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Vom Kreuz mit dem Kreuze

Feministisch-kritische Blicke auf die Kreuzestheologie

 

Vortrag in der Clarakirche Basel vom 3. April 2007

 

Das Kreuz ist "in". Nicht nur das Schweizerkreuz, das seit der Fussball-WM 2006 allerorten wieder als Zeichen selbstbewusster "Swissness" T-Shirts und Taschen ziert. Auch das christliche Kreuz ist als modischer Schmuck allgegenwärtig: Es hängt an vielen Hälsen, wird von Popstars zum zeitgeistigen Kultzeichen gemacht, ziert in Gold oder Silber die Ausschnitte gerade auch von jungen Menschen. Mann und Frau trägt es da und dort bewusst als Zeichen christlicher Zugehörigkeit; für die meisten aber ist es einfach ein modisches Accessoire, das sie in keinen direkten Bezug zum Christentum mehr bringen, geschweige denn, dass sie darin ein Symbol für den gekreuzigten Christus sehen. Wer würde sich schon ein Folter- und Hinrichtungsinstrument als Schmuck um den Hals hängen!

Das Kreuz ist übrigens nicht von Anfang an das Kennzeichen des Christentums gewesen: Es wurde erst im 4. Jahrhundert durch Kaiser Konstantin zum zentralen Symbol des christlichen Glaubens. Das älteste Symbol für Christus war der Fisch, und ab dem 3. Jahrhundert wird er in Höhlengräbern häufig als der Gute Hirte dargestellt. Das Kreuz wurde bis zu dieser Zeit nur von den Gegnern der Christinnen und Christen als Spottsymbol verwendet – so gibt es eine Darstellung mit einem Esel statt Jesus am Kreuz.

Dies änderte sich im 4. Jahrhundert, als Kaiser Konstantin der Grosse im Jahr 312 vor einer entscheidenden Schlacht im Traum ein Kreuz mit der Umschrift "in diesem siege" am Himmel erblickte und ein entsprechendes Feldzeichen anfertigen liess, das ihm dann tatsächlich zum Sieg verholfen hat. Als Konstantin daraufhin das Christentum anerkennt und die Christinnen und Christen keine verfolgte Minderheit mehr sind, kann man auch den Kreuzestod Jesu Christi öffentlich bekennen. Mit der Anerkennung des Christentums als Staatsreligion des römischen Reiches wurde das Kreuz dann ab dem 5. Jahrhundert zum "offiziellen" christlichen Zeichen.

Gleichzeitig wurde durch die Konstantinische "Wende" die ursprüngliche Bedeutung des Kreuzes als Folterinstrument verwischt: Das Kreuz ist nun ein imperiales Symbol, und damit wird der Weg geebnet für seine Perversion als Siegeszeichen der westlichen Kreuzzugs-, Kolonialisierungs- und Unterwerfungsgeschichte. Im Mittelalter wuchs die Bedeutung der Kreuzessymbolik durch die zahlreichen Kruzifixe und insbesondere auch durch die zahlreichen Triumphkreuze in Kirchen und Kathedralen. Und bis heute ist das Kreuz das "Markenzeichen" des christlichen Glaubens geblieben, schmückt es die christlichen Altarräume und Kirchturmspitzen.

Auch wenn der religiöse bzw. christliche Analphabetismus in unseren Gesellschaften immer mehr um sich greift, so gehört die Theologie des Kreuzes zum kulturellen Nährboden, der in unserer abendländischen Kultur von der christlichen Religion und ihren theologischen Botschaften mitgeprägt worden ist. Während Jahrhunderten und bis hin zu meiner Generation, der heute 50-Jährigen, ist das Kreuz, ist die Theologie vom erlösenden Kreuzes- und Opfertod Jesu Christi als Kernbotschaft des Christentums wirksam gewesen. Sie hat nicht nur christlich erzogene Menschen geprägt, sondern sie hat als Bildprogramm sowie durch die grossen Werke geistlicher Musik und Literatur unsere abendländische Kultur durchtränkt – auch wenn dies heute vielen Menschen wohl nicht mehr bewusst ist.

Ich will in meinem Vortrag den Fragen nachgehen, was denn nun eigentlich die theologische Deutung und Bedeutung des Kreuzes ist, welche kritischen Anfragen vor allem Frauen seit einigen Jahren an die herkömmliche kirchliche Kreuzestheologie stellen und ob es angebracht ist, weiter vom Kreuz als Heilszeichen zu reden.

Beginnen möchte ich mit dem, was die historische Grundlage der Kreuzestheologie bildet, nämlich die Kreuzigung Jesu.

 

I.  Die christliche Kreuzestheologie

1.  Das christliche Kreuz ist kein zeitlos religiöses Symbol, sondern erinnert an die historische Kreuzigung Jesu

Das christliche Kreuz symbolisiert den Kreuzestod Jesu. Nach den Zeugnissen des Neuen Testamentes wurde Jesus von Nazaret um das Jahr 30 durch den römischen Präfekten Pontius Pilatus an einem Kreuz hingerichtet. In der römisch-hellenistischen Umwelt galt dieser qualvolle, sich oft viele Stunden hinziehende Erstickungstod als die grausamste und schändlichste aller Hinrichtungsarten. Zur Zeit Jesu wurde die Kreuzigung von den Römern gegenüber Gewaltverbrechern, Hochverrätern und vor allem gegenüber Aufständischen der unterworfenen Völker eingesetzt. Viele jüdische Menschen vor und nach Jesus wurden so zu Tode gefoltert, auch viele Frauen.

Als Aufständische wurden von den römischen Machthabern dabei nicht nur die bewaffneten Rebellen gefürchtet, sondern ebenso religiöse Gruppierungen wie z.B. jene von Jesus und seinen Jüngerinnen und Jüngern, die das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit mitten in einer Welt der Ausbeutung und brutalen Unterwerfung ankündigten und lebten. Auch wenn die Jesusbewegung nicht direkt eine anti-römische Aufstandsbewegung war, stellte ihre Verkündigung des Messias, mit dem das Reich Gottes anbricht, für die römischen Besatzer offenbar eine Gefahr dar.

Die Kreuzigung Jesu durch die römischen Machthaber war für seine Jüngerinnen und Jünger ein tiefer Schock. Ihr Glaube, dass Jesus der erwartete Messias und Sohn Gottes sei, dass in ihm das Reich Gottes angebrochen und Besatzung, Unrecht und Gewalt ein Ende haben, wurde durch die brutale Hinrichtung Jesu zerstört. Doch die biblischen Schriften überliefern, dass mit dem Kreuzestod Jesu für seine NachfolgerInnen nicht alles zu Ende war: Seine verzweifelten Anhängerinnen und Anhänger, die eben dabei waren, sich in alle Winde zu zerstreuen, machen die Erfahrung und bezeugen: Gott hat Jesus auferweckt. Er ist auferstanden. Er lebt.

Dieser Glaube an die Auferstehung Jesu, der zunächst von den Frauen verkündet wurde, die am Ort der Hinrichtung und beim Grab ausgeharrt hatten, ist die Geburtsstunde des Christentums. Das was Jesus verkündet und gelebt hat, seine Botschaft von einem Leben in Fülle für alle Menschen, ist nicht gescheitert.

 

2.  Die Anfänge der Kreuzestheologie: Die Kreuzigung Jesu muss verarbeitet und theologisch gedeutet werden

In den neutestamentlichen Texten gibt es keine einheitliche Deutung des Kreuzestodes Jesu. Die Leidensgeschichten der vier Evangelien halten sich in der Beantwortung der Frage nach Sinn und Ziel des Leidens Jesu zurück. Sie kennen den Begriff des Opfers noch kaum. Doch für die späteren Gemeinden verlangt das Faktum der Hinrichtung Jesu nach Deutung. Die Niederlage, das Scheitern des Messias, als das sein Tod angesehen wird, zwingen dazu, der Katastrophe Sinn zu verleihen, ja sie sogar als von Gott gewollt und notwendig zu bejahen – gerade auf dem Hintergrund der Auferstehungserfahrung. So beginnt innerhalb des Neuen Testaments eine Vielzahl von Deutungsversuchen.

Geschöpft wird dafür aus einem breiten Reservoir von vorliegenden religiösen Mustern. Eines dieser theologischen Muster, das zur Deutung herangezogen wird, ist die prophetische Märtyrer-Theologie Israels. Diese besagt, dass das standhafte Leiden und der Tod der Gerechten nicht die Macht, sondern gerade die Ohnmacht der Mächtigen zur Schau stellt (vgl. Dan 3-7; 2 Makk 7; Röm 8,31-39;  Kol 2,14f). Das Blut der Märtyrer kann dabei als stellvertretend vergossen und die Sünden des gesamten Volkes sühnend verstanden werden oder als (er)lösender "Blut-Preis" zur Befreiung Israels und aller Völker aus der Sklaverei (4 Makk 6,27-29; 17,21-22; Jes 53; Apk  5,9; 7,14 ). Diese Theologie des Sühnopfers wird nun im Neuen Testament da und dort und dann vor allem von Paulus in Röm 3,25 und Röm 8,32 zur Deutung des Todes Jesu aufgenommen.

In der späteren christlichen Theologie wird diese theologische Deutung des Kreuzestodes Jesu in den Vordergrund gerückt. Im Gegensatz zum Neuen Testament, das die Heilsbedeutung des Todes Jesu an keiner Stelle von der Heilsbedeutung seines Lebens und seiner Auferstehung trennt, wird in der christlichen Theologie nun aber mehr und mehr das Kreuz allein zum Brennpunkt des Erlösungshandeln Gottes: Nicht mehr die Auferstehung, sondern der Kreuzestod sei das eigentliche Heilsgeschehen gewesen. Durch den Opfertod seines Sohnes habe Gott uns Menschen von der Sünde erlöst.

 

3.  Der Kreuzestod Jesu wird als Teil eines überzeitlichen göttlichen Heilsplans und als unverzichtbar für unser Heil verstanden

Diese Kreuzestheologie, die auf die bei Paulus angelegte "Theologie des Kreuzes" zurückgeht – Jesus ist am Kreuz "für uns" gestorben und hat uns von den versklavenden Mächten Sünde, Gesetz und Tod befreit – erhält bei den lateinischen Kirchenvätern eine neue Perspektive: Der wegen Adams Sünde beleidigte Vater-Gott musste durch das ihm in Gehorsam dargebrachte stellvertretende Sühnopfer des Sohnes wieder versöhnt werden. In der westlichen Theologie rückt nun der Leidenstod Jesu Christi, der als freiwillige Sühnetat verstanden wird, ins Zentrum der Lehre von der Erlösung.

Einen besonderen, bis in die Gegenwart hineinwirkenden Einfluss hatte die Theologie von Anselm von Canterbury (1033–1109): die sog. Satisfaktionstheorie. Christus erlöst, indem er stellvertretend für die Menschheit eine unendliche Genugtuung, satisfactio, für die Sünde der Welt leistet. Anselm geht davon aus, dass der Ungehorsam und die Sünden der Menschen die göttliche Ordnung zerstört und damit die Ehre Gottes verletzt haben. Deswegen muss Gott Genugtuung geleistet werden. Diese aber kann der Mensch von sich aus nicht leisten, weil die Sünde zu gross ist. Andererseits kann er aber nicht erlöst werden, wenn er nicht bezahlt. In diesem Dilemma gibt es nur eine Lösung: Nur ein Gott-Mensch kann die geforderte Genugtuung bringen. Gott wurde in Jesus Christus Mensch, um die Schuld selbst auf sich zu nehmen und durch seinen Tod, den er freiwillig auf sich genommen habe, die Sünden der Menschen aufzuwiegen. Durch diese stellvertretende Genugtuung seien die Menschen wieder mit Gott versöhnt und hätten Zugang zum göttlichen Heil. Unter dem Einfluss dieser Satisfaktionslehre, welche die weitere westliche Theologie ganz stark geprägt hat, konzentriert sich die christliche Erlösungsbotschaft schliesslich fast ganz auf Opfer, Leiden und Kreuz Jesu Christi.

Bis heute gehört es zu den zentralen Glaubensaussagen des Christentums, dass der Opfertod Jesu am Kreuz für das Heil der Menschen notwendig war. Moderne Theologen reden zwar häufig nicht mehr vom Opfertod Jesu, sondern seiner Hingabe für die Erlösung der Welt. So interpretierte z.B. Jürgen Moltmann die Kreuzigung als Jesu Hingabe an Gott und an uns. Aus freien Stücken habe sich Jesus hingegeben, um uns Menschen zu erlösen. Seine Selbsthingabe sei Ausdruck der Liebe zu uns Menschen. Oder es wird gesagt, dass der Kreuzestod Ausdruck der Liebe Gottes sei, der seinen Sohn für uns opfere, um uns von der Sünde zu befreien. Aber auch in diesen modernen Deutungen bleibt die grausame Hinrichtung Jesu am Kreuz Teil eines göttlichen Heilsplans.

 

II.  Feministische Kritik an der herkömmlichen kirchlichen Kreuzestheologie

Diese Form der Kreuzes- respektive Opfertheologie, wie ich sie skizziert habe und wie sie bis heute in unzähligen Kirchenliedern und liturgischen Texten tradiert wird, wurde von feministischen Theologinnen seit den Anfängen feministischer Theologie heftiger Kritik unterzogen. Sie knüpfen dabei zum Teil an Traditionen der Christentumskritik an, wie sie Goethe, Nietzsche oder Ernst Bloch formuliert haben, führen diese aber weiter und, was neu ist: Sie untersuchen die herkömmliche Kreuzes- und Opfertheologie bezüglich ihrer Wirkungsgeschichte für Frauen, arbeiten deren frauenunterdrückenden Charakter heraus.

Ich möchte Ihnen im Folgenden einige der wichtigsten feministischen Kritikpunkte vorstellen. Ich beschränke mich dabei auf die Sicht westlicher Theologinnen, die bei ihrer Kritik die Situation von Frauen in unserer europäischen Kultur vor Augen haben.

 

1.  Die herkömmliche Opfertheologie vermittelt ein patriarchales und sadistisches Gottesbild

Diese scharfe Kritik am Gottesbild, das der Kreuzestheologie zugrunde liegt, hat die deutsche Theologin Dorothee Sölle bereits anfangs der 1970er Jahre erhoben. Die christliche Kreuzestheologie zeichne nämlich einen Gott, der ein Opfer braucht, um sich versöhnen zu lassen, der Leiden oder die Opferung seines eigenen Sohnes als Strafe für unsere Sünden verhängt. Für Dorothee Sölle steht fest: "Jeder Versuch, das Leiden als unmittelbar oder mittelbar von Gott verursacht anzusehen, steht in der Gefahr, sadistisch über Gott zu denken."[1] Denn wie können angesichts des Leidens und des Todes Unschuldiger die Attribute Allmacht, Gerechtigkeit und Liebe auf ein und denselben Gott zutreffen, ohne dass dieser Gott als sadistisch gedacht werden muss?

Viele christliche Frauen, auch Nicht-Theologinnen, teilen diese Kritik. So stellte eine Teilnehmerin an einer Tagung zum Kreuz die Frage: "Wie soll ich meinem Kind erklären, was ich selbst als Mutter kaum akzeptieren kann, nämlich, dass ein Vater seinen Sohn zur Schlachtbank führt? Was ist das für ein Gott?" Eine andere fügte hinzu: "Für mich das Blutvergiessen? So schlimm soll ich sein, dass ein Mensch geopfert werden muss ... wegen mir? Hätte es denn keine andere Möglichkeit gegeben, die Welt zu erlösen?" Dem sadistischen Gott korrespondiert auf der anderen Seite, das kommt im zitierten Statement zum Ausdruck, ein durch und durch sündiger, ohnmächtiger Mensch.

 

2.  Die Verknüpfung von Opfer und Liebe transportiert ein gefährliches Beziehungsmodell

Das Problem eines sadistisch pervertierten Gottesbildes verschärft sich für feministische Theologinnen aber noch insofern, als gesagt wird, dass das Kreuzesgeschehen nicht nur dem Willen Gottes entspricht, sondern dass darin auch die Liebe Gottes zum Ausdruck kommen soll. Seinen eigenen Sohn zu opfern, ans Kreuz auszuliefern, ist für viele Theologinnen jedoch eine absolute Pervertierung dessen, was Liebe ist.

Für andere Theologinnen widerspiegelt das Verhältnis von Vater und Sohn, das in dieser Form der Kreuzestheologie zum Ausdruck kommt, aber genau die Normen und Werte der traditionellen patriarchalen Familienordnung, die Liebe als Gehorsam und Unterwerfung, als Opfer und Hingabe verstanden hat. Der unschuldige Sohn, der in freiwilliger Unterordnung unter den Willen des Vaters und aus Liebe zu ihm, Folter und Demütigung erträgt, und der göttliche Vater, der das Leiden und Opfer des Sohnes um der Erlösung der Welt willen verlangt bzw. zulässt – diese Vorstellung beinhaltet nicht nur eine unheilvolle Verknüpfung von Liebe und Opfer, sondern akzeptiert implizit den Missbrauch von Kindern als göttliches Verhalten und sanktioniert es damit. Im Kontext von sexueller Gewalt und Missbrauch ist dies ein ganz gefährliches theologisches Modell, wie neuere feministisch-theologische Untersuchungen zeigen

 

3.  Leiden als erlösend zu verkünden, fördert Akzeptanz von häuslicher und sexueller Gewalt

Die feministische Kritik an der traditionellen Kreuzestheologie ist in den letzten Jahren vor allem im Zusammenhang mit ihren Auswirkungen auf Gewalt betroffene Frauen und Kinder weitergeführt worden. Das theologische Modell von Christus, der sich in Gehorsam gegenüber seinem Vater dem Leiden am Kreuz unterwirft, enthalte die Botschaft, dass Leiden erlösend sei, und diene als ein Beispiel für all jene, die unter patriarchaler Unterdrückung leiden. Es fördere damit die Akzeptanz der Gewalt an Frauen und Kindern, die sich ebenfalls der familiären und häufig auch der sexuellen Gewalt des Vaters zu unterwerfen haben.

Feministische Theologinnen, die sich in der Gewaltprävention engagieren, wie meine Kollegin Regula Strobel, kritisieren, dass die Kreuzestheologie, indem sie Leiden, Opferbereitschaft und Selbstverleugnung als erlösende Verhaltensweisen propagiert, gewaltbetroffene Frauen darin bestärke, sich mit der Gewaltsituation abzufinden, Leiden und Gewalt zu ertragen statt aktiv gegen die Gewaltsituation zu kämpfen. In diesem Sinne kann die christliche Opfertheologie Gewaltstrukturen festigen, Opfer in ihrem Opfersein festhalten und Täter entlasten.

 

4.  Die christlich idealisierte Rede vom Opfer vertuscht oder legitimiert gesellschaftliche Gewalt

Wenn die christliche Rede vom Kreuz eine brutale Gewalttat wie die Hinrichtung Jesu aus dem historischen und sozialen Kontext herauslöst, sie spiritualisiert und mit dem erlösenden Handeln Gottes in Verbindung bringt, verharmlost sie die Gewalttat. Indem das Leiden Jesu am Kreuz instrumentalisiert wird als notwendiges und erlösendes Opfer für uns, das von Gott zugelassen bzw. von seinem Sohn erbracht wird, verschwinden die Verursacher seines Leidens und gewaltsamen Todes aus dem Blickfeld. Zudem wird dadurch nicht mehr unterschieden zwischen vermeidbarem, durch Gewalt verursachtem Leiden, und unvermeidbarem Leiden wie z.B. Krankheit. Dies entlastet davon, die Mechanismen, die vermeidbares Leiden verursachen, zu benennen, ihre Verursacher ausfindig zu machen und für eine Veränderung der Unrechts- und Gewaltstrukturen einzutreten.

Die Vorstellung, dass Gott selber das Leiden und den gewaltsamen Tod seines Sohnes um der Erlösung der Welt willen verlangt oder zumindest zulässt, "heiligt" zudem Leiden, Opfer und Gewalt als Mittel zur Erlösung. – Eine Vorstellung, die längst keine exklusiv christliche mehr ist, sondern zu einer gängigen gesellschaftlichen und politischen Argumentationsfigur geworden ist, wenn gesagt wird, dass zur Rettung, zur Lösung einer schwierigen Situation oder zur Erreichung "höherer Ziele" Opfer nötig bzw. unvermeidbar sind. Damit geraten die Täter aus dem Blickfeld und werden nicht zur Verantwortung gezogen.

Dies ist ein weiterer Grund, weshalb die christliche Opfertheologie keine befreiende Gegenvision zu den bestehenden Gewaltverhältnissen darstellt, sondern deren "Normalität" stützt. Wer Gewalttaten und die Opferung von Menschen als sinnvoll oder notwendig erklärt, rechtfertigt sie und trägt zur Akzeptanz von Gewalt als legitimem Mittel bei.

 

5.  Christliche Nachfolge als "imitatio" des leidenden und sich opfernden Christus: eine schädliche Ethik für Frauen

Als besonders schädlich für Frauen stellt sich die christliche Nachfolge-Ethik heraus. Nachfolge Jesu wurde von den christlichen Kirchen vor allem als Imitation des leidenden Christus verkündet: Jeder und jede nehme sein/ihr Kreuz auf sich. Für Frauen, die über Jahrhunderte auf Tugenden wie aufopfernde Liebe, Ertragen von Leiden, Demut und Gehorsam festgelegt waren, hat sich dieser Aspekt der Kreuzesverkündigung besonders verheerend ausgewirkt. Sie diente dazu, Frauen klein und unterdrückt zu halten: Sie forderte sie auf, ihr Kreuz auf sich zu nehmen und z.B. einen gewalttätigen Ehemann, sexuelle und psychische Gewalt, gesellschaftliche Diskriminierung und unerfüllte Wünsche nach Selbstverwirklichung geduldig zu ertragen.

So stabilisierte eine Ethik der Nachfolge Christi, in der freiwillige Selbstaufopferung, Selbstverleugnung, Ertragen von Leiden und Demut im Zentrum stehen, weibliche Rollenmuster und belegte jeden Wunsch nach einem selbstbestimmten Leben mit moralischen Skrupeln und Schuldgefühlen.

 

6.  Das Christentum erotisiert das Leiden und verteufelt Lebensfreude und Lust

Der Vorwurf, das Christentum habe eine leidensverherrlichende und freudlose Kultur hervorgebracht, ist nicht neu. So mokierte sich zum Beispiel schon Friedrich Nietzsche über eine Religion, die Erlösung predigt, deren Anhänger aber alles andere als erlöst aussehen. Auch viele feministische Theologinnen fragen sich, welche Lebenskraft aus einer Religion kommen kann, deren Gott seinen einzigen Sohn foltern und sterben lässt.

Und welche Folgen hat es, wenn die christliche Religion und Kultur die Menschen über Jahrhunderte darauf konditioniert hat, einen gemarterten, toten Körper anzusehen, ja mehr noch: in ihm Erlösung zu sehen? Was sehen wir, wenn wir in unseren Altarräumen immerzu einen geschundenen Körper ansehen – ans Kreuz genagelt, der Körper mit Striemen überzogen, das Gesicht im Todeskampf verzerrt? Wie ist dieser Gekreuzigte in unseren Altarräumen auszuhalten? Sehen, empfinden wir überhaupt noch etwas – oder bewirkt die Gewohnheit und die theologische Überhöhung dieses Todes, dass wir auf Leiden und Todesqual schauen, ohne mit der Wimper zu zucken?

Die christliche Bild-Galerie ist voll von Bildern des Leidens; ja die christliche Tradition hat geradezu eine Erotik des Schmerzes und des Leidens entwickelt, während das lustvolle Begehren, die körperliche Liebe, ja der sinnenfreudige Körper überhaupt vom Christentum als sündig unter Verdacht gestellt und lange Zeit regelrecht verteufelt worden ist. Auch dies ist eine der Kehrseiten der christlichen Fixierung auf erlösendes Leiden und Tod, die besonders Frauen über Jahrhunderte am eigenen Leib erfahren mussten. Für die "Fülle des Lebens", die Jesus verheissen hat, aber auch für die zentrale christliche Botschaft vom Heilwerden der Menschen und von der Auferstehung vom Tod ins Leben, von einem Gott des Lebens, hat die christliche Kirche keine Bildtradition entwickelt, die in der Lebenspraxis der Einzelnen als auch in der Praxis der Kirchen in gleicher Weise prägend und wirksam geworden ist wie die Predigt vom Kreuz.

 

III. Ausblick: Eine andere Rede vom Kreuz

1.  Die Rede vom Opfertod Jesu als von Gott gewollte Heilstat um der Erlösung von der Sünde willen ist aufzugeben

Die geschilderte grundlegende Kritik an der christlichen Kreuzes- und Opfertheologie führt westliche feministische Theologinnen zum Schluss, dass die herkömmliche Kreuzestheologie, die Deutung des Kreuzestodes Jesu als von Gott gewollte Heilstat um der Erlösung von der Sünde willen, abzulehnen ist und nicht weiter in Liturgie und Predigt tradiert werden sollte. Dies heisst für die meisten feministischen Theologinnen aber nicht, dass eine christliche Rede vom Kreuz überhaupt aufgegeben werden soll. Doch wenn sie das Kreuz aufgreifen, dann wird der Kreuzestod Jesu nicht mehr mit Opfer und Erlösung von der Sünde verbunden und auch nicht als objektive göttliche Heilstat verstanden.

Viele Theologinnen, vor allem befreiungstheologisch orientierte, interpretieren das Kreuz vom Leben und der Praxis Jesu her: als Konsequenz seines Eintretens für das Reich Gottes – für eine andere Welt, in der Unrecht und Ausbeutung von Menschen ein Ende haben, in der eine neue Form der Gemeinschaft zwischen Menschen möglich ist und Frauen, Männern und Kindern ein "Leben in Fülle" verheissen ist. Bis heute ist diese Form des Kreuzes als Konsequenz eines kompromisslosen Eintretens für die Gerechtigkeit Gottes in unserer Welt grausame Realität. Entscheidend ist deshalb, dass das Kreuz nicht einfach spiritualisiert wird, sondern dass in der Rede vom Kreuz die politische und historische Dimension zum Ausdruck kommt, dass die Rede vom Kreuz Christinnen und Christen dazu auffordert, in der Nachfolge Jesu Partei zu ergreifen für die, die an den Rand gedrängt und eines menschenwürdigen Lebens beraubt werden.

 

2.  Das Kreuz als Protest und Mahnmal: Unsere Kreuze heute sichtbar machen

Die entscheidende Frage ist, wo unsere Kreuze heute stehen, und diese sichtbar zu machen. Wer wird heute ans Kreuz geschlagen? Vor allem in den Ländern der sog. Dritten Welt sind im Zuge der Befreiungstheologie solche Kreuze als Protest- und Mahnmale entstanden, haben Menschen sich in ihrem Leiden mit dem gekreuzigten und gefolterten Gottessohn identifiziert. Der unterdrückte Indio, die ausgebeutete Campesina, der afrikanische Flüchtling, die asiatische Fabrikarbeiterin am Kreuz sie alle drücken aus, wo heute die Kreuze stehen, wie Menschen in ihrem Leiden Christus als Identifikationsfigur zu einem der ihren gemacht haben, der sie in ihrem Leiden und ihrem Ringen um Befreiung begleitet.

Auch bei uns gibt es diese Form der Aktualisierung und Verortung des Kreuzes in unserer heutigen Welt: der Kreuzweg durch Basel, der jeweils am Karfreitag stattfindet, will genau dies: zeigen, wo heute die Kreuze stehen; wo Menschen heute ans Kreuz geschlagen werden. An dieser Bedeutung des Kreuzes – als Vergegenwärtigung und Sichtbarmachen von Leiden, Unrecht und Gewalt – möchte ich persönlich festhalten: Nicht, um es mit Sinn zu erfüllen, sondern um es anzuklagen, zu verneinen, es nicht einfach hinzunehmen.

So ist auch die Frau am Kreuz, die in den letzten Jahren da und dort von Künstlerinnen geschaffen wurde, ein Versuch, die Leidensgeschichten von Frauen sichtbar zu machen und anzuklagen: Sie hat Protest hervorgerufen – ein Frauenkörper am Kreuz, eine weibliche Version des Gekreuzigten scheint eine besondere Provokation zu sein und zeigt, wie tief unsere Bilder von Gott als männlich in uns verankert sind.

Die Darstellung einer Frau am Kreuz hat aber auch Betroffenheit ausgelöst: Frauen sehen darin ihre Leidensgeschichte dargestellt, ihre Magersucht, ihre Selbstentwertung, ihr unerfülltes Leben, ihre Erfahrungen von sexueller Ausbeutung und Vergewaltigung.

Es ist mir wichtig zu betonen, dass das Kreuz als Symbol, wie alle Symbole, vielschichtig ist und nicht auf eine einzige Bedeutung reduziert werden kann. Menschen verknüpfen unterschiedliche Erfahrungen bzw. Deutungen mit dem Kreuz, auch viele, die in keinem theologischen Lehrbuch zu lesen sind. So werden auch Sie sich vielleicht fragen: "Welches ist denn mein Kreuz?" Es ist wichtig, diesen eigenen, existenziellen Erfahrungen Raum zu geben: der Wirkungsgeschichte der christlichen Kreuzestheologie im eigenen Leben, aber auch dem je eigenen Kreuz, das wir mit uns tragen.

 

3.  Heilbringend sind Leben und Auferstehung Jesu, nicht sein Tod

Auch wenn viele feministische Theologinnen die Rede vom Kreuz nicht aufgeben wollen, so betonen sie gleichzeitig, dass das Kreuz nicht isoliert, wie dies in der kirchlichen Tradition des Westens geschehen ist, im Zentrum der christlichen Theologie stehen darf. Das Kreuz muss wieder im Zusammenhang mit dem Leben und der Auferstehung Jesu gesehen werden. Denn das eigentlich erlösende Ereignis ist ja nicht der Tod Jesu gewesen, sondern seine gelebte Botschaft vom Reich Gottes und die Erfahrung der Auferstehung.

Am Anfang des christlichen Glaubens steht nicht das Kreuz, wie ich zu Beginn meiner Ausführungen gezeigt habe, sondern die Erfahrung der Jüngerinnen und Jünger Jesu, dass mit Jesu Kreuzestod der Tod nicht gesiegt hat, dass Gott Jesus auferweckt und seine Botschaft vom Reich Gottes bestätigt hat. Diese Erfahrung setzte bei den Jüngerinnen und Jüngern Jesu Auferstehungsprozesse in Gang. Das heisst: Sie, die voller Angst geflüchtet waren und deren Hoffnung tot war, wurden zum Leben erweckt und mit der Aufgabe betraut, die Arbeit am Reich Gottes weiterzuführen.

 

4.  Auferstehungsmomente in unserem Leben wahrnehmen und Auferstehungsprozesse in Gang setzen

So wie die Auferstehung Jesu damals im Leben der Jüngerinnen und Jünger Auferstehungsprozesse in Gang gesetzt hat, so sollten auch wir heute Auferstehungsmomente in unserem Leben wahrnehmen und Auferstehungsprozesse in Gang setzen. "Auferstehung" umschreibt für viele feministische Theologinnen den Glauben, dass die Erfahrung eines gerechten und lebenspendenden Gottes stärker ist als die Erfahrungen des Scheiterns, des Unrechts und des Todes, die wir täglich vor Augen haben. Auferstehung umschreibt die Erfahrung, dass schon jetzt immer wieder Auferstehung zum Leben geschieht: ein Aufstehen aus Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit; die Erfahrung, dass uns dort, wo alles tot und zerbrochen schien, plötzlich neue Lebensmöglichkeiten geschenkt werden.

Aufgabe der Theologie müsste es sein, diesen Auferstehungserfahrungen ebenso Ausdruck zu geben wie der Erfahrung des Kreuzes; neben dem Kreuz Symbole und Bilder anzubieten, die von der Auferstehung vom Tod ins Leben erzählen: der Auferstehung der unterdrückten Körper von Frauen, Männern und Kindern, von der Auferstehung der Hoffnung, der Gerechtigkeit und der Liebe.

 

Doris Strahm

 

Verwendete Literatur

Andrea Bieler, Art. Kreuz, feministisch-theologische Perspektiven, in: Elisabeth Gössmann et al. (Hg.), Wörterbuch der Feministischen Theologie, 2. vollständig überarbeitete Auflage, Gütersloh 2002, 355-357.

Ulrike Eichler / Ilse Müllner, Sexuelle Gewalt gegen Mädchen und Frauen als Thema der feministischen Theologie, Gütersloh 1999.

Claudia Janssen / Benita Joswig (Hg.), Erinnern und aufstehen – antworten auf Kreuzestheologien, Mainz 2000.

Brigitte Kahl, Art. Kreuz, biblisch, in: Elisabeth Gössmann et al. (Hg.), Wörterbuch der Feministischen Theologie, 2. vollständig überarbeitete Auflage, Gütersloh 2002, 350-353.

Dorothee Sölle, Leiden, Stuttgart 1973.

Regula Strobel, Opfer oder Zeichen des Widerstandes? Kritische Blicke auf problematische Interpretationen der Kreuzigung Jesu, in: Claudia Janssen / Benita Joswig (Hg.), Erinnern und aufstehen – antworten auf Kreuzestheologien, Mainz 2000, 68-82.

Regula Strobel, Art. Kreuz, feministisch-theologische Kritik, in: Elisabeth Gössmann et al. (Hg.), Wörterbuch der Feministischen Theologie, 2. vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage, Gütersloh 2002, 347-350.

Fussnoten

1  Dorothee Sölle, Leiden, Stuttgart 1973, 37.

 

 

© Doris Strahm 2007