehen zu lassen, ihnen Gewicht zu geben trotz und gerade angesichts des täglichen Unglücks, das uns umgibt, aber auch angesichts der falschen Glücksverheissungen, in die wir täglich getaucht werden. Wir müssen die echten Glückserfahrungen sammeln, einsammeln, davon erzählen – als "tägliches Brot der Ermutigung", wie die Theologin und Dichterin Dorothee Sölle es nennt, für uns und für andere.

Sie hat sich zur Aufgabe gestellt, als Theologin vom Glück zu reden: "... man muss Gott loben, um das so fromm zu sagen, das heisst: man muss sagen, was gut ist oder was uns glücklich macht. Das ist der einzige Weg, auf dem auch andere Menschen davon glücklich werden können und Glückserfahrungen machen können. Ich finde das sehr, sehr wichtig ... Es ist für mich wirklich eine ganz zentrale Sache, nicht nur über das Unglück zu reden."[4]

 

Glück in Aktion

Eine weitere Facette von Glückserfahrungen: Sie fallen uns zu, ereignen sich, doch gleichzeitig wecken sie eine neue und lustvolle Kreativität, den Wunsch, die Welt gestalten zu wollen. Die Sinnerfahrung, die sich im Augenblicksglück erschliesst, der neue Blick auf die Wirklichkeit, verändert und treibt an, sich selbst und die eigene Lebenswirklichkeit zu verändern. Die erfahrene Sinnstiftung drängt auf eine Umsetzung im Alltag. Noch einmal möchte ich Dorothee Sölle zu Wort kommen lassen, die diesen Zusammenhang von "mystischem" Augenblicksglück und politischem Glücksverständnis in einem Gedicht zu erklären versucht:

Das glück am leben zu sein

aber was nötigt dich denn herauszugehen
aus dem mystischen raum dem grüngoldenen
und warum bringst du das in zusammenhang
mit den pershing-two raketen
und ihrer besseren zielgenauigkeit

Ach kannst du das nicht verstehen
glück mehr als ich umarmen kann
angst mehr als ich atmen kann
das glück macht mich wachsen
da kann ich nicht nur bei mir bleiben
Es ist keine anstrengung und kein müssen
es ist auch kein hobby für die freizeit
es ist einfach das glück am leben zu sein
das mich verführt den frieden noch und noch zu erklären
denen die unter dem menschenfresser leben.[5]

Dieser Drang, aus sich heraus zu gehen und den "Frieden noch und noch zu erklären", ist kein moralischer Zwang. Er entspringt dem grüngoldenen Raum, dem Glanz und inneren Energiefeld des Glücks, das, davon ist Sölle überzeugt, in jedem Menschen schlummert und nur geweckt werden muss.[6]

 

Glück als religiöse Erfahrung

Was ich Ihnen da über das Glück erzähle, ist ja schön und gut, werden Sie vielleicht denken. Aber wann kommt sie endlich auf das Thema zu sprechen: Glück – eine religiöse Erfahrung? Ich bin schon längst dabei. Denn alles, was ich über das Augenblicksglück ausgeführt habe, lässt sich auch als religiöse Erfahrung deuten. Das Augenblicksglück als Erfahrung einer Tiefendimension des Lebens, als Erfahrung von Sinn, die das übersteigt, was wir an Sinn "machen" können, das Gewahrwerden des eigenen Lebens als gutes und erfülltes Leben, das Gefühl und Erleben von Verbundenheit mit einem grösseren Ganzen – all diese Facetten der Glückserfahrung sind offen für eine religiöse oder mystische Deutung. Sie können als Erfahrung von Transzendenz gedeutet werden. Das heisst aber nicht, dass sie zwangsläufig als religiöse Erfahrungen interpretiert werden müssen. Ein nicht-religiöser Mensch wird sie nicht religiös deuten. Dazu kommt, dass nicht jede Sinnerfahrung eine Glückserfahrung ist.

 

Der Kuss des Universums

Die Offenheit von Erfahrungen des Augenblicksglücks für eine religiöse Deutung hat in der christlichen Theologie in bis heute unübertroffener Weise Friedrich Schleiermacher (1768-1834) zur Sprache gebracht. Im Geist der Frühromantik hat er in seinen "Reden über die Religion" (1799) Religion als Anschauung und Gefühl des Universums definiert. Die Anschauung des Universums lässt den Menschen das Endliche als Abdruck und Darstellung des Unendlichen wahrnehmen. Im Endlichen scheint das Unendliche auf und durchbricht für Augenblicke die Oberfläche der Wirklichkeit, legt ihren tieferen Sinn frei. In der Sprache der Theologie bedeutet dieser Unendlichkeitsbezug: alle Begebenheiten in der Welt als Handlungen Gottes vorzustellen. Die staunende Anschauung des Universums führt nach Schleiermacher zu einer bestimmten existentiellen Gestimmtheit, prägt ein Unendlichkeitsgefühl aus, das er kurz und prägnant Sinn und Geschmack für das Unendliche nennt.[7]

Im Zusammenhang mit der Frage nach der Glückserfahrung als religiöser Erfahrung ist bemerkenswert, dass Schleiermacher den Augenblickscharakter der Unendlichkeitserfahrung hervorhebt: Ewig sein in einem Augenblick nennt er diese Erfahrung. Oder er spricht vom Kuss des Universums. Die frühromantische Metapher des Kusses unterstreicht zweierlei: zum einen das Moment des Augenblicks, das Bezaubernde, Flüchtige dieser Erfahrung; zum anderen, dass es das Universum selbst ist, das den Menschen ergreift und nicht umgekehrt. Es ist das Universum, die Transzendenz, die sich erschliesst: Der Mensch nimmt demgegenüber eine rezeptive Haltung ein; es geht um ein Innewerden des Unendlichen im Endlichen. Auch wenn Schleiermacher selber den Begriff des Glücks nicht braucht, so deckt sich seine Beschreibung religiöser Erfahrung weitgehend mit dem, was wir vorher über das Augenblicksglück gehört haben.[8]

 

Glück und Gnade

Die Dimension des Unendlichen, die sich im menschlichen Bewusstsein erschliesst, der erfüllte Augenblick, in dem sich der Blick auf das Ganze des Lebens enthüllt, wird christlich als Transzendenzerfahrung, als Gotteserfahrung interpretiert. Und die Unverfügbarkeit dieser Erfahrung, von der vorher die Rede war, wird christlich mit dem Begriff der Gnade ausgesagt. Theologisch gesprochen: Die Ermöglichung des Augenblicksglücks stellt sich als ein göttliches Geschenk dar, das es den Menschen ermöglicht, sich zu bejahen als bejaht (Paul Tillich), weil sie sich in diesem Moment von Gott bedingungslos angenommen wissen.

 

Transzendenzerfahrung als Impuls des Strebens nach Glück

Im Augenblicksglück enthüllt sich dem Menschen die Transzendenz oder christlich gesprochen Gott. Das bleibt nicht ohne Folgen: Dies ist eine Erfahrung existentieller Tiefe, einer Einsicht in das Leben, die bewusst macht, dass dieses Leben mehr ist als es scheint. Wir ahnen, dass das Gelingen unseres Lebens mehr ist als die Verwirklichung unserer Wünsche, Pläne und Vorstellungen; dass unser Leben gut ist, ohne unser Zutun. Und so liegt das Paradox des erfüllten Augenblicks, des Augenblicksglücks, das immer nur begrenzt und vorübergehend ist, darin, dass es unser Streben nach Glück nicht aufhebt, sondern ein entscheidender Motor ist für das unabschliessbare Streben der Menschen nach Glück.[9]

Christlich gesprochen: Im begrenzten, erfüllten Augenblick erfahren wir Spuren der göttlichen Wirklichkeit im Hier und Jetzt, das "Schon" und "Noch-Nicht" der Erlösung, des Lebens in Fülle. Die ersehnte Vollendung strahlt schon in die Gegenwart hinein und deutet gleichzeitig darüber hinaus. Mit einem Wort: Irdisches Glück und Transzendenzbezug schliessen sich nicht aus. Im irdischen Glück begegnen wir einem Überschuss an Wirklichkeit, einem Mehrwert des Lebens, einer Sinnerfahrung, die uns ahnen lässt, dass dieses Glück nicht nur von dieser Welt ist.

 

Doris Strahm

 

Fussnoten:

1  Rose Ausländer, Gelassen atmet der Tag. Gedichte, Frankfurt a.M. 1992, 111.

2  Vgl. Jörg Lauster, Gott und das Glück. Das Schicksal des guten Lebens im Christentums, Gütersloh 2004, 156f.

3  Vgl. Ulrike Metternich, "Glück, mehr als ich umarmen kann." Dorothee Sölle und die Verteilung des Glücks, in: Luzia Sutter Rehmann/ Ursula Rapp / Ulrike Metternich (Hg.), Zum Leuchten bringen. Biblische Texte zum Glück, Gütersloh 2006, 46.

4  Zit. nach Metternich, ebd. 45.

5  aus: Spiel doch von Rot und Rosen, Gedichte, Berlin 1981, 22.

6  Vgl. Metternich, "Glück, mehr als ich umarmen kann", 54.

7  Vgl. Lauster, Gott und das Glück, 160f.

8  Vgl. Lauster, Gott und das Glück, 161f.

9  Vgl. dazu Lauster, ebd., 175-180.

 

 

© Doris Strahm 2007