Text in PDF-Format öffnen

Der religiösen Vielfalt Raum schaffen: Erfahrungen, Erkenntnisse, Perspektiven am Beispiel des interreligiösen Dialogs von Frauen

 

Vortrag an der OeME-Jahrestagung des Kantons Luzerns am 28. Oktober 2006

 

Wir leben in multireligiösen Gesellschaften: Durch die Migrationsprozesse der letzten Jahrzehnte hat sich die religiöse Landkarte Westeuropas und auch der Schweiz verändert. Nicht mehr nur viele unterschiedliche christliche Gruppierungen sind zu verzeichnen, sondern auch nicht-christliche Religionsgemeinschaften sind Teil unserer Gesellschaft. Ca. 350'000 MuslimInnen, 38'000 Hindus, 21'000 BuddhistInnen, 18'000 Jüdinnen und Juden leben unter uns. Die Schweiz ist multireligiös geworden, auch wenn diese Vielfalt der Religionen erst wenig sichtbar ist. Noch dominieren Kirchtürme unsere Städte und unsere Landschaft. Erst ganz vereinzelt sind Moscheen, hinduistische oder buddhistische Tempel als Sakralbauten erkennbar.

Das hat auch damit zu tun, dass die Mehrheitsgesellschaft Mühe hat, die neue Religionsvielfalt anzuerkennen und den nicht-christlichen Religionsgemeinschaften die gleichen Rechte zuzugestehen wie den christlichen. Dies gilt insbesondere für den Islam, die grösste nicht-christliche Religionsgemeinschaft in der Schweiz, und zeigt sich nicht zuletzt darin, dass der Bau von Minaretten wie z.B. in Wangen bei Olten oder das Tragen von Kopftüchern zu verhindern versucht wird. Viele SchweizerInnen fürchten um den Niedergang der christlichen Leitkultur, die nun plötzlich – nach Jahrzehnten gesellschaftlicher Säkularisierungsprozesse – wieder wichtig wird und die es offenbar zu bewahren gilt.

Es gibt dabei aber auch berechtigte Fragen und Ängste, wie der Luzerner Religionswissenschaftler Martin Baumann schreibt: "Wie viele unterschiedliche Religionen verträgt eine Stadt, eine Gesellschaft? Gefährdet die Vielfalt und Unterschiedlichkeit der Religionen das Zusammenleben? Unterschwellig geht mit der Frage die Meinung einher, dass zu viele Religionen das mehr oder weniger friedvolle Zusammenleben gefährdeten."[1] Interessant ist, dass diese Fragen nicht etwa damals auftauchten, als in Folge der Migrationsbewegungen in den 1960er, 1980er und 1990er Jahren immer mehr Menschen buddhistischer, hinduistischer und muslimischer Religionszugehörigkeit in unser Land kamen. Entzündet hat sich die Frage nach den Risiken bzw. nach dem Gelingen des multireligiösen Zusammenlebens in unserem Land erst in den letzten Jahren, und zwar vor allem bezogen auf den Islam: als Folge der weltpolitischen Ereignisse seit dem 11. Septembers 2001 einerseits und als Folge eines selbstbewussteren Auftretens der Musliminnen und Muslimen der zweiten Generation andererseits.

In der Schweizer Öffentlichkeit wurden die Muslime vor dem 11. September 2001 praktisch nicht wahrgenommen, obschon der Genozid an den MuslimInnen auf dem Balkan in den 1990er Jahren eine grosse Anzahl von Flüchtlingen ins Land brachte. Diese nahm man allerdings nicht in erster Linie als Muslime wahr, sondern als "Jugoslawen". In der Sicht der Bevölkerung gab es vor allem Gastarbeiter – aus der Türkei, aus Ex-Jugoslawien, dazu eine gewisse Anzahl Araber und Pakistaner. Die Religion dieser Menschen interessierte weder die Bevölkerung noch die Behörden.

Als Folge des 11. Septembers wurden aus den Türken, Ex-Jugoslawen, Arabern und Pakistanern nun aber praktisch über Nacht "Muslime". Man nahm sie plötzlich als grosse, fremde und bedrohliche Masse wahr. Und mit jedem Anschlag, der irgendwo auf der Welt von islamistischen Gewalttätern verübt wurde und wird, wuchs für viele SchweizerInnen das Gefühl einer Bedrohung durch die muslimischen Nachbarn, von deren Religion man wenig oder nichts wusste.[2] Gleichzeitig hat das in den letzten Jahren zunehmend selbstbewusstere Auftreten der Muslime und Musliminnen in der Schweiz, das Verlassen der Hinterhofmoscheen und ihre Forderung nach dem Bau von Moscheen und Minaretten oder das selbstbewusste, frei gewählte Tragen des Kopftuchs von jungen Musliminnen gesellschaftliche Debatten und Konflikte ausgelöst.[3]

Wie kann diesen Konflikten begegnet werden? Wie kann Religion zu einem friedvollen Zusammenleben statt zur Verstärkung von Konflikten beitragen? Und: Welchen Beitrag kann der interreligiöse Dialog dazu leisten? Diesen Fragen möchte ich in meinem Vortrag nachgehen. Ich beziehe mich dabei vor allem auf eigene Erfahrungen im interreligiösen Dialog mit Musliminnen und Jüdinnen in der Schweiz sowie auf Ergebnisse und Erkenntnisse aus meinem neuen Buch "Damit es anders wird zwischen uns. Interreligiöser Dialog aus der Sicht von Frauen", das ich mit meiner evangelischen Kollegin Manuela Kalsky in diesem Frühling herausgegeben habe. Ich bin überzeugt, dass die daraus gewonnen Einsichten auch für Männer relevant sein können.

 

1.  Raum schaffen für Respekt und gegenseitige Anerkennung

Wir leben heute, wie bereits gesagt, in einer auch religiös pluralistischen Gesellschaft. Dies ist eine Realität, mit der wir uns auseinanderzusetzen haben. Wir sind als Gesellschaft dadurch gefordert, neu über die Rolle der Religionen für das Zusammenleben nachzudenken, vor allem aber nach Formen der Verständigung und des gleichberechtigten Zusammenlebens zu suchen zwischen den Religionen.

 

1.1.  Politische Voraussetzungen: Gleichbehandlung und öffentlich-rechtliche Gleichstellung aller Religionsgemeinschaften

Eine grundlegende Voraussetzung dafür ist auf der politischen Ebene die Gleichbehandlung und Gleichstellung aller Religionsgemeinschaften, also auch die öffentlich-rechtliche Anerkennnung der nicht-christlichen Religionen in unserem Land. Buddhistische, hinduistische und muslimische Gläubige müssen ihren Glauben genau so ungehindert praktizieren können wie die christlichen. Gesuche nach dem Bau von Moscheen und Tempeln, nach der Errichtung eigener Friedhofsplätze, nach Ausbildungsgängen für religiöse Lehrpersonen, z.B. Imame, oder schulischen Religionsunterricht müssen im Zeichen der Religionsfreiheit gleich behandelt werden wie jene der Mehrheitsreligion.

 

1.2.  Gesellschaftliche Voraussetzungen: Vor-Urteile und Unwissen abbauen und mit den Augen der Anderen sehen lernen

Auf der gesellschaftlichen Ebene ist die Voraussetzung für ein friedvolles Zusammenleben zwischen den Angehörigen der verschiedenen Religionsgemeinschaften der Abbau von Vor-Urteilen, Unwissen oder gar Feindbildern. So sind die Ängste der Mehrheitsgesellschaft beispielsweise gegenüber dem Islam zum grössten Teil von Vor-Urteilen und Klischees genährt. Seit dem 11. September 2001 stehen Muslime in Europa als potenzielle Terroristen unter Generalverdacht, und der Islam wird pauschal als gewalttätige Religion angesehen. Gegen solche Vorurteile und Verunglimpfungen hilft: mehr Wissen voneinander und konkrete Begegnungen mit MuslimInnen, um diese Urteile überhaupt als Vor-Urteile zu erkennen und sie abzubauen. Die Sichtweise der Anderen, ihre Vorstellungen vom Leben und ihre Träume zu kennen, Einblicke zu erhalten in ihre religiösen Traditionen, in ihre Lebensweise und ihre Alltagsgestaltung: All dies hilft Misstrauen und Ängste abzubauen.

Eine wichtige Rolle spielt in dieser Hinsicht auch die Schule, die nicht nur über die christliche, sondern auch über die anderen Religionen informieren sollte. Ganz grundsätzlich ginge es darum, dass wir als christliche Mehrheitsgesellschaft lernen, religiöse und kulturelle Vielfalt nicht als Bedrohung des Eigenen, der eigenen Religion, der eigenen Kultur zu sehen, sondern als Bereicherung und als Erweiterung des eigenen Horizonts zu erkennen.

In einen echten Dialog zu treten und uns Fremdes, Unvertrautes zu verstehen suchen, ist allerdings nicht einfach: Aus eigener Erfahrung weiss ich, dass dies ein Lernprozess ist, der viel Achtsamkeit und Selbstreflexion verlangt. Denn normalerweise begegnen wir "Anderem", "Fremdem" mit unseren eigenen Weltbildern und Wertvorstellungen. Etwas zu verstehen, das uns fremd scheint, bedingt, dass wir versuchen, "mit den Augen der Anderen sehen zu lernen", dass wir die andere Religion zuerst einmal von innen her zu verstehen versuchen. Dies beinhaltet, dass wir auch uns Fremdes oder Unverständliches respektieren, dass wir unsere eigenen religiösen und kulturellen Vorstellungen nicht unhinterfragt als Norm zu setzen, an der wir die anderen messen und beurteilen.

Und es braucht für eine Verständigung zwischen Menschen unterschiedlicher religiöser und kultureller Herkunft vor allem auch echtes Interesse aneinander, die Bereitschaft, von anderen etwas zu lernen, es braucht radikalen Respekt vor der anderen Person als gleichwertiges Du. Dies gilt auch für die religiöse oder theologische Ebene.

 

1.3.  Theologische Voraussetzungen: Die anderen Religionen als gleichwertig anerkennen und keinen Exklusivitätsanspruch erheben

Ein Dialog zwischen den Religionen kann nur dann gelingen, wenn sich die Beteiligten als Gleichwertige anerkennen. Dies heisst, dass keine/r der Beteiligten für ihre/seine Religion einen Exklusivitätsanspruch vertreten oder gar die anderen missionieren darf.

Auf theologischer Ebene ist die grundlegende Voraussetzung für ein friedliches Miteinander der Religionen die Anerkennung, dass alle Religionen Wege zum Göttlichen, zum Heil sind, sich in der Form ihres Weges aber unterscheiden. Alle Religionen haben spirituelle Ressourcen, aus denen wir schöpfen können für den Aufbau einer gerechteren und friedlicheren Welt.

Der Dialog mit anderen Religionen bietet aber auch die Chance, die eigene Religion mit den Augen der Anderen sehen und neu verstehen zu lernen. Im "Spiegel der Anderen" erkennen wir uns selber klarer: die Schätze unserer religiösen Tradition, das, was uns wichtig und kostbar ist, aber auch die Schattenseiten, das, was sich in unserer Tradition als schädlich erwiesen hat.[4] So verstanden führt der Dialog der Religionen zu einer Auseinandersetzung mit der eigenen religiösen Tradition und zur veränderten Wahrnehmung der eigenen religiösen Identität, nicht zur "Bekehrung" oder Veränderung der Anderen. Er bietet die Möglichkeit, in der Begegnung mit einer anderen Religion nicht nur die Anderen, sondern auch sich selber besser verstehen zu lernen, sich selber differenzierter wahrzunehmen. Und nicht zuletzt ermöglicht uns der Dialog der Religionen, wie meine Kollegin Manuela Kalsky meint, die Vielfalt der religiösen Erfahrungen des Göttlichen auch für die eigene christliche Identität fruchtbar zu machen.[5]

 

2.  Rahmenbedingungen und Regeln für das Gelingen eines interreligiösen Dialogs

Im interreligiösen Dialog begegnen sich Menschen, nicht religiöse Systeme. Diese Menschen leben in bestimmten sozio-politischen Kontexten, sind von verschiedenen Faktoren wie Kultur, Religion, ökonomische Verhältnisse, Schicht- und Geschlechtszugehörigkeit geprägt. Wie kann eine wirkliche Begegnung gelingen zwischen Angehörigen unterschiedlicher Religionsgemeinschaften? Welche äusseren Rahmenbedingungen und welche inneren Haltungen braucht es, damit wir einander verstehen können?

Diesen Fragen möchte ich im Folgenden nachgehen. Ich beziehe mich dabei, wie gesagt, auf die Lernergebnisse von konkreten Dialogprojekten von Frauen, die in unserem Buch reflektiert werden, sowie auf eigene Erfahrungen in interreligiösen Dialogprojekten mit Musliminnen und Jüdinnen.

 

2.1.  Asymmetrie beachten: Der interreligiöse Dialog ist kein herrschaftsfreies Gespräch

Wenn wir als Christinnen und Christen in den interreligiösen Dialog eintreten, müssen wir uns bewusst machen, dass die Dialogsituation von struktureller Ungleichheit und einem Machtgefälle geprägt ist: zwischen ChristInnen als Teil der Mehrheitsgesellschaft und -religion und jüdischen, muslimischen, buddhistischen und hinduistischen DialogpartnerInnen als einer – auch religiös – benachteiligten Minderheit. Diese strukturelle Asymmetrie muss im Dialog beachtet werden. Als Angehörige der Mehrheitskultur und -religion sprechen wir immer aus einer Position der gesellschaftlichen Dominanz. Dies können wir nicht vermeiden. Die Frage ist aber, wie wir damit umgehen. Ob wir bereit sind, Rahmenbedingungen zu schaffen, die möglichst gleichberechtigte Dialoge ermöglichen.

 

2.2.  Dialog-Projekte interreligiös planen und religiöse Regeln aller Beteiligten berücksichtigen

Zu diesen Rahmenbedingungen gehört z.B., dass interreligiöse Dialogprojekte oder -gespräche interreligiös geplant werden, d.h. dass die Themen nicht von den christlichen PartnerInnen vorgegeben werden. Bei der Wahl der Veranstaltungsorte wäre es wünschenswert, dass neutrale Orte oder abwechslungsweise Orte aller beteiligten Religionsgemeinschaften gewählt würden. Wenn solche Veranstaltungen immer in christlichen Räumen stattfinden, was meist der Fall ist, sind die ChristInnen als Angehörige der Mehrheitsreligion immer in der Gastgeberrolle. Während dies von ChristInnen wahrscheinlich als wenig problematisch empfunden wird, kann das kirchliche Ambiente, die ständige Präsenz christlicher Symbole, bei den nicht-christlichen Dialogpartnerinnen ein Fremdheitsgefühl erzeugen und weist ihnen eine Gastrolle zu, die sie eher zu Zurückhaltung verpflichtet.

Die Berücksichtigung der religiösen Pflichten und Regeln der einzelnen Religionen bei der Planung von Veranstaltungen ist ein weiterer Gradmesser für die Ernsthaftigkeit des Interesses an einem Dialog auf gleicher Augenhöhe. Dies bezieht sich vor allem auf die vorgeschriebenen Gebetszeiten, die daraus sich ergebenden Zeitstrukturen und auf die angebotene Nahrung. Das Bemühen, die verschiedenen religiösen Regeln bei interreligiösen Tagungen zu beachten, ist nicht nur eine organisatorische Herausforderung, sondern gleichzeitig ein wichtiger Aspekt der interreligiösen Kommunikation.

 

2.3.  Das Recht auf Selbstinterpretation der eigenen Religion achten

Ein weiterer wichtiger Aspekt, der besonders von den christlichen DialogpartnerInnen für das Gelingen eines Dialogs zu beachten ist, ist das Recht der nicht-christlichen GesprächspartnerInnen auf Selbstinterpretation ihrer Religion. Das tönt für Sie vielleicht selbstverständlich, ist es aber in der Praxis keineswegs. Dies zeigt sich wiederum besonders deutlich in Bezug auf den Islam. Wenn wir die öffentlichen Debatten über den Islam anschauen, sehen wir immer wieder, dass die nicht-muslimische westliche Gesellschaft die Definitionsmacht beansprucht, d.h. dass sie beansprucht zu "wissen", wie die Rolle der Frau im Islam wirklich aussieht oder was das Kopftuch eigentlich bedeutet.

Auch an den interreligiösen Kursen für Frauen, die ich in einem interreligiösen Team mitgeleitet habe, ist es uns christlichen Frauen nicht immer gelungen, unsere Definitionsmacht abzugeben und den muslimischen Frauen das Recht auf Selbstinterpretation ihrer religiösen Tradition zuzugestehen. Am deutlichsten ist dies für mich beim Geschlechterthema geworden: So gab es von christlicher Seite häufig heftige Einwände, wenn die muslimischen Frauen das islamische Geschlechterrollen-Konzept positiv darstellten und den Koran als nicht frauenfeindlich verteidigten. Hier war es sehr schwierig, die Religion der Anderen mit ihren eigenen Augen sehen und verstehen zu lernen und die eigenen, kulturell geprägten Konzepte von Geschlechterrollen und Emanzipation zu relativieren.

Anders als die Angehörigen von religiösen Minderheiten, die die Erfahrung machen, dass viele ihrer Werte und Normen nicht von allen geteilt werden, gehen wir als Angehörige der Mehrheitskultur meist – irrtümlich – davon aus, dass unsere eigenen kulturspezifischen Werte universal anerkannt sein müssten. Die kulturelle Prägung der eigenen Werte zu akzeptieren und diese – zumindest für die Phase des Dialogs – entsprechend zu relativieren, ist jedoch Voraussetzung für eine wirkliche Begegnung mit den "Anderen".[6] Auf das genannte Beispiel bezogen würde dies heissen: Nicht nur bezüglich unserer religiösen Lehren, sondern auch in Bezug auf unser Konzept von Feminismus kann kein Absolutheitsanspruch erhoben werden! Es gilt im Dialog zuzuhören und zu verstehen suchen, wie Frauen anderer kultureller und religiöser Herkunft selber ihre Religion und ihre Rolle als Frau sehen und beurteilen; was Emanzipation für sie bedeutet.

Damit bin ich bei einem weiteren grundlegenden Aspekt des Dialogprozesses angelangt: nämlich bei den Grundhaltungen, die es einzuüben gilt, damit ein Dialog zwischen Angehörigen unterschiedlicher Religionsgemeinschaften gelingen kann.

 

2.4.  Kernkompetenzen für den Dialog einüben

Um einen von gegenseitigem Respekt getragenen Dialog zu führen, ist es hilfreich, zu Beginn Dialogregeln[7] einzuführen. Diese stellen gleichsam ein gemeinsames Gerüst dar und helfen, eine dialogische Haltung in der konkreten Begegnung und Auseinandersetzung einzuüben.

Auch in den genannten interreligiösen Frauenprojekten wurden solche Dialogregeln zugrunde gelegt, und zwar die 10 Regeln oder Kernkompetenzen des Dialogs nach Martina & Johannes F. Hartkemeyer und L. Freeman Dhority. Diese Regeln lauten:

1.  Die Haltung einer/eines Lernenden einnehmen.

2.  Radikaler Respekt vor der anderen Person. Damit ist mehr als Toleranz gemeint, sondern vielmehr eine Haltung der Empathie – der Versuch, die Welt aus der Perspektive der Anderen zu sehen.

3.  Offenheit für neue Ideen, neue Einsichten, neue Perspektiven und die Bereitschaft, lang gehegte Annahmen in Frage stellen zu lassen.

4.  Von Herzen sprechen: Von dem reden, was uns wirklich wichtig ist. Ich sagen.

5.  Empathisches Zuhören, d.h. so zuhören, dass die/der andere sich öffnen kann.

6.  Verlangsamung: Zeit geben. Jede/r TeilnehmerIn bekommt die Zeit zum Sprechen, die er/sie braucht.

7.  Annahmen offen legen und Bewertungen suspendieren. Uns der Weltbilder und persönlichen Bewertungen bewusst werden, die hinter unseren scheinbar objektiven Interpretationen der Wirklichkeit liegen.

8.  Produktives Plädieren: Eigene Sichtweisen argumentativ darstellen, die Sichtweise der Anderen anhören und gegebenenfalls zu einer neuen Sicht der Dinge kommen.

9.  Eine erkundende Haltung üben. Dem/der Anderen in einer Haltung von Neugier, Interesse und Achtsamkeit begegnen.

10.  Den Beobachter beobachten: Das heisst, der Störung folgen, den Überzeugungen und Haltungen auf den Grund gehen, die unterschwellig unsere Interaktionen und Handlungen bestimmen. Beobachten, wie wir aufeinander reagieren.

Diese Dialogregeln sind ein Instrument, das helfen kann, eingeübte Kommunikationsmuster aufzubrechen und Dialog fördernde Verhaltensweisen zu entwickeln.

 

3.  Perspektiven von Frauen im interreligiösen Dialog

Ich komme zum letzten Teil meines Vortrags, nämlich zur Frage, wie Frauen den interreligiösen Dialog gestalten, welches ihre spezifischen Erfahrungen, Sichtweisen und Anliegen sind. Wenn ich auf meine eigenen Dialogerfahrungen und die in unserem Buch reflektierten Projekte blicke, ist auffällig, dass diese Dialogprojekte nicht allein dem Austausch von Wissen über die anderen Religionen, dem Vergleich von Lehrtraditionen oder der interreligiösen Diskussion bestimmter Themen dienten. Meist war die Praxis des Dialogs, das Einüben eines respektvollen Umgangs miteinander genauso zentral. Häufig erstreckten sich die Dialogprojekte auch über einen längeren Zeitraum und begünstigten durch den Aufbau von persönlichen Beziehungen und Vertrauen einen solchen dialogischen Lernprozess.

Man könnte sagen, dass nicht Debatten um religiöse Wahrheitsansprüche im Zentrum standen, sondern das Interesse aneinander als Menschen, das Kennenlernen-und-Verstehen-Wollen der religiösen Traditionen anderer Frauen sowie die Frage, was es zu einem guten Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Religionen braucht. Diese Merkmale gelten nicht exklusiv für interreligiöse Dialoge von Frauen; sie sind aber in den untersuchten Projekten besonders augenfällig gewesen.

 

3.1.  Ziel interreligiöser Dialogprojekte: Das gute Zusammenleben von Menschen in unseren multikulturellen und multireligiösen Gesellschaften fördern

So verstand sich beispielsweise das interreligiöse Projekt "Sarah-Hagar" in Berlin, das in unserem Buch vorgestellt wird, als eine Art Kernzelle eines neuen, respektvollen Umgangs miteinander. Das zweijährige Projekt, das die Bereiche "Religion, Politik und Geschlecht" verknüpfte und religiöse Frauen mit säkularen Politikerinnen zusammenbrachte, wollte einen Beitrag leisten zur Stärkung einer Zivilgesellschaft, in der alle Religionen und Kulturen anerkannt werden und in der ein friedliches und produktives Zusammenleben in einer kulturell und religiös heterogenen Gesellschaft möglich ist.[8]

Auch das von Reinhild Traitler und Teny Pirri-Simonian initiierte und vom OeRK und Boldern unterstützte "Europäische Projekt für interreligiöses Lernen" (EPIL) verstand sich als Prozess einer Lerngemeinschaft: Für eine bestimmte Zeit trafen sich dreiundzwanzig Frauen, neun Musliminnen und vierzehn Christinnen, an verschiedenen Orten Europas (Zürich, Barcelona, Bosnien-Herzegowina, Berlin, Beirut), um – im Kontakt mit den konkreten Lebenssituationen vor Ort – vom Glauben der Anderen zu lernen. Die Frauen liessen sich auf ein Miteinander-Lernen ein, das sie nicht nur mit anderen Glaubensüberzeugungen in Kontakt brachte, sondern sie ebenso mit den leidvollen Erfahrungen konfrontierte, die Menschen aufgrund ihrer Religion in Europa erlitten haben.[9]

Explizit um das Gewalt- und das Friedenspotenzial von Religionen ging es in einem interreligiösen Dialogprojekt von Frauen in der Schweiz, an dem ich selber als Mitorganisatorin und Referentin beteiligt war. "Im Zeichen des Einen – Frauenblicke auf Gewalt fördernde und Frieden stiftende Traditionen in Judentum, Christentum und Islam", so hiess der Erste Interreligiöse Theologiekurs für Frauen, der von katholischen und evangelischen Bildungsinstitutionen organisiert und von November 2002 bis Mai 2003 durchgeführt wurde.[10] Auslöser für die Fragestellung des Kurses war die zunehmend wieder religiös legitimierte Gewalt und die Frage, inwiefern Ausschluss und Unterdrückung der "Anderen" in den monotheistischen Religionen selbst angelegt sind. Als jüdische, christliche und muslimische Frauen wollten wir aber auch den Dialog über die Traditionen der Gerechtigkeit, der Gleichwertigkeit und des Friedens in unseren drei Religionen führen, ihnen zur Sichtbarkeit verhelfen und damit zu einer Kultur des Friedens beitragen.

 

3.2.  Lernen, mit Unterschieden produktiv umzugehen und sie nicht als Bedrohung des eigenen Glaubens, der eigenen kulturellen und religiösen Identität anzusehen

Die beschriebenen drei Dialogprojekte von Frauen weisen eine ausgeprägte ethische Dimension auf. Alle drei verstanden sich als Beitrag zur Gestaltung eines gesellschaftlichen Zusammenlebens, in dem alle Religionen gleichberechtigt sind, Männer und Frauen respektvoll miteinander umgehen und ihrem Glauben und ihrer Kultur gemäss leben können. Der erste Schritt auf dieses Ziel hin ist das gegenseitige Kennenlernen und Voneinander-Lernen, der Abbau von Vorurteilen und das Verstehenlernen der unterschiedlichen kulturellen und religiösen Hintergründe. Es war ein Anliegen der geschilderten Dialog-Projekte von Frauen, eine ethisch-politische Haltung des Respekts und der Anerkennung Andersgläubiger zu fördern, die über Toleranz als (Er-)Dulden der Anderen hinausgeht.

Voraussetzung für eine solche Haltung der Anerkennung der Anderen ist jedoch, dass wir lernen müssen, mit Unterschieden positiv umzugehen, sie nicht entweder durch Vereinnahmung oder durch Ausgrenzung zum Verschwinden zu bringen, sondern sie als Bereicherung zu erfahren, da sie uns die Augen öffnen für die vielfältigen und unterschiedlichen Facetten der Wirklichkeit. Wenn es gelingt, im interreligiösen Dialog eine solche Haltung einzuüben, und zwar nicht nur theoretisch, sondern konkret; wenn wir durch die Begegnungen miteinander lernen, mit Unterschieden produktiv umzugehen und sie nicht als Bedrohung des eigenen Glaubens, der eigenen religiösen und kulturellen Identität anzusehen, dann hat der interreligiöse Dialog auch eine wichtige gesellschaftspolitische Funktion.

 

3.3.  Nicht dogmatische, sondern ethische Fragen ins Zentrum stellen

Im interreligiösen Dialog sollte es m. E. weniger um theologische Debatten über die Unterschiede oder Gemeinsamkeiten in den Lehren unserer Religionen gehen, sondern stärker um die Frage, welche ethischen Werte sie verbreiten und zu welchem Handeln sie führen: Tragen unsere Glaubenssysteme mit ihren Werten dazu bei, dass die Welt friedlicher wird, dass Menschen unterschiedlicher religiöser und kultureller Herkunft zusammenleben können, dass egalitäre und gerechte Beziehungen zwischen den Geschlechtern gefördert werden, dass Vielfalt respektiert wird und Menschen ihre Beziehung zu Gott leben können – frei von Dogma und Zwang? Religionen seien dann gut, habe ich kürzlich in einem NZZ-Artikel zum Thema "Was ist eine gute Religion?" gelesen, wenn sie es nicht nur für die eigenen Gläubigen sind, sondern ebenso für die Menschen, die mit ihnen zu tun haben.[11] Die konkreten "Früchte" von religiösen Traditionen, auch im Umgang mit den Anderen, wären das ethische Kriterium, an dem sie sich messen lassen müssten.

 

3.4.  "Wir müssen nicht dasselbe glauben, um miteinander und aneinander gut handeln zu können"

Der interreligiöse Dialog sollte vermehrt auch zu einem gemeinsamen Handeln führen.[12] Denn, wie meine muslimische Kollegin Amira Hafner-Al Jabaji im Schlussgespräch unseres Buches sagt: "Wir müssen nicht dasselbe glauben, um miteinander und aneinander gut handeln zu können." Drängende Probleme, die es gemeinsam zu lösen gilt, gibt es weltweit genug: Gewalt, Armut, Kriege, Umweltzerstörung.

Und für uns Frauen wäre ein gemeinsames Handeln und gegenseitige Unterstützung im Kampf gegen patriarchale Strukturen und Traditionen meines Erachtens besonders wichtig: nicht nur, dass in allen Religionen die Entscheidungsfunktionen und die Definitionsmacht noch immer mehrheitlich in den Händen von Männern liegen. Auch der weltweit zunehmende religiöse Fundamentalismus, der bekanntermassen mit Geschlechterkonservatismus und Beschneidung der Freiheit und Selbstbestimmung von Frauen einhergeht, ist eine Bedrohung für Frauen aller Religionsgemeinschaften.

 

3.5.  Die unterdrückerischen patriarchalen Aspekte der Religionen verändern

Frauen müssten an den offiziellen interreligiösen Dialogen, die bislang vorwiegend von männlichen Religionsvertretern geführt werden, unbedingt mehr beteiligt werden. Denn ein friedvolles Miteinander der Religionen scheint mir wenig aussichtsreich, solange innerhalb der Religionen patriarchale Diskriminierungs- und Ausschlussmechanismen fortbestehen. Ein wichtiges Anliegen des interreligiösen Dialogs aus der Sicht von Frauen ist es daher, die unterdrückerischen patriarchalen Aspekte ihrer Religionen zu transformieren, sich als Frauen die Definitionsmacht anzueignen und die Heiligen Schriften selber auszulegen.

Es ist zu hoffen, dass eine vermehrte Beteiligung von Frauen am offiziellen interreligiösen Dialog nicht nur fruchtbarere und lebensbezogenere Dialoge ermöglicht, sondern ebenso den patriarchalen Charakter der beteiligten Religionen verändert.

 

4.  Schlussgedanken

Ein "gutes Leben" für alle Menschen, ein Leben in Würde und Freiheit für Frauen, Männer und Kinder: Dies könnte eine Vision sein, die uns als religiös engagierte Frauen und Männer – über die Unterschiede unserer Religionen hinweg – verbindet. Gemeinsam könnten wir uns auf den Weg machen, diese Vision ein Stück weit erfahrbar zu machen in unserer Welt, und dafür aus dem Reichtum unserer verschiedenen religiösen Traditionen schöpfen.

Was wir in unserer Welt der Gewalt, der Ausgrenzung und Verunglimpfung Andersdenkender und Andersgläubiger bräuchten, sind interreligiöse Gemeinschaften, in denen religiöse Vielfalt und spirituelle Mehrstimmigkeit verbunden werden mit radikalem Respekt vor den Anderen[13] – Gemeinschaften, in denen wir mit Neugier und Empathie aufeinander zu gehen, den Reichtum unserer unterschiedlichen Erfahrungen des Göttlichen teilen und uns selber in der Begegnung und der Auseinandersetzung miteinander immer besser und tiefer verstehen lernen: "Damit es anders wird zwischen uns".

 

Doris Strahm

 

Fussnoten:

1  Martin Baumann, Viele Religionen schaden der Gesellschaft nicht. Von den Gefahren und Chancen der Religionspluralität, NZZ 29./30. Januar 2005.

2  Vgl. Rifa'at Lenzin, Loyalität und Zugehörigkeit. Gedanken zu muslimischer Identität in Europa, in: Doris Strahm / Manuela Kalsky (Hg.), Damit es anders wird zwischen uns. Interreligiöser Dialog aus der Sicht von Frauen, Ostfildern 2006, 75f.

3  Vgl. dazu auch die Stellungnahme der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus EKR vom September 2006: "Mehrheit und muslimische Minderheit in der Schweiz".

4  Rita M. Gross, Feminist Theology as Theology of Religions, in: Susan Frank Parsons (ed.), The Cambridge Companion to Feminist Theology, Cambridge 2002, 67f.

5  Manuela Kalsky, Vielfalt umarmen. Überlegungen zur Transformation christlicher Identität, in: Strahm / Kalsky (Hg.), Damit es anders wird zwischen uns, 67.

6  Vgl. von Carola von Braun, Christiane Klingspor, Irene Pabst, Respekt und gegenseitige Anerkennung, in: Strahm / Kalsky, Damit es anders wird zwischen uns, 36.

7  Martina & Johannes F. Hartkemeyer, L. Freeman Dhority, Miteinander Denken. Das Geheimnis des Dialogs, Stuttgart 2001.

8  Vgl. zum Sarah-Hagar-Projekt: Carola von Braun, Christiane Klingspor, Irene Pabst, Respekt und gegenseitige Anerkennung. Das interreligiöse Projekt "Sarah-Hagar", in: Strahm / Kalsky (Hg.), Damit es anders wird zwischen uns, 27–42.

9  Zur Dokumentation und Reflexion des EPIL-Projekts vgl. Reinhild Traitler (ed.), In the Mirror of Your Eyes. Report of the European Project for Interreligious Learning, Zürich und Beirut, 2004.

10  Der Kurs wurde vom Evang. Tagungs- und Studienzentrum Boldern, der Paulus-Akademie Zürich, den Reformierten Kirchen Bern-Jura und der Frauenkirche Zentralschweiz organisiert.

11  Vgl. Navid Kermani, Es ist wichtiger, ein guter Mensch zu sein als ein guter Muslim, in: NZZ 05.07.2006, Nr. 153, 49.

12  Vgl. dazu Amira Hafner-Al Jabaji, Eva Pruschy, Doris Strahm, Das gute Leben für alle – ethischer Horizont für den interreligiösen Dialog? Ein Gespräch, in: Strahm / Kalsky (Hg.), Damit es anders wird zwischen uns, 134–155.

13  Vgl. Manuela Kalsky, Vielfalt umarmen. Überlegungen zur Transformation christlicher Identität, in: Strahm / Kalsky (Hg.), Damit es anders wird zwischen uns, 69.

 

 

© Doris Strahm 2006