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Vom Verlangen nach Heilwerden – Christologien von Frauen aus der Dritten Welt

 

Seit den 1980er-Jahren melden sich christliche Frauen in allen Kontinenten theologisch zu Wort. Sie formulieren ihre Sicht des christlichen Glaubens – ausgehend von ihren vielfältigen (Unterdrückungs-)Erfahrungen als Frauen und ihrem Verlangen nach Heilwerden und Befreiung. Gleichzeitig kritisieren sie die frauenfeindlichen Folgen einer während Jahrhunderten allein von Männern entwickelten christlichen Theologie. Diese hat die Erfahrungen von Frauen unsichtbar gemacht und ihre gesellschaftliche und kirchliche Diskriminierung religiös legitimiert.

Auch die Christologie, die kirchliche Lehre von Jesus dem Christus, hat dazu gedient, die Unterordnung der Frau unter den Mann als scheinbar gottgewollte Ordnung festzuschreiben. Wenn Frauen heute eine Antwort auf die christologische Frage "Ihr aber, für wen haltet ihr mich?" (Mk 8,29) suchen, dann ist damit das existentielle Anliegen verbunden, den Glauben an Jesus Christus so zu re-interpretieren, dass er auch für Frauen heilend und befreiend ist.

 

Christologie aus der Sicht von Frauen der Dritten Welt

Eine solche feministische Reformulierung der Christologie aus der Sicht von Frauen und im Hinblick auf die Befreiung von Frauen geschieht nicht nur in der Ersten, sondern auch in der so genannten Dritten Welt, und ist vom jeweiligen soziopolitischen und kulturellen Kontext geprägt. So sehen sich Frauen aus dem Süden – anders als Frauen der Ersten Welt nicht nur mit dem frauenfeindlichen Charakter der kirchlichen Christologie konfrontiert, sondern ebenso mit derem kolonialen und eurozentrischen Charakter.

Der Glaube an Christus als exklusivem und universalem Erlöser der Welt wurde im Zuge westlicher Expansion und kolonialer Eroberung in ihre Kontinente gebracht und ist vielfach mit der Zerstörung ihrer indigenen kulturellen und religiösen Traditionen einhergegangen. Die indigenen Frauen wurden dabei zusätzlichen, neuen Formen patriarchaler Unterdrückung unterworfen: Einheimische patriarchale Strukturen und Traditionen verbanden sich mit dem christlichen Patriarchat. Theologinnen in Afrika, Asien und Lateinamerika setzen sich deshalb mit der Lehre von Christus, die sie von europäischen und nordamerikanischen Missionaren empfangen haben, kritisch auseinander.

Gleichzeitig entwickeln sie ihre eigene Sicht von Jesus, formulieren ihren Glauben an ihn in den kulturellen Ausdrucksformen ihrer Kontinente neu bezogen auf die harte und leidvolle Lebensrealität von Frauen der Dritten Welt. Diese leben in einem "Netz von Unterdrückung": Die geschlechtsspezifische Unterdrückung, die sie erleiden, ist verflochten mit anderen Formen von Unterdrückung wie ökonomischer Ausbeutung, Armut, politischer Gewalt, kultureller und rassistischer Diskriminierung und den neokolonialen Formen der Globalisierung.

Diese Lebensrealität von Frauen der Dritten Welt ist Ausgangspunkt für die kontextuellen Re-Visionen der Christologie von Theologinnen in Afrika, Asien und Lateinamerika, die ich im Folgenden kurz skizzieren möchte.

 

Jesus – Heiler und Gefährte afrikanischer Frauen

Afrikanische Christinnen sind immer schon Theologinnen gewesen, schreibt die Theologin Louise Tappa aus Kamerun. Seit sie im 19. Jahrhundert durch westliche Missionare christianisiert worden sind, haben afrikanische Frauen ihren Glauben an Jesus Christus in Gebeten, in Liedern und Tänzen ausgedrückt. Sie erzählen Geschichten von Jesus, singen und tanzen ihren Glauben an ihn. Für die traditionellen Afrikanerinnen ist das Leben eine zutiefst religiöse Erscheinung, in der das Göttliche das Alltagsleben durchströmt und Spirituelles und Materielles miteinander verwoben sind. Diese ganzheitliche Sicht des Lebens prägt auch ihren Glauben an Jesus Christus: Jesus ist in ihrem Alltagsleben präsent; er nimmt teil an allem und jedem des täglichen Lebens. Er ist ihr Freund, der sie begleitet und dessen Macht und Gegenwart für sie unmittelbar erfahrbar ist; er ist der Gefährte, der ihnen hilft, die Mühsal und die Nöte des Alltags zu bestehen.

Die Christologie afrikanischer Frauen ist keine abstrakte Lehre über Jesus Christus; sie ist Ausdruck eines gelebten Glaubens an die befreiende und heilende Macht Jesu, der mit ihnen ist in all ihren Nöten und Schwierigkeiten. Bezugspunkt ihrer Christologie ist nicht der Christus der westlichen Dogmatik, sondern der biblische Jesus, dessen befreiende Botschaft allen Menschen gilt, d.h. auch den afrikanischen Frauen als den "Unterdrückten der Unterdrückten". Afrikanische Frauen leiden nicht nur unter Armut, neokolonialer Ausbeutung, Krieg und Gewalt; sie sind darüber hinaus in ihren eigenen Kulturen auch frauenfeindlichen Bräuchen unterworfen. Afrikanische Theologinnen entdecken im biblischen Jesus deshalb vor allem den Befreier von kulturellen Bräuchen, die Frauen entwürdigen, ihr Personsein mindern und sie an der Entfaltung ihrer von Gott geschenkten Gaben hindern. Er ist aber auch der Heiler, der die Frauen von der Last der Krankheit befreit und den Leben zerstörenden Mächten, denen sie täglich begegnen, die Stirn bietet.

Immer wieder wird die besondere Nähe, Verbundenheit und Solidarität Jesu mit den Frauen betont. So teile er in seinem Leiden die Situation und die Leidenserfahrungen afrikanischer Frauen. Gleichzeitig verkörpere er in seinem erlösenden und befreienden Handeln die fürsorgenden und Leben spendenden Qualitäten einer afrikanischen Frau und Mutter. Einige Theologinnen bezeichnen Jesus deshalb auch als "nurturer of life", der wie die afrikanischen Frauen neues Leben bringt, Leben fördert und schützt, damit alle "Leben in Fülle haben" (Joh 10,10).

Afrikanische Theologinnen "inkulturieren" die befreiende Vision der christlichen Botschaft in den Lebenskontext afrikanischer Frauen und schöpfen für ihre Bilder von Jesus auch aus ihrem eigenen kulturellen Erbe. Sie verbinden diese "Inkulturationschristologie" aber mit einem feministischen Ansatz: Die Verwurzelung des christlichen Glaubens in die eigene Kultur muss mit einer kritischen Sicht jener afrikanischen Traditionen einhergehen, welche die Würde und das volle Menschsein der Frauen beschneiden. Gleichzeitig üben sie scharfe Kritik an der patriarchalen Christologie der Missionskirchen, welche die befreiende Botschaft Jesu verdunkelt, Frauen an den Rand gedrängt und sie ihrer ursprünglichen spirituellen Macht beraubt hat.

 

Eine befreiende Christologie für Frauen im Kontext Asiens

Asiatische Theologinnen leben in einem Kontinent, in dem die große Mehrheit der Frauen arm ist und anderen religiösen Traditionen angehört. Sie versuchen deshalb, ein Verständnis von Jesus Christus zu entwickeln, das für asiatische Frauen befreiend ist und gleichzeitig den religiösen Pluralismus Asiens respektiert. Christus wird von den meisten Theologinnen als eine, aber nicht die einzige Erscheinungsweise des Göttlichen verstanden. Denn im asiatischen Kontext ist es kaum nachvollziehbar, dass ein einziges menschliches Wesen die vollständige Enthüllung des Göttlichen sein soll. Diese Auffassung mindert aber keineswegs die Bedeutung Jesu für ihren eigenen Glauben. Für sie als Christinnen ist Jesus der Erlöser, der Freund und Befreier von Frauen, der in seinem Leben und Handeln patriarchale Strukturen durchbrochen hat und dessen erlösendes Werk auch den Frauen gegolten hat. Diese befreiende Botschaft des biblischen Jesus wollen sie sichtbar machen.

Asiatische Frauen schöpfen aber auch aus der religiösen Vorstellungswelt ihrer jahrhundertealten asiatischen Religionen und Kulturen (vor allem aus den kosmischen Volksreligionen), um auszudrücken, wer Jesus Christus für sie im heutigen Asien ist (z.B. Jesus als Schamanin, als Bodhisattva Kwan In). Ihre "Erkenntnis" Jesu geschieht vom gebrochenen, geschundenen Körper her, der sich nach Heilung und Ganzheit sehnt.

Asiatische Theologinnen beginnen, die westliche in eine asiatische Christologie umzuformen, die in den politischen, kulturellen und spirituellen Erfahrungen asiatischer Frauen verwurzelt ist und die der Befreiung und dem Leben dient. Die südkoreanische Theologin Chung Hyun Kyung plädiert in diesem Zusammenhang für eine Verschiebung vom Christozentrismus der westlichen Theologie zu einem "überlebens- und befreiungszentrierten Synkretismus". Gemeint ist der Versuch, die befreienden und lebensfördernden Elemente der christlichen Religion mit den Leben spendenden Elementen und der Überlebensweisheit der eigenen Kultur und Religion zu verbinden, welche asiatische Frauen in ihrem Ringen um Befreiung und Heilwerden unterstützen und stärken können. Die Entwicklung einer solchen befreienden Spiritualität ist jedoch verbunden mit einer kritischen Analyse jener Traditionen der asiatischen Religionen und des Christentums, die das volle Menschsein von Frauen mindern und asiatische Frauen bis heute in Unterdrückung und Selbstentfremdung gefangen halten.

 

Option für das Leben – Zur Christologie lateinamerikanischer Frauen

Leben – das Verlangen nach einem Leben in Würde und Gerechtigkeit, einem "Leben in Fülle" auch für die Frauen, eine Option für das Leben inmitten der täglich erfahrenen Bedrohung des Lebens – ist ein Schlüsselbegriff für die Christologie lateinamerikanischer Frauen. Im Zentrum ihrer Christologie steht nicht das Kreuz, obwohl die Lebensrealität der armen Frauen von Leiderfahrungen durchdrungen ist. Im Zentrum steht vielmehr die Auferstehung: der Glaube an das Leben inmitten von Erfahrungen des Todes. Ein wichtiges christologisches Bild ist daher der "Christus des Lebens", dessen Leben und dessen Auferstehung bestätigt, dass Gott auf der Seite des Lebens steht und auch dort Leben hervorbringt, wo die Macht des Todes endgültig scheint.

Bezugspunkt der Christologie lateinamerikanischer Frauen ist nicht der "erhöhte" Christus der Dogmen, sondern der biblische Jesus als Befreier, als Verkünder des Gottesreiches. Darin stimmen sie mit der Christologie lateinamerikanischer Befreiungstheologen überein. Anders als ihre Kollegen heben die Theologinnen jedoch Aspekte der historischen Praxis Jesu und seiner Reich-Gottes-Verkündigung hervor, die von diesen wenig oder gar nicht beachtet worden sind. So wird Jesu Option für die Armen explizit auf die Frauen bezogen, die die Mehrheit der Armen auf dem lateinamerikanischen Kontinent ausmachen und von verschiedenen, auch geschlechtsspezifischen Formen der Unterdrückung betroffen sind. Zudem wird die Bejahung des weiblichen Körpers als gute Schöpfung Gottes und die Wiederherstellung seiner Integrität und Würde als integraler Teil der Reich-Gottes-Vision Jesu betont. Die Erlösung bzw. Heilung und Heiligung des Frauenkörpers, der in der christlichen Tradition als gefährlich und sündig angesehen und verachtet wurde, ist ein wichtiges Thema der Christologie lateinamerikanischer Theologinnen. Nicht nur der männliche, auch der weibliche Körper muss als Ort des Heils, der göttlichen Gegenwart und des Erlösungshandelns gesehen und theologisch sichtbar gemacht werden, wie die brasilianische feministische Theologin Ivone Gebara schreibt.

Lateinamerikanische Theologinnen greifen den inkarnatorischen Charakter der christlichen Erlösungsbotschaft auf, beziehen jedoch ausdrücklich auch die Frauen in ihrem körperlichen Sein in das Geschehen der Inkarnation, der Fleischwerdung Gottes ein. Sie machen deutlich, dass sowohl der Körper wie auch das alltägliche Leben Orte des Heils und der Offenbarung des Göttlichen sind.

 

Verlangen nach Heilwerden

Die Christologien von Frauen der Dritten Welt erwachsen aus ihren vielfältigen, kontextuell unterschiedlichen Unterdrückungserfahrungen und ihrer leidenschaftlichen Suche nach einem befreienden Glauben, der sie nährt in ihrem Kampf ums Überleben. Ausgangspunkt ihrer Re-Visionen der patriarchalen Christologie ist die soteriologische Frage nach einem befreiten, gerechten und guten Leben für alle Menschen, auch für Frauen. Was Befreiung, was umfassendes Heilwerden konkret heißt, ist dabei vom jeweiligen soziopolitischen und kulturellen Kontext bestimmt, ebenso wie die Bilder, mit denen die soteriologische Bedeutung Jesu ausgedrückt wird. Gemeinsam ist ihnen – trotz kontextueller Unterschiede – der Glaube, dass die Jesustraditionen der Bibel befreiende Elemente enthalten, die christliche Frauen heute für sich reklamieren können in ihrem Ringen um Würde, Selbstbejahung, Freiheit und Wohlergehen in einer patriarchalen Welt.Text

 

Doris Strahm

 

Literatur

Zum ganzen Artikel ausführlicher: Doris Strahm, Vom Rand in die Mitte. Christologie aus der Sicht von Frauen in Asien, Afrika und Lateinamerika, Luzern 1997.

 

 

© Doris Strahm 2003