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Über Grenzen hinaus denken –

Anliegen und Entwicklungen feministischer Theologie

 

Vortrag am Symposium "Theologie und Gender" der Theologischen Fakultät Luzern vom 5. Mai 2006

 

Liebe Frauen und Männer

Liebe Kolleginnen und Kollegen

Es freut mich sehr, heute mit Ihnen 20 Jahre Lehrauftrag "Theologische Frauen- und Geschlechterforschung" feiern zu können. Es freut mich ganz besonders, weil ich vor 20 Jahren mitgewirkt habe, dass es diesen Lehrauftrag gibt. Ich habe hier in Luzern Theologie studiert und anschliessend als Assistentin im Fachbereich Philosophie gearbeitet. Meine eigene feministisch-theologische Entwicklung hat an dieser Fakultät, vor rund 25 Jahren, begonnen. Nicht, dass es damals schon so etwas wie feministisch-theologische Angebote an der theologischen Fakultät gegeben hätte. Nein, ein paar von uns Studentinnen haben Ende der 1970er Jahre eine Frauengruppe an der Fakultät gegründet, in der wir feministische Bücher gelesen und diskutiert haben. Die neue Frauenbewegung war in ihrer Hochblüte und hatte auch uns Theologinnen erfasst. Die ersten Bücher zu einer feministischen Kritik der christlichen Theologie wurden damals übersetzt: Nach Simone de Beauvoirs "Das andere Geschlecht" war es nun Mary Dalys Buch "The Church and the Second Sex" (1968), dt. Kirche, Frau und Sexus (1970), das uns begeisterte und die Augen öffnete für die Zusammenhänge von katholischer Theologie und Frauenunterdrückung, uns erste Einblicke gab in die theologische Konstruktion der Frau als dem anderen, sprich dem minderwertigen Geschlecht.

Weitere Analysen folgten: so zum Sexismus in der christlichen Rede von Gott, aber auch die Suche nach einem Gottesbild "Jenseits von Gottvater, Sohn & Co", die Entdeckung der Weiblichkeit Gottes und weiblicher Gottesbilder in der Bibel, das Wiederentdecken unserer biblischen und kirchlichen Vor-Schwestern und ihres Erbes. Die Bibel wurde feministisch gelesen und eine Re-Vision der patriarchalen Christologie angestrebt, die auch dem Verlangen nach Heilwerden von Frauen Ausdruck verleiht. Mitte der 1980er Jahre war eine Zeit der fundamentalen Kritik an einer frauenunterdrückenden Theologie und Kirche, aber auch des Aufbruchs in neue Räume [1]: Der Horizont wurde weit, das kritische Denken durfte sich frei entfalten, keine Glaubenssätze und Dogmen, die ihm Grenzen setzten. Voller Leidenschaft kartografierten wir Theologinnen damals die christliche Glaubenslandschaft neu. Unsere Re-Vision der christlichen Theologie, unser Hunger nach Gerechtigkeit und die leidenschaftliche Suche nach einer frauenbefreienden und lebensfreundlichen Theologie sollte die Gesellschaft verändern oder wenigstens deren religiös-symbolische Ordnung. Wir wollten kein Stück vom Kuchen, wie die feministische Theologin Catharina Halkes damals sagte; wir wollten einen neuen Kuchen backen.

Inzwischen sind über 20 Jahre vergangen. Ich bin älter geworden und die feministische Theologie auch. Die Zeit der grossen Empörung, aber auch der utopischen Entwürfe scheint vorbei. Es ist ruhiger um die feministische Theologie geworden. Sie schlägt keine hohen Wellen mehr wie in den 80er Jahren, sondern hat sich in viele kleinere Wellen gebrochen. Vieles wurde in den vergangenen 20 Jahren erreicht: Unzählige Forschungsarbeiten und Bücher sind erschienen, in Frauengruppen, Bildungszentren und in vielen Gemeinden wurden Ergebnisse feministischer Theologie rezipiert und diskutiert, Netzwerke wie die "Europäische Gesellschaft für theologische Forschung von Frauen" (ESWTR) sind entstanden, und feministisch-theologische Zeitschriften wie die deutsche Schlangenbrut und die schweizerische FAMA wurden gegründet. An theologischen Fakultäten hat da und dort eine Institutionalisierung stattgefunden, wie hier in Luzern, wo regelmässig Lehrveranstaltungen angeboten werden.

Feministische Theologie hat sich im Laufe dieser Entwicklungen verändert: sie ist vielfältiger und vielstimmiger geworden, umfasst eine grosse Positionen- und Perspektivenvielfalt. Die feministisch-theologische Debatte könne heute, am Anfang des 21. Jahrhunderts, als ein "Inter-Diskurs" bezeichnet werden, schreibt die feministische Theologin Hedwig Meyer-Wilmes in der zweiten Auflage des "Wörterbuchs der Feministischen Theologie". Sie sei nämlich "interdisziplinär, interkonfessionell, international, interkulturell und interreligiös" ausgerichtet.[2] Dies mache ihren Reiz aus, führe aber auch zu Kollisionen, da sie etablierte Grenzen überschreite. Es werde sich zeigen, ob sie von der etablierten Theologie und Kirche noch immer als "Rebellion auf der Grenze" an den Rand verwiesen werden könne oder ob es ihr gelingen werde, eine Verwandlung des theologischen Raumes zu bewirken.

Damit wäre ich eigentlich schon bei den Zukunftsperspektiven angelangt. Doch ich soll ja hier von den ursprünglichen Anliegen und den Entwicklungen, von Erreichtem und von Wandel in der feministischen Theologie berichten. Da die Veränderungen und aktuellen Entwicklungen feministischer Theologien weltweit kaum mehr zu überblicken, geschweige denn in einem Vortag von knapp 40 Minuten vorzustellen sind, werde ich subjektiv einige Themen herausgreifen, die mir zentral erscheinen.

 

Feministische Theologie – was ist damit eigentlich gemeint

Im Wörterbuch der Feministischen Theologie von 1991, das den Diskussionsstand der 1980er Jahre widerspiegelt, ist folgende Definition zu finden: "Feministische Theologie ist eine Theologie von feministisch orientierten Frauen, die das Patriarchat in Gesellschaft, Kirche und Zusammenleben erkennen, benennen, kritisieren und überwinden wollen. In der Feministischen Theologie stehen Frauen im Zentrum des Interesses; sowohl Glaubens- und Lebenserfahrungen von Unterdrückung, Verschwiegenwerden und Marginalisierung als auch von Befreiung und gelungener Menschwerdung kommen in ihr theologisch zur Geltung. Feministische Theologie ist eine kontextuelle Theologie, die mit der Historizität von Lebenssituationen und der Begrenztheit von theologischen Aussagen rechnet. Sie ist keine Theologie der Frau, die ein abstraktes Wesen oder ein Wissen über etwas spezifisch Weibliches voraussetzt, sondern bei der Brüchigkeit weiblicher Identität ansetzt und starre Rollenzuschreibungen verwirft. Sie ist Kritik und Neuentwurf. Sie versteht sich nicht als Ergänzung traditioneller Theologie, sondern als Neukonzeption von Theologie überhaupt."[3] Halten wir fest:

1. Feministische Theologie ist nicht eine Theologie der Frau, sondern eine frauenbefreiende Theologie.

2. Frauenerfahrungen stehen im Zentrum und sollen theologisch zur Geltung kommen; Weiblichkeitskonzepte und Rollenzuschreibungen werden aber verworfen.

3. Es geht nicht um eine Ergänzung der traditionellen Theologie oder um reine Gleichstellung, sondern um eine Patriarchats- und Theologiekritik bzw. um eine Veränderung patriarchaler Strukturen und eine Neukonzeption von Theologie überhaupt.

Diese Definition ist heute noch immer gültig; sie ist aber differenziert und durch neue Akzente ergänzt worden, welche Entwicklungen der Feministischen Theologie in den 1990er Jahren spiegeln: es sind dies 1) die Gender- oder Geschlechterforschung; 2) die Dekonstruktion von Frauenerfahrung bzw. die Erkenntnis und Betonung der Unterschiede zwischen Frauen; und 3) eine Ausdifferenzierung des Patriarchatsbegriffs und postkoloniale feministische Analysen.

 

Feministische Theologie und Geschlechterforschung

In der 2. Auflage des Wörterbuchs aus dem Jahr 2002 lesen wir: Feministische Theologie "ist nicht an das Geschlecht gebunden, sondern eine Problematisierung der Geschlechterbeziehung. (...) Die unterschiedlichen Ansätze feministischer Theologie finden sich in der gemeinsamen Kritik kyriarchaler Vorherrschaft und der Überzeugung, dass das Geschlecht eine soziale und keine natürliche oder von Gott gegebene Kategorie ist."[4] Dies heisst zum einen, dass Feministische Theologie von Frauen und Männern betrieben werden kann, da es um eine Analyse des Geschlechterverhältnisses und damit um beide Geschlechter geht. Zum anderen wird damit betont, dass es nicht um eine Theologie der Frau geht, sondern dass das Geschlecht im Sinne von Gender, d.h. das durch Sozialisationsprozesse, Rollenzuschreibungen und kulturelle Normen erworbene Geschlecht, als grundlegende Kategorie für die Theologie thematisiert wird. Eine solche Gender-Perspektive ist kritisch gegenüber allen Versuchen einer Bestimmung und Festlegung weiblicher Erfahrungen und Rollen, wie sie in römisch-katholischen und anderen kirchlichen Verlautbarungen bis heute immer wieder neu anzutreffen sind.

Der Gender-Begriff selber wird in der feministischen Theologie allerdings nur zögerlich aufgenommen. Zwar wurde die Überzeugung, dass das Geschlecht eine sozial konstruierte und keine natürliche oder von Gott gegebene Kategorie ist, von Anfang an von feministischen Theologinnen vertreten. Es ging feministischer Theologie nie nur um die Befreiung von Frauen, sondern grundlegender um eine Veränderung der patriarchalen Geschlechterverhältnisse und der symbolischen Ordnung, die diese stützt. Die Analyse und Kritik theologisch begründeter patriarchaler Geschlechterordnungen und Geschlechtsrollen war daher ein zentrales Anliegen. Doch was eine konsequente Umsetzung der Gender-Kategorie methodologisch und inhaltlich für die theologische Forschung bedeuten würde, ist bis heute erst wenig reflektiert.[5]

Was genau ist unter Gender- bzw. Geschlechterforschung zu verstehen? Gender-Forschung, die in 1990er Jahren neben die Frauenforschung trat, hat ihren Fokus nicht mehr auf den Frauen, sondern rückt die Kategorie Geschlecht und das Geschlechterverhältnis ins Zentrum. Seit den 1980er Jahren wurde in der US-amerikanischen feministischen Debatte zwischen sex, dem biologischen Geschlecht, und gender, dem sozial erzeugten Geschlechtscharakter, unterschieden. Gender-Forschung untersucht nun das Geschlecht als gesellschaftliches Strukturprinzip: Was bedeutet es, dass sich eine Gesellschaft über das Geschlecht organisiert, dass sie soziale Hierarchien geschlechtlich strukturiert? Gender-Forschung analysiert die sozialen Prozesse und Interaktionen, die das Geschlecht bzw. die zwei Geschlechter immer wieder neu hervorbringen: Wie wird "Geschlecht" in den alltäglichen Handlungen und Interaktionen permanent hergestellt (doing gender), und zwar so, dass wir glauben, es seien natürliche Ursachen, die die Geschlechtsunterschiede hervorbringen?

Diese zentrale Fragestellung der Gender-Forschung hat in der feministischen Theologie in jüngerer Zeit zu einer Reihe von Forschungen geführt, die danach fragen, inwieweit die christliche Religion, d.h. Bibel, Theologie und Kirche an der Herstellung und Verfestigung von "Geschlecht" und der Reproduktion des Geschlechterdualismus beteiligt sind. Hervorzuheben sind etwa die Studien zur religiösen Sozialisations- und Biographieforschung von Stephanie Klein, Untersuchungen zur Rolle des Geschlechts für eine Methodologie feministischer Praktischer Theologie von Uta Pohl-Patalong oder die Dissertation zu einer feministisch-religionspädagogischen Analyse von Identität und Geschlecht von Sandra Büchel-Thalmeier[6], die an dieser Fakultät verfasst wurde. Im Bereich der systematischen Theologie ist die Studie "Clownin Gott" zu Gottesbild und Genderfrage von Gisela Matthiae zu erwähnen, die Dekonstruktivismus und Genderdiskurs in Bezug auf die Gottesfrage in Anwendung bringt.

 

Dekonstruktion von Frauenerfahrungen und Differenzen unter Frauen

Frauenerfahrungen galten und gelten als Ausgangspunkt und Massstab feministisch-theologischer Arbeit. Das Bewusstwerden, dass Frauenerfahrungen in der Theologie nicht vorkamen, dass die allgemein-menschlichen Erfahrungen, von denen die Theologie sprach, faktisch männliche Erfahrungen waren, stand am Anfang feministischer Theologie. Die bisher unsichtbar gebliebenen Erfahrungen von Frauen wurden daher zum Ausgangspunkt der theologischen Reflexion und der religiösen Praxis. Dies veränderte Theologie grundlegend: Die Bibel wurde neu mit den Augen der Frauen gelesen und die theologischen Schlüsselthemen wie Gottesfrage, Christologie, das Verständnis von Sünde und Erlösung, Schöpfungstheologie und Ethik mussten kritisch durchdacht und neu buchstabiert werden.

Die 1980er Jahre waren eine Zeit der Dekonstruktion und der schöpferischen Rekonstruktion der Theologie aus feministischer Sicht. Wenig reflektiert wurde bis in die Mitte der 1980er Jahre jedoch, welche Frauenerfahrungen diesen Reflexionen zugrunde gelegt wurden, welches Subjekt "Frau" da eigentlich sprach und in wessen Namen. Erst die Kritik von women of color aus den USA und der Dritten Welt machte feministischen Theologinnen bewusst, dass sie in ihren theologischen Analysen und Entwürfen unreflektiert von den Frauen gesprochen hatten, ohne zu merken, dass damit die Situation gebildeter, weisser, heterosexueller westlicher Mittelstandsfrauen zu universal gültigen Frauenerfahrungen verallgemeinert wurden und die Lebenszusammenhänge von schwarzen und farbigen Frauen ausgeblendet blieben.

Diese Kritik war Auslöser für die Erkenntnis, dass Frauenerfahrung als grundlegende Kategorie feministischer Theologie keine universale und einheitliche Grösse ist, dass die konkreten Erfahrungen von Frauen nicht nur vom Geschlecht, sondern ebenso von der sozialen Klasse, der Rasse, der Kultur, der sexuellen Orientierung, der Religion usw. beeinflusst sind. Dies hat nicht nur das Verständnis von Frauenerfahrung verändert, sondern auch die Debatten westlicher Feministinnen rund um Gender und Geschlechterdifferenz beeinflusst.

Diese waren in den USA und Europa bis Ende der 1980er Jahre durch die Kontroverse zwischen dem so genannten "Gleichheitsfeminismus" und dem "Differenzfeminismus" geprägt.[7] Die differenzfeministischen Ansätze, die in Frankreich z.B. von Luce Irigaray und in Italien von den Philosophinnen des Mailänder Frauenbuchladens entwickelt wurden, gehen von bestimmten "weiblichen" Merkmalen beziehungsweise Unterschieden im Vergleich zu Männern aus. Sie zielen darauf ab, Bedingungen zu schaffen, in denen Frauen in Freiheit – jenseits von patriarchalen Zuschreibungen – ihre eigene Identität und Besonderheit entwickeln können. Während der Gleichheitsfeminismus die fehlende gesellschaftliche Gleichstellung als Ursache der Entstehung von Geschlechterdifferenzen ansieht, wird im Differenzfeminismus die gesellschaftliche Diskriminierung des weiblichen Geschlechts als eine Folge der Abwertung des Andersseins, der Differenz der Frauen verstanden, da die beiden Pole der Geschlechter hierarchisiert und der eine, der "weibliche" Pol gesellschaftlich abgewertet wird. Ziel des Differenzfeminismus ist es nicht, die Differenz zwischen Männern und Frauen aufzuheben, sondern für Frauen in ihrer Differenz als Frauen – und nicht in ihrer Angleichung an Männer – Gleichberechtigung zu schaffen.

Somit bezog sich der Begriff der Geschlechterdifferenz – vor allem in der deutschsprachigen Diskussion – lange Zeit nur auf die soeben skizzierten Differenzen zwischen den Geschlechtern. In den Debatten zu Gender und Geschlechterdifferenz fehlte weitgehend die Berücksichtigung der Differenzen zwischen Frauen auf sämtlichen Achsen gesellschaftlicher Diskriminierung wie Rasse, Klasse, sexuelle Orientierung, kulturelle Prägungen, Ökonomie und Religion etc. Erst Ende der 1990er Jahre setzt sich die Erkenntnis durch, dass soziokulturelle Differenzen zwischen Frauen die zentrale Kategorie des Geschlechts deutlich relativieren. Dies gilt auch für die feministische Theologie: Neu werden nun Differenzen zwischen Frauen, die von der Kolonial- und Missionsgeschichte, von Rassismus und gegenwärtigen neokolonialen Mechanismen mitbedingt sind, sowie kontextuelle Verschiedenheit und Vielfalt von Frauenerfahrungen zum Ausgangspunkt feministischer Befreiungstheologien, denen es um ein gutes Leben für alle Frauen geht.

Diese Entwicklung hat das Verständnis feministischer Theologie verändert. Als Theologie, die sich auf einen bestimmten Kontext bezieht und die jeweilige gesellschaftliche und kulturelle Situation von Frauen reflektiert, kann es sie nur in einer Vielfalt von verschiedenen kontextuellen Ansätzen geben. Seit den 1990er Jahren ist klar: Feministische Theologie ist nicht mehr eine Angelegenheit von weissen, westlichen Theologinnen und auch keine Theologie im Singular, sondern Theologie im Plural. Ich selber wurde zu dieser Einsicht durch einen Studienaufenthalt 1994 in Boston geführt. Die Begegnung mit asiatischen und Womanist Theologinnen führte mich zum Blick über den eigenen, begrenzten Horizont hinaus und zu einem Perspektivenwechsel in meiner eigenen Forschungsarbeit zu feministischer Christologie, die ich nun interkulturell anlegte. Nicht mehr die westliche feministische Christologiedebatte stand jetzt im Zentrum meines Interesses, sondern die theologischen und christologischen Entwürfe von Frauen der Dritten Welt.[8] Wie kann frau den eurozentrischen Blick aufbrechen und mit den Augen der Anderen sehen lernen? Wie ist interkulturelles Verstehen möglich? Wie kann über die Unterschiede und das Machtgefälle zwischen Frauen hinweg eine Politik und Praxis der Solidarität entwickelt werden? Diese Fragen beschäftigten mich in meiner gut dreijährigen Forschungsarbeit zu kontextuellen Christologien; sie haben meine weitere feministisch-theologische Arbeit geprägt und mich in den letzten Jahren zum interreligiösen Dialog geführt. Doch dazu später.

Zuerst möchte ich noch auf eine dritte Entwicklung innerhalb feministischer Theologien zu sprechen kommen: zur Ausdifferenzierung des Patriarchatsbegriffs und der postkolonialen feministischen Kritik.

 

Kyriarchat und postkolonialer Feminismus

Um die unterschiedlichen Lebensrealitäten von Frauen erfassen zu können, die nicht allein vom Geschlecht bestimmt sind, genügt der herkömmliche Begriff des Patriarchats nicht mehr. Auch er musste im Zuge dieser Entwicklungen verändert und differenziert werden: Wurde Patriarchat von vielen westlichen Feministinnen lange Zeit als Herrschaft der Männer über Frauen verstanden, so entwickelte die feministische Theologin Elisabeth Schüssler Fiorenza in der Auseinandersetzung mit women of color schon in den 1980er Jahren ein Patriarchatsverständnis, das die Verflechtungen unterschiedlicher Formen von Frauenunterdrückung erfassen kann. Das Patriarchat als eine männlich bestimmte, abgestufte Pyramide von Unterordnung und Ausbeutung spezifiziere die Unterdrückung von Frauen gemäss der Klasse, der Rasse, der ethnischen oder nationalen Herkunft und der Religion der Männer, zu der sie gehören. Der Begriff "Patriarchat" steht für ein geschichtlich gewordenes Netz von sozialen, ökonomischen, politischen und geschlechtsspezifischen Unterdrückungsstrukturen.

Inzwischen redet Schüssler Fiorenza von Kyriarchat, wörtlich Herr-schaft der Herrschenden, um noch deutlicher hervorzuheben, dass Patriarchat nicht mit Geschlechterdualismus oder Männerherrschaft identisch ist, sondern ein Herrschaftssystem meint, das von einer Vielzahl sozialer, politischer und kultureller Herrschaftsformen strukturiert wird.[9]

Ein solches Verständnis ermöglicht auch zu sehen, dass Frauen in vielfältiger Weise in das herrschende System verflochten und nicht alle Frauen per se unterdrückte Opfer sind, sondern als Angehörige bestimmter Klassen und Schichten durchaus auch an der Unterdrückung anderer Frauen und Männer beteiligt sind (siehe auch die Mittäterschaftsthese von Christina Thürmer-Rohr). Frauen sitzen nicht einfach qua Geschlecht im selben Boot, eine gemeinsame "weibliche" Erfahrung gibt es nicht – diese Einsicht wurde durch die postkoloniale[10] feministische Theorie und Theologie bestätigt und verstärkt.

Postkoloniale Denkerinnen analysieren die sozialen, kulturellen, ökonomischen, religiösen und psychologischen Auswirkungen des Kolonialismus auf die ehemaligen kolonisierten Bevölkerungen und auf die Kolonisatoren. Postkolonialer Feminismus thematisiert die soziokulturellen Differenzen, die von der Kolonialgeschichte und gegenwärtigen neokolonialen Mechanismen mitbedingt sind, vor allem in Bezug auf Frauen, aber auch in Bezug auf das Geschlechterverhältnis.

Die Kritik postkolonialer Feministinnen richtet sich einerseits gegen die westliche Homogenisierung von Frauen der Dritten Welt – meist auf der Basis einer postulierten Gleichheit der Unterdrückung; andererseits gegen die Verschleierung von Mittäterschaft weisser Frauen im Kolonialismus. Unter dem Deckmantel der Frauenemanzipation seien auch von Frauen Kolonialinteressen verschleiert und Kolonialisierung und Mission legitimiert worden.

Die postkoloniale feministische Theologin Kwok Pui-lan fasst dies unter dem Stichwort "colonial feminism" zusammen. Das Resultat dieses Prozesses sei die westliche "Erfindung" der Dritte-Welt-Frau: Diese beruhe zum einen auf ihrem weiblichen Geschlecht, das als sexuell unterdrückt betrachtet wird; zum anderen auf dem Dritte-Welt-Sein, das mit Unwissen, Armut, Traditionsgebundenheit, Familienorientierung, Opferstatus usw. verbunden wird.

Im Kontrast dazu steht dann die Selbstrepräsentation westlicher Frauen als gebildet und modern, als Frauen, die ihre Körper und Sexualitäten kontrollieren können und die Freiheit haben, selber ihre Entscheidungen zu treffen. Westliche Frauen bilden in dieser Logik die Norm, an der alles gemessen wird. In engem Zusammenhang damit steht die Viktimisierung von Dritte-Welt-Frauen, die meist als machtlose Gruppe dargestellt werden. Sie sind entweder Opfer männlicher Gewalt oder der Kolonialisierung oder des arabischen Familiensystems oder der ökonomischen Entwicklung oder der islamischen Religion usw. Die Fremdkonstruktionen westlicher Feministinnen beziehen sich aber auch auf Männer: Der kolonisierte bzw. fremde Mann wird als Nichtemanzipierter häufig zum Feindbild.

Auch in feministische Theologie hat die postkoloniale feministische Kritik Eingang gefunden. Vor allem die botswanische Theologin Musa W. Dube und die chinesisch-amerikanische Theologin Kwok Pui-lan legen seit einigen Jahren Ansätze postkolonialer feministischer Lesarten der Bibel und der Theologie vor. Sie suchen nach einer Art des Denkens, die "das Selbst" und "das Andere" nicht länger in ein Einheitskonzept zwingt oder in ein Wir/Sie-Schema einordnet; sie suchen nach einem Denken, das es möglich macht, die positive Herausforderung kultureller und religiöser Unterschiede ernst zu nehmen.

Um das zu erreichen, ist ein Prozess der Dekolonisierung des eigenen Denkens nötig. Es muss eine gründliche Analyse der Machtverhältnisse und Privilegien stattfinden – aufbauend auf der Erkenntnis, dass wir in einer ungerechten Welt sowohl "KolonisatorIn" als auch "Kolonisierte" sind. Die US-amerikanische Theologin Letty Russell spricht in diesem Zusammenhang von "postkolonialen Subjekten", die zusammenarbeiten müssen.[11] Sie unterstützt den Vorschlag von Musa W. Dube, eine Strategie postkolonialer Subjekte zu entwickeln, "die sowohl die Herrschenden als auch die Beherrschten dazu auffordert, die Struktur des Imperialismus in Vergangenheit und Gegenwart zu untersuchen und aufzuzeigen, wie sie als gleichwertige Subjekte sprechen können und so einander begegnen, um Worte von Weisheit und Leben auszutauschen"[12]. Eine Herausforderung, die feministische Theologie noch länger beschäftigen wird.

Damit bin ich bereits beim letzten Teil meiner Ausführungen angelangt: den aktuellen Themen und Zukunftsperspektiven feministischer Theologien. Auch dies ist ganz subjektiv und ohne Anspruch auf Vollständigkeit gemeint.

 

Aktuelle Themen und Zukunftsperspektiven

Das erste Thema, das mir aktuell scheint, wird sie vielleicht erstaunen, denn es ist ein altes, es stand am Anfang feministischer Theologie: die Gottesrede.

"Wenn Gott männlich ist, ist das Männliche Gott." Es ist schon über 30 Jahre her, seit Mary Daly ihre viel zitierte Kritik an einseitig männlichen und herrschaftsorientierten Gottesvorstellungen veröffentlichte, um damit nicht nur das Denken und Sprechen über Gott, sondern auch die Frauen selbst zu befreien. Schaut man sich heute um, wer in welchen Bildern über Gott redet, kann einen leicht das Grausen packen, stellte die deutsche feministische Theologin Gisela Matthiae letztes Jahr an einer Tagung zum Thema "Gott ins Spiel bringen – Wer bestimmt die Spielregeln" fest.[13] Der Abschied von "Gottvater, Sohn & Co.", den wir Feministinnen anstrebten, wurde nicht vollzogen. Im Gegenteil: Ein Revival der männlich-autoritären Gottesrede ist angesagt. Und dies nicht nur in den Kirchen, wo sich die von Frauen entfalteten befreienden und lebensfördernden Gottesbilder nie wirklich inkarniert haben, sondern neuerdings auch wieder im Kontext der Politik. Wenn schon in den Anfängen feministischer Theologie die Frage nach der Verbindung von Religion und Macht, von Religion und Politik gestellt wurde, so ist sie heute angesichts der politischen und nationalpolitischen Instrumentalisierung von Religion umso aktueller. Die Theologie muss ihr eigenes Reden über Gott vor diesem Hintergrund neu überdenken – und die feministische Theologie hätte zu dieser Reflexion inhaltlich sehr viel beizutragen.[14]

Nur: Wie kann sie sich mit ihren Beiträgen zu einer mündigen und befreienden Rede von Gott wirksam in die kirchlichen und gesellschaftlichen Debatten einbringen? Wie kann sie ihren Gott ins Spiel bringen bzw. das Spiel mitbestimmen in einer Zeit, in der das Christentum auf der einen Seite gesellschaftlich immer mehr an Bedeutung verliert und auf der anderen Seite Konservative und Fundamentalisten sich, wie ein Blick auf die religiöse Weltkarte zeigt, äusserst rasant ausbreiten – besonders innerhalb des Christentums, aber auch in anderen Religionen? Wie kann das, was in Universitäten an theologischer Frauen- und Geschlechterforschung in den letzten Jahren entwickelt wurde, in die Gesellschaft hineinwirken? Wie kann die in den Anfängen hochgehaltene Rückbindung der feministischen Theologie an die Praxis wieder gestärkt werden? Können wir uns heute, wo Religion an anderen Orten stattfindet wie z.B. in der Politik, in einen Elfenbeinturm hoch akademischer Gender-Forschungen zurückziehen, ohne uns um die Umsetzung und Vermittlung unserer Forschungen in die Gesellschaft hinein zu kümmern?

Und die vielleicht schwierigste Frage: Wer ist eigentlich unsere Basis; an wen wendet sich das feministisch-theologische Angebot? Die heutigen jungen Frauen und Männer sind kaum mehr an Kirche interessiert. Die kirchliche Basis also schwindet. Gleichzeitig ist in unseren säkularisierten Gesellschaften eine Wiederkehr des Religiösen zu beobachten: Immer mehr Menschen sind auf der Suche nach Sinn, haben ein tiefes Bedürfnis nach Spiritualität. Kann feministische Theologie, die sich ja immer über die Grenzen der kirchlich verfassten Religiosität hinausbewegt hat, diese Frauen und Männer erreichen? Das sind Fragen und Herausforderungen, die sich meines Erachtens feministischer Theologie aktuell stellen.

Ein weiteres Thema, das mir angesichts der gegenwärtigen weltpolitischen Entwicklungen wichtig scheint und aus einer feministischen und einer Geschlechterperspektive vertiefter behandelt werden sollte, ist die Frage nach dem Gewaltpotenzial von Religion. Als Frauen gehörten wir in unserer Religion immer zu den marginalisierten und diskriminierten "Anderen" und wissen um die Unterdrückungs- und Gewaltstrukturen religiöser und theologischer Konzepte. Im Hinblick auf den Zusammenhang von christlicher Theologie und Gewalt gegen Frauen und Mädchen ist von feministischen Theologinnen in den 1990er Jahren sehr viel Analyse- und Aufklärungsarbeit geleistet worden. Theologische Denkmuster, kirchliche Verkündigung und religiöse Erziehung, die Gewalt, gerade auch sexuelle Gewalt an Frauen, begünstigen oder fördern, wurden aufgedeckt und kritisch bearbeitet.[15] Viele dieser Erkenntnisse haben Eingang in die kirchliche Praxis gefunden, haben zu kirchlichen Kampagnen und seelsorgerlichen Richtlinien geführt.

Angesichts der weltpolitischen Lage stellt sich die Frage nach dem Gewalt- und Unterdrückungspotenzial von Religion aber auch im Hinblick auf die religiös und kulturell "Anderen". Hier tut sich ein Forschungsfeld auf, das aus einer GenderPerspektive noch wenig bearbeitet ist und mir ganz zentral scheint. Ähnlich wichtig sind auch Studien im Bereich interkultureller Theologie, die interkulturelles Verstehen des Fremden mit der Genderfrage verbinden. Hier hat ein interdisziplinärer Forschungsband Neuland betreten, den ich 2003 mit herausgegeben habe.[16] In diesem wird versucht, Parallelen, Verflechtungen und Schnittpunkten in den Konstruktionen von Fremdheit und von Geschlecht auf die Spur zu kommen, was nicht nur neue Blicke auf die Missionsgeschichte eröffnet, sondern ebenso auf den aktuellen Migrationsdiskurs in Europa.

Damit bin ich bereits beim dritten und letzten Thema angelangt, das in meinen Augen zukunftsweisend ist und das feministisch und aus Gender-Sicht bearbeitet werden sollte: der interreligiöse Dialog. In einer Zeit, wo Religionen und ihre Bedeutung für das Zusammenleben in pluralistischen Gesellschaften zu einem Konfliktfeld geworden sind und die interreligiöse Verständigung von höchster Aktualität ist, sollten Frauen die öffentlichen Debatten nicht allein den Männern bzw. den offiziellen Religionsvertretern überlassen. Bis anhin wird der Dialog in der medialen und wissenschaftlichen Öffentlichkeit nämlich fast ausschliesslich von männlichen "Religionsexperten" und religiösen Würdenträgern geführt. Jüngstes Beispiel ist der im Mai 2006 gegründete Rat der Religionen in der Schweiz, der sich als Vertretung der Religionen und Ansprechpartner gegenüber staatlichen Behörden versteht. Ganz selbstverständlich besteht dieser Rat nur aus Männern, als wäre Religion – auch nach Jahrzehnten feministischer Theologie und kirchlicher Gleichheitsrhetorik – allein Männersache, als spielten Frauen in den Religionen keine Rolle. Und dies, obwohl in allen Religionen die Frauen im gelebten Alltag die "Religionsexpertinnen" sind und die religiöse Tradition an die nächste Generation weitergeben.

Feminismus sei die fehlende Dimension im Dialog der Religionen, konstatierte die Religionswissenschaftlerin Ursula King Ende der 1990er Jahre. Sie äusserte zudem die Hoffnung, dass eine vermehrte Beteiligung von Frauen am Dialog helfen könnte, die unterdrückerischen patriarchalen Strukturen der Religionen zu transformieren. Gleichzeitig stellte sie kritisch fest, dass christliche feministische Theologie sich bislang noch wenig mit der Herausforderung des religiösen Pluralismus beschäftigt habe.[17] Zwar haben viele feministische Theologinnen in ihren Re-Visionen der christlichen Theologie schon früh eine exklusivistische Auffassung des Christentums mit ihrem absoluten Wahrheits- und Heilsanspruch zurückgewiesen und die soteriologische Vision eines "Lebens in Fülle" für alle Menschen ins Zentrum gestellt. Dennoch haben sie sich noch kaum in die Debatten um eine Theologie der Religionen eingemischt oder gar eine feministische Theologie der Religionen entwickelt.

Die feministische Buddhistin Rita M. Gross, die sich seit vielen Jahren am interreligiösen Dialog beteiligt, ist der Ansicht, dass die Entwicklung einer feministischen Theologie der Religionen wichtig und nötig wäre: aus ethischen Gründen, um ein friedliches Zusammenleben der verschiedenen Religionsgemeinschaften zu fördern; aus feministischen Gründen, weil Frauen aufgrund ihrer (Unterdrückungs-)Erfahrungen in den patriarchal geprägten Religionen eine spezifische Sicht einbringen und ihre Stimme im interreligiösen Dialog Gewicht bekommen muss; und aus theologischen Gründen, weil der Dialog mit anderen Religionen die Chance bietet, nicht nur andere Glaubenssysteme kennen zu lernen, sondern auch die eigene Religion mit den Augen der Anderen sehen und neu verstehen zu lernen.[18] Er biete die Möglichkeit, wie die feministische Theologin Manuela Kalsky meint, "die Vielfalt der religiösen Erfahrungen des Göttlichen auch für die eigene christliche Identität fruchtbar zu machen" und durch den Aufbau interreligiöser Beziehungen zur Verwandlung christlicher Identität von einer statischen hin zu einer beziehungshaften Identität zu gelangen, die religiöse Verschiedenheit als Bereicherung und nicht als Bedrohung versteht.[19]

Interessanterweise richtet sich im deutschsprachigen Raum, soweit ich sehe, das Interesse von Frauen gegenwärtig genau auf diesen Aspekt: den Aufbau interreligiöser Beziehungen und die Praxis interreligiöser Begegnung und interreligiösen Lernens. Für die Schweiz möchte ich hinweisen auf das European Project for Interreligious Lerning – EPIL, das auf den Dialog von Christinnen und Musliminnen fokussierte und von Reinhild Traitler und Teny Pirri-Simonian initiiert und vom OeRK und von Boldern unterstützt worden ist. Erwähnen möchte ich auch den Ersten Interreligiösen Theologiekurs für Frauen, der sich an Jüdinnen, Christinnen und Musliminnen richtete und sich mit dem Gewalt- und Friedenspotenzial der drei monotheistischen Religionen auseinander setzte. Der Kurs wurde von Boldern, der Paulus-Akademie Zürich, den Reformierten Kirchen Bern-Jura und der Frauenkirche Zentralschweiz organisiert. Ich habe im Auftrag der letzteren den Kurs, der von November 2002 bis Mai 2003 durchgeführt wurde, in einem interreligiösen Team mitgeleitet. Seither ist der Dialog mit Jüdinnen und Musliminnen ein Schwerpunkt meiner Arbeit.

Den beiden genannten Projekten war gemeinsam, dass der Dialog nicht allein dem Austausch von Wissen über die anderen Religionen, dem Vergleich von Lehrtraditionen oder der interreligiösen Diskussion bestimmter Themen diente, sondern die Praxis des Dialogs, das Einüben eines respektvollen Umgangs miteinander ein zentrales Anliegen war. Einen Beitrag zu diesem wichtigen Thema will auch ein Buch leisten, das ich mit meiner Kollegin Manuela Kalsky vor zwei Monaten herausgegeben habe: "Damit es anders wird zwischen uns – Interreligiöser Dialog aus der Sicht von Frauen".

In den genannten Dialog-Projekten sind aus feministischer und aus Gender-Sicht Anfänge gemacht, die es unbedingt weiterzuführen gilt. Wir sollten den öffentlich herbei geredeten "Kampf der Kulturen" bzw. "Zusammenstoss der Religionen" wachsam im Auge behalten: Denn in den aktuellen Debatten um multikulturelles und interreligiöses Zusammenleben wird gerade die Geschlechterfrage häufig zur Bestimmung des Eigenen und zur Markierung der "Anderen" instrumentalisiert.[20]

 

Feministische Theologie oder theologische Geschlechterforschung?

Ich komme zum Schluss oder genauer zur Schlussfrage: Feministische Theologie oder theologische Geschlechterforschung? Ich stehe hier ja als feministische Theologin vor Ihnen – an einem Symposium zu Theologie und Geschlechterforschung. Für mich stellt diese Frage eine falsche Alternative her. Es braucht beides: eine genaue und wissenschaftliche Erforschung der Geschlechterverhältnisse sowie eine parteiliche, auf Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse zielende feministische Theologie.

Auch hier gilt es über die Grenzen hinauszublicken. (Theologische) Genderforschung als weitgehend akademische und an den Universitäten etablierte Forschung kann Gefahr laufen rein deskriptiv zu bleiben; also die Geschlechterverhältnisse zu analysieren, ohne die Machtfrage zu stellen. Demgegenüber ist feministische Theologie keine neutrale Theologie, sondern hat politische Implikationen: Sie analysiert die Geschlechterverhältnisse als Ungleichheits- und Machtverhältnisse. Das Leitinteresse feministischer Theologie war und ist ein herrschaftskritisches: Die Analyse von Geschlechterverhältnissen zielt auf deren Veränderung, auf die Befreiung von Frauen und gegen jede Art von Unrechts- und Ungleichheitsstrukturen. Es geht ihr um Gerechtigkeit, auch und gerade um Geschlechtergerechtigkeit. Und dies scheint mir heute, angesichts weltweit wachsender gesellschaftlicher Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten, die zunehmend wieder qua Geschlecht strukturiert sind, und auch angesichts konservativer oder gar fundamentalistischer Tendenzen wieder enorm wichtig. Genderforschung ersetzt den Feminismus als politische Bewegung zur Überwindung der Ungleichheit der Geschlechter nicht.

Hat feministische Theologie eine Zukunft? Ich weiss es nicht. Braucht es feministische Theologie auch in Zukunft? Ja! Vielleicht wieder mehr denn je. Von jener Vision, die mich als feministische Theologin seit über 20 Jahren in meiner Arbeit antreibt, sind wir noch immer weit entfernt: einem guten und gerechten Leben, einem "Leben in Fülle" für alle Menschen – unbesehen ihres Geschlechts, ihrer Herkunft, ihrer Kultur und ihrer Religion.

 

Doris Strahm

 

Fussnoten:

1 Doris Strahm, Aufbruch zu neuen Räumen. Eine Einführung in feministische Theologie, Freiburg/CH 1987 (31990).

2 Hedwig Meyer-Wilmes, Art. Programm Feministischer Theologie(n), in: Elisabeth Gössmann et al. (Hg.), Wörterbuch der Feministischen Theologie, 2., vollständig überarbeitete und grundlegend erweiterte Auflage, Gütersloh 2002, 150.

3 Catharina J.M. Halkes / Hedwig Meyer-Wilmes, Art. Feministische Theologie, in: Elisabeth Gössmann et al. (Hg.), Wörterbuch der Feministischen Theologie, Gütersloh 1991, 102.

4 Hedwig Meyer-Wilmes, Art. Programm Feministischer Theologie(n), 148.

5 Vgl. Uta Pohl-Patalong, Art. Gender, in: Elisabeth Gössmann et al. (Hg.), Wörterbuch der Feministischen Theologie, 2. Auflage, Gütersloh 2002, 216-221.

6 Sandra Büchel-Thalmaier, Dekonstruktive und Rekonstruktive Perspektiven auf Identität und Geschlecht. Eine feministisch-religionspädagogische Analyse, Münster 2005.

7 Vgl. zum Folgenden Heike Walz, "Die Dritte-Welt-Frau"? Geschlechterdifferenz im Scheinwerfer der Kritik postkolonialer Denkerinnen, in: Heike Walz / Christine Lienemann-Perrin / Doris Strahm (Hg.), Als hätten sie uns neu erfunden. Beobachtungen zu Fremdheit und Geschlecht, Luzern 2003, 43ff.

8 Doris Strahm, Vom Rand in die Mitte. Christologie aus der Sicht von Frauen in Asien, Afrika und Lateinamerika, Luzern 1997.

9 Vgl. Elisabeth Schüssler Fiorenza, Grenzen überschreiten: Der theoretische Anspruch feministischer Theologie. Ausgewählte Aufsätze, Münster 2004, 76-79.

10 Postkolonialismus bezeichnet eine kritische Strömung, die Ende der 1970er Jahre entstanden ist und eine Emanzipation vom Kolonialerbe anstrebt, das auch nach dem formalen Ende des Kolonialismus fortdauert. Vgl. zum Folgenden: Heike Walz, "Die Dritte-Welt-Frau"? Geschlechterdifferenz im Scheinwerfer der Kritik postkolonialer Denkerinnen, 41-54.

11 Vgl. Letty M. Russell, Postkoloniale Subjekte und eine feministische Hermeneutik der Gastfreundschaft, in: Heike Walz / Christine Lienemann-Perrin / Doris Strahm (Hg.), Als hätten sie uns neu erfunden. Beobachtungen zu Fremdheit und Geschlecht, Luzern 2003, 99–112.

12 Musa W. Dube, Go Therefore and Make Disciples of All Nations, in: Fernando Segovia / Mary Ann Tolbert (eds.), Teaching the Bible. The Discourses and Politics of Biblical Pedagogy, New York 1998, 233.

13 Vgl. FAMA . Feministisch-theologische Zeitschrift 2/2006, 13.

14 Vgl. Matthiae ebd.

15 Vgl. z.B. Sexuelle Gewalt gegen Mädchen und Frauen als Thema der feministischen Theologie, Gütersloh 1999.

16 Heike Walz / Christine Lienemann-Perrin / Doris Strahm (Hg.), Als hätten sie uns neu erfunden. Beobachtungen zu Fremdheit und Geschlecht, Luzern 2003.

17 Vgl. Ursula King, Feminism: The Missing Dimension in the Dialogue of Religions, in: John May (ed.), Pluralism and the Religions: The Theological and Political Dimensions, London 1998, 40–55.

18 Rita M. Gross, Feminist Theology as Theology of Religions, in: Susan Frank Parsons (ed.), The Cambridge Companion to Feminist Theology, Cambridge 2002, 67f.

19 Manuela Kalsky, Vielfalt umarmen. Überlegungen zur Transformation christlicher Identität, in: Doris Strahm / Manuela Kalsky (Hg.), Damit es anders wird zwischen uns. Interreligiöser Dialog aus der Sicht von Frauen, Ostfildern 2006, 67.

20 Vgl. dazu Birgit Rommelspacher, Multikulturelle Dialoge. Selbst- und Fremdbilder im Widerstreit unterschiedlicher Interessen, in: Doris Strahm / Manuela Kalsky (Hg.), Damit es anders wird zwischen uns. Interreligiöser Dialog aus der Sicht von Frauen, Ostfildern 2006, 118–132.

 

 

© Doris Strahm 2006