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Theologischen Gewaltmustern auf der Spur

 

Einführungsreferat an der Tagung "Feministische Blicke auf Theologie und Gewalt", organisiert vom Christlichen Friedensdienst (cfd) und der IG Feministische Theologinnen, am 22./23. September 2002 in Basel

 

Liebe Frauen

Vor knapp zwei Wochen wurde in den Medien der Jahrestag des 11. September 2001 begangen, jenes Tages also, seit dem, glaubt man den Mainstream-Medien, nichts mehr so ist, wie es vorher war und die Gewalt eine neue Dimension angenommen hat. Darüber kann man mit Recht geteilter Meinung sein. Sicher aber ist, dass Gewalt schon vorher allgegenwärtig war in unserer Welt – unsichtbarer vielleicht, verborgen in Strukturen wirtschaftlicher Ausbeutung, sozialen Ausgrenzungsmechanismen und alltäglicher häuslicher und sexueller Gewalt, und sichtbar, aber glücklicherweise fern von uns, in über hundert kriegerischen Auseinandersetzungen, die zurzeit auf unserm Globus stattfinden.

Was wir aber seit dem 11. September neu zur Kenntnis nehmen müssen, womit wir uns neu konfrontiert sehen, ist, wie Religion, obwohl in westlichen Gesellschaften seit langem totgesagt, erneut ideologische und politische Macht entfaltet. Nicht nur auf Seiten der so genannten islamistischen Gotteskrieger, sondern auch auf Seiten der westlichen Gesellschaften, allen voran der US-amerikanischen, die ihren Feldzug gegen die Achse des Bösen mit religösen Bildern und Vokabeln eingefärbt haben. Damit scheinen sowohl die schrecklichen Terroranschläge wie auch die religiös-nationalistisch gefärbte US-amerikanische Reaktion darauf jenen Recht zu geben, für die Religion eine schädliche, dem aufgeklärten und humanistischen Geist zuwiderlaufende Ideologie darstellt, deren Verschwinden aus unseren modernen Gesellschaften nur zu begrüssen ist.[1]

Als Theologinnen werden wir diese Gleichsetzung von Religion mit gewalttätiger Ideologie so nicht teilen; aber wir wissen, nicht zuletzt als Frauen bzw. feministische Theologinnen, um die unheilige Allianz von Religion und Gewalt über die Jahrhunderte hinweg bis heute. Doch das Problem, mit dem wir uns an dieser Tagung auseinander setzen wollen, geht noch tiefer. Womit wir uns beschäftigen wollen an diesen zwei Tagen, ist das Gewaltpotential, das in den Religionen selber steckt, in ihren theologischen Lehren, Vorstellungen und Bildern.

Mit anderen Worten: Es geht nicht nur um die geschichtliche Verbindung von Religion und Gewalt oder um den Missbrauch von Religion zur Durchsetzung politischer und anderer Interessen; es geht vielmehr um die Ambivalenz, die den Religionen selber innewohnt: um ihre befreiende und Frieden stiftende Kraft einerseits und ihre unterdrückerische und Gewalt fördernde Macht andererseits.

Als Sinngefüge und Ordnungsrahmen haben Religionen das Leben von Frauen und Männer weltweit beeinflusst und beeinflussen es in weiten Teilen der Welt noch immer. Religionen geben den tiefen Sehnsüchten nach Sinn und einem erfüllten Leben in vielfältiger Weise Ausdruck. Sie präg(t)en die meisten Werte, Normen und Rituale, die das gesellschaftliche Zusammenleben und die Beziehung der Geschlechter regeln und gestalten. Als normative Instanzen "hüten" Religionen jedoch nicht nur die Fragen nach dem Sinn und den Grundwerten des Lebens; sie waren und sind auch Produzentinnen von Benachteiligungs-, Diskriminierungs-, Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnissen struktureller Art.

Im Rahmen der Friedens- und Konfliktforschung wurde für diese Form von Gewalt, die nicht unmittelbar von Personen ausgeht, sondern von Strukturen, der Begriff der strukturellen Gewalt (Johan Galtung) geschaffen. Unter Strukturen werden Gefüge oder Systeme von Gesetzen, Normen, Regeln, Konventionen und Traditionen verstanden, die die Form von Institutionen und Organisationen haben. Auch wenn diese Gewaltformen von Strukturen ausgehen und keine direkte, von Personen ausgehende körperliche oder psychische Gewalt darstellen, sind ihre Auswirkungen denen von direkter Gewaltausübung ähnlich, nämlich Erfahrungen und Gefühle von Hilflosigkeit, Ausgeliefertsein, Degradierung zum Objekt, Ohnmacht, Demütigung, Entwürdigung usw.[2]

Diese strukturelle Gewalt wiederum wird durch Ideologien und Religionen gestützt oder legitimiert. Diese Funktion wird in Anlehnung an Johan Galtung "kulturelle" Gewalt genannt. An unserer Tagung geht es um eine Untersuchung einiger Formen solch struktureller bzw. kultureller Gewalt, die der christlichen Religion, ihren theologischen Lehren und religiösen Vorstellungen, innewohnen.

Es geht also nicht um eine Analyse der konkreten allgegenwärtigen Gewalt, speziell der Gewalt gegen Frauen als einer umfassenden und weltweiten Realität, die im privaten und öffentlichen Bereich geschieht und von sexueller Gewalt, körperlicher und seelischer Misshandlung, Zwangsprostitution und Frauenhandel, Verstümmelung, Abtreibung weiblicher Föten über die strukturelle Benachteiligung von Frauen bis zu ungleicher politischer, wirtschaftlicher und kultureller Macht reicht. Der Fokus unserer Tagung liegt vielmehr auf der Frage, welchen Anteil theologische Traditionen und Denkmuster an den gesellschaftlichen Strukturen der Gewalt, speziell der Gewalt gegen Frauen haben.

Über Jahrhunderte hat die christliche Religion die abendländischen Kulturen und Gesellschaften und ihre Wertordnungen geprägt und hat bis heute, zumindest in den Generationen von uns hier Versammelten lebensgeschichtliche Spuren hinterlassen. Wenn die christlichen Kirchen heute eine Dekade zur Überwindung der Gewalt ausrufen, sind sie deshalb gefordert, auch die Strukturen der Gewalt in ihren eigenen theologischen Traditionen kritisch zu untersuchen: Inwiefern enthalten biblische Texte und theologische Lehren Gewalt fördernde oder Gewalt unterstützende Strukturen, die bis heute nachwirken und zur Gewalt gegen Frauen und andere "Andere" beitragen oder diese legitimieren?

Von Frauen in den Kirchen und feministischen Theologinnen wird an diesen Fragen seit langem gearbeitet. Wenn ich im Folgenden unter dem Motto "Theologischen Gewaltmustern auf der Spur" einige zentrale Kritikpunkte feministischer Theologie zum Thema thesenartig an den Anfang dieser Tagung stelle, dann beabsichtige ich damit nicht, eine umfassende Analyse Gewalt fördernder theologischer Denkmuster vorzunehmen. Ich möchte vielmehr in Form von Thesen den Horizont des Themas etwas abstecken. Wie dies bei Thesen der Fall ist, wird das eine oder andere dabei etwas überspitzt und verkürzt werden. Eine Vertiefung einiger der von mir genannten Themen wird dann ja in den Kleingruppen und Workshops möglich sein.

 

These 1: Die hierarchisch-dualistische Weltsicht, die der christlichen Theologie zugrunde liegt, fördert Herrschaft und Gewalt

Anders als die biblische Theologie ist die christliche Theologie, vor allem die christliche Dogmatik unter dem Einfluss der griechischen Philosophie geprägt von einem hierarchisch-dualistischen Denken, das vom Prinzip der Trennung, der Abspaltung und des Gegensatzes bestimmt ist: Gott versus Welt, Transzendenz versus Immanenz, Geist versus Materie, Seele versus Körper, Kultur versus Natur, Mann versus Frau, Vernunft versus Gefühl, Aktivität versus Passivität usw.

Es ist ein hierarchischer Dualismus, weil der jeweils zweitgenannte Pol dem erstgenannten gegenüber als unterlegen und minderwertig definiert ist und vom erstgenannten Pol zu kontrollieren und zu beherrschen ist. Dieser philosophisch-theologische Dualismus hat nicht nur unsere abendländische Weltsicht bis heute fundamental geprägt, insbesondere unser Verhältnis zur Natur, zum Körper und zu den Emotionen, die es zu beherrschen gilt; der hierarchische Dualismus hat auch der Ausgestaltung einer dualistischen Geschlechterhierarchie gedient.

Für Frauen, die in diesem dualistisch gespaltenen Weltbild jahrhundertelang mit dem jeweils als minderwertig und zu beherrschenden Pol wie dem Körper, der Natur, dem Gefühl identifiziert wurden, hatte und hat dieser philosophische und theologische Dualismus verheerende Folgen. Überlegenheit, Kontrolle und Herrschaft des übergeordneten Mannes über die untergeordnete Frau waren diesem Denken zufolge in der metaphysischen bzw. göttlichen Seinsordnung grundgelegt.

 

These 2: Im Zeichen des Einen ist der (gewaltsame) Ausschluss der Anderen angelegt

Mit dieser These ist der Zusammenhang von christlichem Monotheismus und Gewalt angesprochen. Die Kritik, dass der Monotheismus, verstanden als der Glaube an einen einzigen, allmächtigen, welttranszendenten (Schöpfer)Gott, nicht nur politische und religiöse Herrschaft und Gewalt legitimiere, sondern schlimmer noch, selbst ein Gewaltpotential in sich trage, ist nicht neu. Sie reicht von der Aufklärung bis zur Postmoderne und wird auch von feministischen Theologinnen vorgebracht. In ihren Grundzügen lautet die Kritik, dass Intoleranz und Gewalt gegen Andere keine Irrungen von fehlgeleiteten Gottesgläubigen sind, die ihren Gott für Unterdrückung und Gewalt missbrauchen, sondern dem Glauben an einen einzigen, allmächtigen und alleinigen Gott inhärent sind.

Im Zeichen des Einen – des einen Gottes, der einen Wahrheit, der einen Kirche, des einen Glaubens – wurde in der Christentumsgeschichte immer wieder Gewalt gegen die Anderen ausgeübt. Als Beispiele seien hier nur die Kreuzzüge, die Hexenverfolgungen, die Judenprogrome, die Missionierung und Kolonialisierung der nicht-christlichen Welt etc. genannt. Die negativen Folgen von Religion wie z.B. Gewalt, Intoleranz und Fanatismus sind also nicht allein Folgen einer fehlgeleiteten Praxis, sondern ebenso der Theorie, der inneren Struktur des Monotheismus, der – wie alle Einheitskonzepte, auch philosophische und politische – unfähig ist, Andersheit und Vielfalt zuzulassen.[3]

Diskriminierung, Hierarchisierung und Ausschluss der Anderen sind dabei nicht nur Strukturmerkmale des christlichen Monotheismus, sondern überhaupt des abendländischen philosophischen Denkens, das ja die Ausformulierung der christlichen Glaubenslehre geprägt hat. Dieses hat seit seinen Anfängen versucht, Vielheit und Verschiedenheit durch Einheitskonzepte in den Griff zu bekommen und dem (männlichen) Verstand zu unterwerfen. Dadurch wurde ein Geschlecht (das männliche), eine Kultur (die abendländische), ein Glaube (das Christentum), ein Gott (der christliche), eine "Rasse" (die weisse) etc. zur universalen Norm erhoben.

Auch die aus männlicher Sicht konstatierte Verschiedenheit von Frauen wurde durch Einheitskonstrukte zu beseitigen und zu unterwerfen versucht bzw. das Weibliche, die Frauen als das andere Geschlecht, wurden aus dem Begriff des Menschen und aus dem Begriff des Göttlichen ausgeschlossen.[4] Dies bringt mich zur nächsten These.

 

These 3: Androzentrische Gottes- und Menschenbilder tun Frauen Gewalt an

Eine androzentrische Theologie, die von Gott nur in männlichen Bildern spricht und die in Gen 1,26f. proklamierte Gottebenbildlichkeit der Frau seit frühchristlicher Zeit mit Verweis auf 1 Kor 11,7 (der Mann ist Bild und Ablanz Gottes, die Frau aber ist Abglanz des Mannes) zu einer vom Mann abgeleiteten, über den Mann vermittelten herabgemindert hat, sanktioniert die patriarchale Gesellschaftsordnung und das hierarchische Geschlechterverhältnis. So suggeriert die einseitig männliche Rede von Gott als Vater, Richter und Herr nicht nur die Rechtmässigkeit der männlichen Herrschaft, sondern bestätigt in der Unsichtbarkeit der Frau auf der Ebene des Gottessymbols ihre reale gesellschaftliche Marginalisierung, ihren Status als Abhängige und Zweitrangige, als das andere, minderwertige Geschlecht. Für Mädchen und Frauen, die (sexuelle) Gewalt durch den eigenen Vater erlitten haben, ist das Bild vom allmächtigen Vatergott zudem besonders unheilvoll.

Die einseitige Betonung der Männlichkeit Gottes und die bis in die Gegenwart hinein behauptete verminderte Gottebenbildlichkeit der Frau hat auch Auswirkungen auf das Selbstverständnis und die Würde von Frauen, da sie keine Repräsentation ihrer Lebenswirklicheit als Frauen im religiösen Symbolsystem vorfinden, keine religiöse Sprache und Bilder haben, welche die weibliche Gottebenbildlichkeit und die Möglichkeit weiblicher Transzendenz manifest machen. Die jahrhundertelange Ausschliessung der Frauen von der Repräsentation des Göttlichen ist nicht nur mit einer Geschichte der Abwertung und Verachtung von Frauen und der Gewalt am Frauenkörper einhergegangen; sie hat ebenso das Selbstbild von Frauen geprägt bzw. das Bewusstsein des göttlichen Selbst von Frauen zerstört[5] – das Bewusstsein darüber, was es heisst, Bild Gottes zu sein als Frau und die eigenen Seinsmöglichkeiten zu entfalten.

 

These 4: Die christliche Leidens- und Opfertheologie stabilisiert Gewaltverhältnisse

So lautet einer der zentralsten Kritikpunke feministischer Theologinnen in Bezug auf Gewalt fördernde Denkmuster der christlichen Theologie, der seit vielen Jahren vorgebracht wird. Bei uns ist es vor allem Regula Strobel, die seit Jahren auf die unheilvollen Folgen der christlichen Leidens- und Opfertheologie hinweist. So bestätigte eine Leidenstheologie, in der freiweillige Selbstaufopferung, Selbstverleugnung, freiwilliges Ertragen von Leiden, Demut und Dienen im Zentrum stehen, über Jahrhunderte weibliche Rollenmuster und verfestigte den Opferstatus von Frauen in einer patriarchalen Gesellschaft. Im Kontext von sexueller Gewalt unterstützt die Anweisung zum Hinnehmen des Leidens die Täter im Zufügen von Gewalt und zementiert Strukturen, die immer wieder neue Opfer – in der Regel von Frauen – fordern.

Ähnliches gilt auch für die zentrale christologische Lehre von der Erlösung durch das Leiden und den Opfertod Jesu Christi. Der unschuldige Sohn, der in freiwilliger Unterordnung unter den Willen des Vaters und aus Liebe zu ihm, Folter und Demütigung erträgt, und der göttliche Vater, der das Leiden und Opfer des Sohnes um der Erlösung der Welt willen verlangt bzw. zulässt – diese Vorstellung beinhaltet nicht nur eine unheilvolle Verknüpfung von Liebe und Opfer, von Liebe und Gewalt, sondern "heiligt" Leiden, Opfer und Gewalt als Mittel zur Erlösung. Die Vorstellung, dass zur Rettung, zur Erlösung aus einer schwierigen Situation oder zur Erreichung "höherer Ziele" Opfer nötig bzw. unvermeidbar sind, ist längst keine exklusiv christliche Wahrheit mehr, sondern zu einer gängigen gesellschaftlichen und politischen Argumentationsfigur geworden.[6] Damit geraten die Täter aus dem Blickfeld und werden nicht zur Verantwortung gezogen. Dies ist mit ein Grund, weshalb der christliche Opferdiskurs keine befreiende Gegenkonstruktion zu den bestehenden Gewaltverhältnissen darstellt, sondern deren "Normalität" stützt.

Für Frauen, die (sexuelle) Gewalt erleiden, führt die Identifikation mit Christus als Opfer dazu, sich dem Willen der Männer unterzuordnen, die ihnen Gewalt zufügen, Leiden und Gewalt zu ertragen, statt aktiv gegen die Gewaltsituation zu kämpfen. In diesem Sinne kann das zentrale christologische Modell von Christus als Opfer Gewaltstrukturen festigen und Opfer in ihrem Opfersein festhalten.

 

These 5: Der Mythos von der Urschuld der Frau macht die Opfer zu Täterinnen

Der christliche Mythos von der Urschuld der Frau, die das Elend und das Böse in die Welt gebracht habe, wird von feministischen Theologinnen ebenfalls als ein theologisches Denkmuster kritisiert, das Gewalt gegen Frauen über Jahrhunderte legitimiert hat. Die christliche Interpretation des Mythos vom Sündenfall definiert Frauen über ihre Sexualität und konstruiert eine unmittelbare Verknüpfung von weiblicher Sexualität und Sünde. Die Sünde Evas, und mit ihr die Sünde aller Frauen, wird in der (sexuellen) Verführung des Mannes gesehen.

Diese Vorstellung, dass die Frau das Einfallstor für den Teufel sei, dass sie als erste sich verführen liess und den Mann verführte, hat die christliche Sicht von der Frau zutiefst geprägt. Sie wurde nicht nur für das Hereinbrechen der Sünde und des Bösen in die Welt verantwortlich gemacht, sondern sie selber, ihre weibliche Natur, wurde zur Verkörperung von triebhafter und sündiger Fleischlichkeit, zur Personifikation von Verführbarkeit, Verführungskunst, von Sexualität, Triebhaftigkeit und moralischer Schwäche schlechthin erklärt. Diese Sicht wurde durch die Jahrhunderte hindurch von unzähligen Kirchenvätern und Kirchenlehrern wiederholt und hat in der Verfolgung von Abertausenden von Frauen als Hexen ihren schrecklichsten Niederschlag gefunden.

Das christliche Lehrstück von der Urschuld der Frau hat aber auch das abendländische Frauenselbstbild grundlegend geprägt und unter anderem die Ausbildung eines weiblichen Schuldbewusstseins verstärkt. Wie Untersuchungen zeigen, leiden bis heute viele Frauen unter einem diffusen Grundgefühl von Schuld, und selbst Frauen, die Opfer von Gewalt geworden sind, fühlen sich häufig selbst als Schuldige. Der Mythos von der Urschuld der Frau verstärkt den Mechanismus der Schuldübernahme bei Frauen, die sexuelle Gewalt erfahren haben, d.h. er bestärkt sie in der Wahrnehmung ihrer selbst als Verursacherin der sexuellen Gewalttat, während er den Täter aus der Verantwortung entlässt. Er führt dazu, dass das Opfer sich häufig schuldig, also als Täterin fühlt, und der Täter zum Opfer erklärt und entschuldigt wird. Der Mythos von der Urschuld der Frau ist damit bis heute äusserst herrschaftsstabilisierend.[7]

 

These 6: Die christliche Pflicht zur Vergebung trägt zur Vertuschung von Gewalt bei

Im Hinblick auf die Opfer von Gewalt ist auch die christliche Rede von der Vergebung kritisch zu betrachten. Wird Vergebung als allgemeine, christliche Pflicht verstanden – losgelöst vom jeweiligen konkreten Kontext – kann sie sehr schnell gegen von Gewalt betroffene Menschen eingesetzt werden. Vergeben sie dem Täter nicht, fühlen sie sich oft selbst schuldig, da sie nicht zur Vergebung bereit sind. Der Täter hingegen verlangt häufig vom Opfer Vergebung, ohne wirkliches Bewusstsein der eigenen Schuld und der Reue über die Tat. Eine so interpretierte christliche Vergebungspflicht ist dann nichts anderes als eine Vertuschung der Gewalttat und eine Stabilisierung der herrschenden Macht- und Gewaltverhältnisse.[8]

Für Frauen kommt erschwerend hinzu, dass Vergebungs- und Versöhnungsbereitschaft sowieso zur weiblichen Rolle gehören. Mit dieser Art von Vergebung – Frauen sollen den Männern immer wieder ihre Untaten vergeben – werden strukturelles Unrecht und Gewalt immer wieder zugedeckt und kein Weg geöffnet zu anderen, gerechteren Verhältnissen. Dazu aber wäre nicht Vergebung, sondern Umkehr nötig: Umkehr aus den Macht- und Gewaltverhältnissen. Voraussetzung dafür aber ist es, dass der Täter seine Tat überhaupt als Unrecht begreift, Verantwortung dafür übernimmt und zu einer Veränderung bereit ist. Erst dann ist vielleicht irgendwann auch Vergebung von Seiten des Opfers möglich.[9]

 

These 7: Universale Heilskonzepte tendieren zu Totalitarismus und Gewalt

Mit dieser These ist ein Zusammenhang angesprochen, der nicht nur das Christentum, sondern alle Heilsutopien betrifft. Insofern diese, ob nun religiöser oder politischer Natur, das Bedürfnis der Menschen nach einem Ort der Vollkommenheit, des Idealen und des Heils erfüllen und als erreichbar vor Augen führen – sei es im Himmel oder auf Erden, tendieren sie dazu, das Unvollkommene, die reale Wirklichkeit und die unvollkommenen Menschen mit ihren "unreinen" Bedürnissen entweder zu überspringen oder durch Zwang und Gewalt, durch inneren und äusseren Terror in diesen Zustand der Vollkommenheit und des Heils zu bringen. Susanne Heine hat diesen Mechanismus in der FAMA 2/2002 zum Thema "Religion – Politik – Gewalt" sehr eindrücklich an einigen historischen Beispielen aufgezeigt.[10]

Auch der christliche Heils- und Exklusivitätsanspruch, der da lautet: "allein in Christus hat sich das Heil für alle Menschen ein-für-allemal ereignet; ausserhalb der christlichen Kirche gibt es kein Heil", hat diese These auf grausame Weise belegt und die Welt mit Gewalt, Terror und Eroberung überzogen: Juden und Jüdinnen wurden als Anti-Christen verfolgt und ermordet, ganze Kontinente gewaltsam zum christlichen Heil bekehrt, Frauen als Hexen verfolgt und zu Hunderttausenden verbrannt, abweichende Meinungen als Ketzerei verurteilt und ausgerottet. Diese extremen und grausamen Folgen des christlichen Heilsanspruchs scheinen heute in weiter Ferne (jedenfalls was den äusseren Terror anbelangt, mit dem inneren Terror dagegen sind wir in der katholischen Kirche noch immer konfrontiert).

Dennoch stellt sich die Frage, ob nicht im Verständnis von der exklusiven und universalen Heilsbedeutung bzw. Einzigartigkeit Jesu Christi, die im Zentrum der christlichen Theologie steht, strukturell ein Ausschluss der "Anderen" – der Juden und Jüdinnen, der Frauen, der nicht-christlichen Menschen – angelegt ist, der sehr leicht, unter bestimmten politischen und sozialen Konstellationen, in reale Ausgrenzung und Gewalt umschlagen kann.

Für mich liegt die Herausforderung einer christlichen Theologie, die dazu beitragen will, Gewalt in unserer Kultur zu überwinden, deshalb darin, den christlichen Glauben an Jesus Christus so zu formulieren, dass damit nicht eine Abwertung der Anderen und ihrer Glaubensvorstellungen verbunden ist. Anders gesagt: Es geht um die Suche nach einer neuen Bestimmung christlicher Identität, welche die "Logik des Kontrastes" durchbricht, das Eigene nicht mehr im Gegensatz und in Abwertung der Anderen definiert und damit Raum schafft für die "Anerkennung der Anderen" und ihrer religiösen Heilswege.[11]

Damit bin ich am Schluss meiner Einführung ins Thema angelangt, die thesenartig aufzeigen wollte, inwiefern bestimmte theologische Denkmuster Anteil haben an kulturellen und gesellschaftlichen Strukturen der Gewalt.

 

Doris Strahm

 

Fussnoten:

1 Vgl. Monika Jakobs: Säkulare Gesellschaft und Religion. Im Gespräch mit Jürgen Habermas, in: FAMA 2/2002: Religion - Gewalt - Politik, 14-15.

2 Vgl. Sigrid Häfner, Art. Gewalt. Strukturelle Gewalt, in: Wörterbuch der Feministischen Theologie, 2., vollständig überarbeitete und grundlegend erweiterte Auflage, Gütersloh 2002, 227-228.

3 Vgl. Alois Halbmayr, Polytheismus oder Monotheismus? Zur Religionskritik der Postmoderne, in: Heinrich Schmidinger (Hg.), Religiosität am Ende der Moderne. Krise oder Aufbruch?, Innsbruck/Wien 1999, 228-264.

4 Vgl. dazu ausführlicher Annemarie Pieper: Die fremde Frau. Philosophische Strategien zur Aufhebung von Unterschieden am Beispiel der Geschlechterdifferenz, in: Heike Walz, Christine Lienemann-Perrin, Doris Strahm (Hg.): "Als hätten sie uns neu erfunden". Beobachtungen zu Fremdheit und Geschlecht, Luzern 2003, 27-40.

5 Vgl. dazu z.B. Luce Irigaray: Göttliche Frauen, in Dies., Genealogie der Geschlechter, Freiburg i.Br. 1989, 93-120.

6 Vgl. Regula Strobel: Opfer oder Zeichen des Widerstandes? Kritische Blicke auf problematische Interpretationen der Kreuzigung Jesu, in: Claudia Janssen / Benita Joswig (Hg.), Erinnern und aufstehen - antworten auf Kreuzestheologien, Mainz 2000, 68-82; Ulrike Eichler: Weil der geopferte Mensch nichts ergibt. Zur christlichen Idealisierung weiblicher Opferexistenz, in: Dies./Ilse Müllner (Hg.): Sexuelle Gewalt gegen Mädchen und Frauen als Thema der feministischen Theologie, Gütersloh 1999, 124-141.

7 Vgl. dazu Lisa Jung: Sexuelle Gewalt gegen Mädchen und Frauen. Ein Thema für Theologie und Kirche, in: Ulrike Eichler/Ilse Müllner (Hg.): Sexuelle Gewalt gegen Mädchen und Frauen als Thema der feministischen Theologie, Gütersloh 1999, 17-23.

8 Vgl. ebd. 27-30.

9 Vgl. dazu Ulrike Bail: Von der Langsamkeit der Vergebung, in:Ulrike Eichler/Ilse Müllner (Hg.): Sexuelle Gewalt gegen Mädchen und Frauen als Thema der feministischen Theologie, Gütersloh, 99-123.

10 Susanne Heine: Religion und gewaltsame Politik. Eine religionspsychologische Perspektive, in: FAMA 2/2002, 6-7. Vgl. dazu auch Silvia Strahm Bernet: Die grössten Unmenschlichkeiten hat man im Namen eines schönen Heilskonzeptes begangen. Universale Erlöungsvorstellungen und ihr Hang zum Totalitären, in: Doris Strahm/Regula Strobel (Hg.): Vom Verlangen nach Heilwerden, Luzern 1991, 81- 99.

11 Vgl. dazu Manuela Kalsky: Christaphanien. Die Re-Vision der Christologie aus der Sicht von Frauen in unterschiedlichen Kulturen, Gütersloh 2000, 303-329.

 

 

© Doris Strahm 2002