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Religion und Lust: "Alles Schöne ist Sünde! – Ist alles Schöne Sünde?"
Vortrag im "Café philosophique" der röm.-kath. Pfarrei und der ev.-ref. Kirchgemeinde Rheinfelden am 19. März 2002
"Religion und Lust" lautet das Thema des heutigen Abends. Das Verhältnis dieses Paares scheint auf den ersten Blick klar. Religion und Lust sind, zumindest was die christliche Religion betrifft, von Anfang an ein schwieriges Paar gewesen, in ständigem Wider-Streit miteinander, in einem Kreis von Anziehung, Ablehnung und Verachtung gefangen. Immer wieder hat die Religion die Lust zu kontrollieren und bändigen versucht, während die Lust umgekehrt die heilige Ordnung der Welt ständig durcheinander gebracht und gefährdet hat. Wir alle kennen die christliche Religion als eine, die nicht gerade für ihre Lustfreundlichkeit bekannt ist. Im Gegenteil: Das Christentum wird von vielen Menschen als Hauptursache für die Lust- und Körperfeindlichkeit der christlich-abendländischen Kultur verantwortlich gemacht. Die Generation meiner Eltern und Grosseltern kann zu den Auswirkungen dieser christlichen Lustfeindlichkeit in ihrem Leben wohl manch Leidvolles erzählen. Zum Glück scheinen wir heute dieser christlichen Religion der Sinnenfeindlichkeit, der Keuschheit und schuldbeladenen Sexualität entronnen zu sein. Hat früher die Religion die Lust von ihrem zentralen Platz im menschlichen Leben zu verdrängen versucht, so hat sich heute die Lust von der Fesselung durch die Religion gelöst, ja in gewisser Weise die Religion geradezu ersetzt. Anstelle der Religion ist ein Kult der Lust getreten, der unseren Alltag durchzieht und quasi religiös Erfüllung und Erlösung verheisst. Doch statt der erhofften Freiheit zeichnet sich bereits eine "Tyrannei der Lust" ab, die den grösstmöglichen Lustgewinn zum Gebot und die verheissene Freiheit vom Zwang selber wieder zum Zwang macht. Damit ist der Rahmen abgesteckt, innerhalb dessen ich mich mit einigen Facetten des Themas "Religion und Lust" auseinandersetzen möchte. Da das Ganze kurz sein und Anstösse für das gemeinsame Gespräch bieten soll, wird naturgemäss einiges nur thesenartig und grob vereinfacht dargestellt werden können. Ausserdem ist meine Sicht auf die Geschichte der Beziehung von christlicher Religion und Lust nicht einfach unbeteiligt und neutral, sondern geprägt von meiner Situation als katholisch sozialisierte Frau, welche die lustfeindliche Seite des Christentums in ihrer katholischen Ausformung noch am eigenen Leib erfahren hat und als feministische Theologin seit vielen Jahren über den Zusammenhang von Körperfeindlichkeit und Frauenfeindlichkeit in unserer Kultur nachgedacht hat. Soviel zur Einleitung.
Das Christentum und die (Fleisches-)Lust: eine ambivalente Beziehung Auf den ersten Blick scheint alles klar: Das Christentum ist eine Religion der Körper- und Lustfeindlichkeit. Auf den zweiten Blick ist die Sache etwas vielschichtiger und uneindeutiger. Während die Fleisches- und Geschlechtslust in der Geschichte des Christentums über weite Strecken mit Argwohn, Angst oder Verachtung betrachtet wurde, stand daneben gleichzeitig die christliche Aussage über die Welt als grundsätzlich gute Schöpfung Gottes. Während die antike griechisch-römische Welt den Körper als Gefängnis der göttlichen Seele und Sitz der niedrigen Begierden angesehen hat, verkündete das Christentum provozierend die Inkarnation, die Fleischwerdung des göttlichen Wortes, und bejahte und "heiligte" das Fleisch als Träger des göttlichen Heils. Damit bot das Christentum die Möglichkeit, den Körper bzw. das Fleisch anders zu bewerten: nicht mehr nur als Sinnbild materieller Bedürftigkeit, unkontrollierter Lust und Vergänglichkeit, die den Geist behindern in seiner Suche nach Erkenntnis und dem wahren, göttlichen Sein, sondern als Tempel des göttlichen Geistes, als Ort, wo wir Gott begegnen. "Caro cardo salutis – Das Fleisch ist das Herz des Heils", wie es der Kirchenvater Tertullian formuliert hat. Doch trotz dieser anderen Sicht des Körpers hat das Christentum und seine Lehre von der Fleischwerdung Gottes keine Geschichte der Körperbejahung oder gar Körperliebe und Lebenslust begründet. Eher das Gegenteil war der Fall: Die leibfeindlichen und auch lustfeindlichen Strömungen der damaligen Umwelt flossen schon sehr bald in die christliche Theologie ein und prägten in der Folge das christliche Denken weit mehr als die körperbejahenden Aspekte der christlichen Inkarnationslehre oder der neutestamentlichen Heilungsgeschichten, für die Heil das Heilwerden des ganzen Menschen – mit all seinen Sinnen – umfasste. Damit vergab das Christentum die Chance, den Körper, die Sinnenhaftigkeit und damit auch die Sexualität als gute Schöpfung Gottes zu sehen – nicht zuletzt unter dem Zwang, sich an die herrschenden gesellschaftlichen Sitten und Werte anzupassen. So liess sich die stoische Sexualethik, die den Sinn der Sexualität nicht in der Lust, sondern in der Reproduktion sah, sehr gut mit den asketischen Zügen verbinden, die sich aus paulinischer Interpretation ableiten liessen. Das für das Neue Testament prägende hebräische Denken, für das es keine strenge Unterscheidung zwischen Körper und Seele gab, wurde vom neuplatonischen und aristotelischen Körper-Geist und Leib-Seele Dualismus der griechisch-römischen Welt abgelöst. Und die neuplatonische "Scham, im Leibe zu sein" prägte die christliche Frömmigkeit weit stärker als die alttestamentliche Lebenszugewandtheit. Der Kirchenvater Augustinus, der die christliche Theologie und vor allem die christliche Sexualmoral über Jahrhunderte nachhaltig geprägt hat, rückte die Frage der Fleischeslust und des Begehrens gar ins Zentrum der christlichen Theologie. Stark beeinflusst von dualistisch-leibfeindlichen Lehren und Strömungen seiner Zeit, legte er mit seiner Lehre von der Erbsünde Grundsteine für die negative christliche Sicht von Sexualität und Lust. Sexuelle Lust und Begierde sind für Augustinus Folge des Verlusts der ursprünglichen Gnade durch den Sündenfall. Im Paradies hat der Mensch das fleischliche Begehren der Lust nicht gekannt; erst durch den Sündenfall hat sich das Fleisch gegen das Höhere, den Willen, erhoben und gehorcht ihm seither nicht mehr. Daraus ergab sich eine höchst merkwürdige Ehelehre: Die Ehe gilt als gottgewollt, da die Fortpflanzung nötig ist, der sexuelle Akt dagegen gilt als schändlich wegen der Lustempfindung und der Eigenmächtigkeit der sexuellen Begierde. Daher ist alles, was aus dem Beischlaf geboren wird, "Sündenfleisch", hat Anteil an der Ursünde. Erlaubt werden kann der in sich sündige Beischlaf nach Augustinus nur dadurch, dass die Eheleute nicht die Lust, sondern den Zweck der Ehe anstreben: die Fortpflanzung. Diese Sicht, so verdreht sie uns heute vorkommen mag, hat weit reichende Folgen gehabt: Sie hat Sexualität und Sünde praktisch gleichgesetzt und sie hat Liebe und körperliche bzw. sexuelle Lust getrennt. Und in abgeschwächter Form bestimmt sie die offizielle römisch-katholische Lehre von Ehe und Sexualität bis heute, welche Sexualität nur im Hinblick auf die Fortpflanzung als erlaubt ansieht (vgl. das generelle Verbot von Verhütungsmitteln, also auch von Kondomen und dies im Zeitalter von Aids!). Diese Trennung von (ehelicher) Sexualität und Lust hat die Lebensgeschichten vieler Menschen, vor allem aber unzähliger Frauen bis in die Gegenwart hinein mit quälenden Spannungen und Schuldgefühlen belastet. Meine Mutter hat noch zu dieser Generation von Frauen gehört, für die sexuelle Lust mit Gefühlen der Sünde verbunden war, und auch ich musste mir die Liebe zu meinem Körper und seinem lustvollen Potential nach und nach und mühsam durch verinnerlichte Verbote und die Abwertung des eigenen Körpers hindurch erschliessen. Damit bin ich bei einem weiteren äusserst problematischen Aspekt der christlichen Religion angelangt, der Hand in Hand ging mit der Körper- und Lustfeindlichkeit: die Frauenfeindlichkeit und Frauenverachtung. Mit der Abwertung des Körpers und der Fleischeslust wurde nämlich auch die Frau abgewertet. Die Frauenverachtung ist zwar ebenso wenig eine genuin christliche Erfindung wie die Körper- und Lustfeindlichkeit, sondern Folge einer patriarchalen Weltsicht, welche die westlich-abendländische Kultur geformt hat. Diese ist durch einen Dualismus von Geist und Fleisch, Seele und Körper geprägt, wobei die Männer ihr ideales Selbst mit Geist, Vernunft und Wille identifizierten und die als minderwertig empfundenen Teile ihres Selbst wie Körperlichkeit, Begierden, Lust, Sinnlichkeit, Gefühle usw. auf die Frauen projizierten und Frauen zum anderen, minderwertigeren Geschlecht erklärten. Auch das Christentum übernahm sehr bald diese Sicht von der Frau und zementierte ihre Zweitrangigkeit und Unterordnung unter den Mann religiös als gottgewollte Ordnung. Als Eva wird die Frau in der christlichen Tradition zum Symbol der Sünde, zum Sinnbild der sexuellen Verführung, aber auch der Verführbarkeit und der körperlichen Begierden. Die jahrhundertelange Identifikation von Frausein mit trieb- und sündhafter Fleischlichkeit, sexueller Verführungskunst und moralischer Schwäche durch die christliche Theologie hat die Frauen und ihre Lust nicht nur der Kontrolle von Männern unterworfen, sondern ihnen auch verunmöglicht, ihre eigene Lustfähigkeit und ihr eigenes Begehren zu entfalten.
Von der Freiheit der Lust zum Lustzwang Heute leben wir in einer Zeit, in der sich die Lust von der Fesselung durch die Religion gelöst und ihren zentralen Platz im menschlichen Leben wieder zurückgewonnen hat. Dies verdanken wir, wie es scheint, der Aufklärung und der Abkehr von der Religion, durch die der westliche Mensch nach und nach seine Autonomie und sein "Recht auf Lust" errungen hat. Doch auch diese These gilt nur bedingt. Denn schauen wir genauer hin, dann zeigt sich, dass die Erfindung des Puritanismus und einer repressiven Sexualmoral keineswegs nur Sache der Kirche war, sondern erstaunlicherweise mit dem Zeitalter der Aufklärung im 17. Jahrhundert und vor allem dem Auftreten der bürgerlichen Gesellschaft im 18. und 19. Jahrhundert zusammenfiel. Das Bürgertum setzte eine pseudowissenschaftliche, vor allem aber ökonomische Sicht der Sexualität durch, die bis ins 20. Jahrhundert hinein weiter wirkte: Die Beherrschung der Sexualität, glaubte man, fördere die Kreativität; die Unterdrückung des Geschlechtstriebs und der Fleischeslust lasse sich in Leistung umsetzen. Diese bürgerliche Ideologie war eine wesentliche Voraussetzung für die industrielle Revolution und die Entstehung des Kapitalismus, der wiederum vom protestantischen Puritanismus gestützt wurde. So gingen Kapitalismus und Puritanismus Hand in Hand, ja die Kirche machte sich den bürgerlichen Moralismus ganz und gar zu Eigen, verbreitete und verteidigte ihn bis tief ins 20. Jahrhundert hinein. Und heute? In unserer postmodernen Welt ist die bürgerliche und kirchliche Moral dank sexueller Revolution weitgehend abgeschafft, und wie erfreuen uns frei und ungehindert unserer Lust. Lust und Sexualität sind in unserer Gesellschaft allgegenwärtig, werden in jeder Form und an jedem Ort öffentlich beredet, zur Schau gestellt, aber auch vermarktet und als Ware verkauft. Genuss und Lust werden zum Massstab für das richtige Leben, zu erstreben ist der grösstmögliche Lustgewinn. Aus der Befreiung der Lust aus den Fesseln der Moral wird nun das Gebot zur Lust, aus der verbotenen Lust die obligatorische Lust, aus der geheimen Lust die öffentlich zur Schau gestellte, detailliert beschriebene und der Leistung unterworfene Lust. Die Lust wird verdinglicht und immer käuflicher, je freier sie ist (vgl. die enormen Umsätze der Sexindustrie). Gleichzeitig ist trotz Lustmaximierung eine Verarmung der Lust festzustellen, ein Erkalten des Begehrens, das durch immer neue Kicks angefacht werden muss. Ist aus der erstrebten Freiheit also ein neuer Zwang geworden, aus dem verheissenen Glück eine neue Last? Fast scheint es so. Und statt gegen die Unterdrückung der Lust haben wir heute wohl viel eher für ihren Schutz vor der Banalisierung, der völligen Kommerzialisierung und dem Erkalten zu kämpfen.
Lust als erotische Liebe zur Welt Dem von der Konsumgesellschaft verordneten Zwang zu Genuss und Lustmaximierung und der kommerzialisierten Sexualität setzen viele Frauen und auch ich selber einen Lustbegriff entgegen, der umfassender ist und Lust als Lebenslust, als Zustand besonderer Intensität, besonderer Wachheit, besonderen Lebendigseins, besonderen Interesses am Leben und der Welt versteht. Lust ist ein Potential in uns allen, das so verschiedene Gefühle und Empfindungen wie Sinnenlust, Erkenntnislust, Wohlbefinden, körperliche Lust und Begierde umfassen kann. Lust verstanden als lustvoll erotisches Verhältnis zur Welt und zu uns selbst, als Fähigkeit, das Leben als Berührte und Berührende und nicht als Gleichgültige wahrzunehmen, bringt uns nicht nur in Kontakt mit unserem Selbst und unserer schöpferischen Lebenskraft, sie macht uns nicht nur unabhängiger von äusseren Zwängen und Fremdbestimmung, sondern vertieft gleichzeitig unser Verhältnis zur Welt. Denn Lust ist nicht nur ein Akt der Selbstzentriertheit, der grösstmöglichen Nähe zu uns selbst, sondern zugleich ein Akt des Aus-uns-heraus-Tretens, des Berührtseins von etwas, das ausserhalb von uns ist. In diesem Sinne ist erotische Lust die "sinnlich fühlbare Brücke" (Christina Thürmer-Rohr) zur Welt und den Menschen hin. Dieses Verständnis von Lust als erotische Lebenskraft, als sinnlich fühlbare Brücke, die uns mit der Welt und den Menschen verbindet, wurde von vielen feministischen Theologinnen aufgegriffen und u.a. zur Grundlage einer neuen Sicht des Verhältnisses von Religion und Lust bzw. von Religion und Erotik gemacht. So wird z.B. die menschliche und erotische Liebe nicht mehr als Gegenspielerin zur Gottesliebe gesehen. Die lustvoll erotische Liebe, die in einer Beziehung der wirklichen Gegenseitigkeit und Achtung voreinander gelebt wird, wird vielmehr zum Ort, wo sich die Erfahrung der Liebe Gottes bzw. von Gott als Liebe am intensivsten verkörpert. Als solche ist sie die Quelle unserer Fähigkeit zur Transzendenz, zum Überschreiten der Grenzen des eigenen Ich zu anderen hin; sie ist die tiefste Erfahrung unserer Beziehungshaftigkeit, unseres Verbundenseins mit anderen. Lust, erotische Liebe ermöglicht uns so die Erfahrung von Transzendenz und gleichzeitig von Immanenz: sie lässt uns die Grenzen überschreiten zwischen unseren "Körper-Selbst", verbindet uns zu einem Fleisch und bringt uns zugleich tiefer zu uns selbst. Sie ist die Erfahrung ganz bei mir und gleichzeitig ausser mir, ganz bei einem/einer Anderen zu sein, die Erfahrung von Hingabe und Selbstwerdung. Aus einer solchen Bejahung der Erotik und einer lustvollen Beziehung zur Welt erwächst eine Theologie, die mit allen Sinnen glaubt, die aus dem Staunen über die Schönheit der Schöpfung und unserer Verbundenheit mit ihr, ihre Kraft zum Widerstand gegen Gewalt und Unrecht schöpft. Eine solche Theologie, die Eros und Nächstenliebe nicht länger trennt, göttliche und menschliche Liebe nicht als Gegensatz versteht, verdächtigt auch nicht länger alles Schöne der Sünde, sondern bejaht die Schönheit des Lebens und unsere Fähigkeit zu erotischer Liebe und Lust als Teil unseres göttlichen Geschaffenseins. Sie knüpft damit an den biblischen Glauben an die gute Schöpfung Gottes und Jesu Vision von einem Leben in Fülle an, das die Menschen in ihrem ganzen Sein und all ihren Sinnen umfasst. So gesehen müssen Religion und Lust nicht ein zerstrittenes Paar bleiben, um auf das Bild vom Anfang zurückzukommen, sondern könnten in Freundschaft verbunden sein.
Doris Strahm
Literatur Regina Ammicht Quinn, Körper – Religion – Sexualität. Theologische Reflexionen zur Ethik der Geschlechter, Mainz 1999. Dies., Art. Sexualität, systematisch-theologisch, in: Wörterbuch der Feministischen Theologie, hg. von Elisabeth Gössmann u.a., 2. vollständig überarbeitete und grundlegend erweiterte Auflage, Gütersloh 2002, 507-509. Jean-Claude Guillebaud, Die Tyrannei der Lust. Sexualität und Gesellschaft, München 1999. Carter Heyward, Touching our Strength. The Erotic as Power and the Love of God, San Francisco 1989. Doris Strahm, Erotik als Lebens-Macht/Kraft, in: FAMA. Feministisch-theologische Zeitschrift 3/1991, 12-14.
© Doris Strahm 2002 |
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