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Inkarnation im weiblichen Fleisch – Von der Heilung / Heiligung des Frauenleibes

 

Vortrag an der Evangelischen Akademie Tutzing vom 19. September 1998 [1]

 

Et incarnatus est: Und es ist Fleisch geworden, das Wort Gottes ist Fleisch geworden, ist eingegangen in die irdische und körperliche Existenz – dies gehört zu den zentralen Inhalten des christlichen Glaubens. Die Aussage, dass der göttliche Logos Fleisch geworden ist, wie es im Prolog des Johannesevangelium heisst, war in der damaligen griechisch-römischen Welt, in der der Körper als Gefängnis der göttlichen Seele und Sitz der niedrigen Begierden angesehen wurde, ein provozierender und auch anstössiger Gedanke. Wie konnte der unendliche, unwandelbare Gott, der unbewegte Beweger, wie der griechische Philosoph Aristoteles das Göttliche umschrieb, sich so erniedrigen und in die Endlichkeit und Materialität des vergänglichen Seins eingehen?

Und nicht genug: Das Neue Testament benutzt nicht den griech. Begriff "soma", der den Leib oder Körper meint, sondern geradezu provokativ den Begriff "sarx", Fleisch, der den Körper in seiner Vergänglichkeit und Sterblichkeit, seinen Begierden und seiner Sündhaftigkeit kennzeichnet und damit am deutlichsten der Sphäre des Göttlichen entgegengesetzt ist. Nach neutestamentlicher Vorstellung, vor allem der des Paulus, ist das "Fleisch" aufgrund seiner Begierde der Macht der Sünde geradezu konstitutionell verfallen. Und als Paradigma schlechthin dafür gilt die Sexualität. Die Skepsis gegenüber dem hinfälligen Fleisch verbindet sich bei Paulus mit dem griechischen Körper-Geist-Dualismus zu einer negativen und ablehnenden Sicht des Fleisches. Fleisch und Geist stehen sich in einem dualistischen, unversöhnlichen Gegensatz gegenüber, dessen Auflösung allein durch eine göttliche Intervention möglich wird: Der göttliche Logos wird Fleisch in einem konkreten, sterblichen Menschen. Damit behauptete die christliche Verkündigung etwas für das damalige hellenistische Denken Paradoxes: nämlich eine Einheit der absoluten und unvereinbaren Gegensätze Gott und Mensch, Schöpfer und Geschöpf, Unendlichkeit und Endlichkeit, göttlicher Geist (Logos) und menschliches Fleisch (Sarx).

Die Frage, wie diese Einheit, wie die Fleischwerdung des göttlichen Logos im sterblichen Menschen Jesus von Nazaret gedacht werden kann, entzündete über Jahrhunderte hinweg eine heftige Diskussion, welche erst im 5. Jahrhundert, mit dem christologischen Dogma von Chalcedon (451 n. Chr.) zu einem vorläufigen Ende kam. Mit der dogmatischen Definition, dass Jesus Christus wahrer Gott und wahrer Mensch sei, wesensgleich mit dem Vater der Gottheit nach, wesensgleich mit uns der Menschheit nach, hielt das Konzil von Chalcedon an der vollen Göttlichkeit und der vollen Menschlichkeit bzw. an deren Einheit in Jesus Christus fest. Es lehnte damit alle anderen Positionen als häretisch ab, die entweder die Göttlichkeit Jesu oder seine Menschlichkeit abschwächten oder gar bestritten. Gleichzeitig hat die christliche Kirche mit der Lehre von Inkarnation, der Fleischwerdung des göttlichen Logos, im Rahmen des damaligen dualistischen Denkens den Dualismus von Gott und Mensch, von göttlichem Geist und menschlichem Fleisch, von Logos und Sarx zu überwinden versucht und das Fleisch bejaht und "geheiligt" als Träger des göttlichen Heils.

Damit bot das Christentum die Möglichkeit, den Körper bzw. das Fleisch anders zu bewerten: nicht mehr nur als Sinnbild materieller Bedürftigkeit, Verletzlichkeit und Sterblichkeit, die den Geist behindern in seiner Suche nach Erkenntnis und dem wahren, göttlichen Sein, sondern als Tempel des göttlichen Geistes, als Ort, wo wir Gott begegnen. Doch wir heutigen Frauen und Männer wissen es: Trotz dieser anderen, ja damals wohl revolutionären Sicht des Körpers hat das Christentum und seine Lehre von der Inkarnation keine Geschichte der Körperbejahung oder gar der Körperliebe begründet. Und speziell für die Frauen ist die Botschaft von der Fleisch- bzw. Menschwerdung Gottes nicht zu einer Heilsbotschaft geworden, wie feministische Theologinnen kritisieren. Im Gegenteil: Die Lehre von der Inkarnation, von der Fleischwerdung Gottes in Jesus Christus, wurde in der Geschichte des Christentums während Jahrhunderten so ausgelegt, dass sie die Abwertung und Diskriminierung von Frauen verstärkt und verhindert hat, dass ihr Fleisch, ebenso wie das des Mannes, als Träger des Heils angesehen wurde.

 

Fleischwerdung Gottes in einem Mann

Diese Abwertung und Ausschliessung von Frauen geschah auf verschiedene Weise: Einmal dadurch, dass der Gedanke von der einmaligen Menschwerdung Gottes im Mann Jesus von Nazaret in einer patriarchalen Welt schon sehr bald als Mannwerdung ausgelegt wurde. So hat sich zum Beispiel schon zu Beginn des Christentums der Gedanke der Nicht-Erlösungsfähigkeit des weiblichen Geschlechts bzw. der Mannwerdung als Bedingung der Erlösung von Frauen ausgebildet. Viele Kirchenväter teilten diese Ansicht: Nur indem die Frau ihre Weiblichkeit, d.h. ihren weiblichen Körper, negiert und männlich, ein männlicher Geist wird, kann sie erlöst werden. Erlösung der Frau wird in vielen Zeugnissen der Tradition als Rückführung des vom Männlichen abgeleiteten minderen Weiblichen in das Männliche verstanden.

Damit wurde einerseits die Vorstellung von der Männlichkeit Gottes und andererseits die grössere Gottähnlichkeit des Mannes verstärkt. Die Lehre von der Inkarnation Gottes in einem Mann bestätigte so die bereits bestehende androzentrische Lehre vom Menschen, die nur den Mann als vollwertiges Bild Gottes ansah. Der Mann ist nicht nur gottähnlicher als die Frau, sondern auch christusförmiger als die Frau, da der göttliche Logos das männliche und nicht das weibliche Geschlecht für seine Inkarnation ausgewählt hat.

Zu dieser theologischen Ausschliessung und Abwertung der Frauen kam eine praktische: Die Lehre von der Inkarnation Gottes in Jesus Christus wurde von der Kirche jahrhundertelang dazu benutzt, männliche Herrschaft und weibliche Unterordnung in Kirche und Gesellschaft religiös zu rechtfertigen. In der katholischen Kirche werden Frauen, entsprechend den neuesten päpstlichen Verlautbarungen bis in alle Ewigkeit, von der Christus-Repräsentation im Priesteramt ausgeschlossen – u.a. mit der Begründung, weil sie nicht Abbild Christi sein können: Denn Christus war und bleibt ein Mann, wie es in der vatikanischen Erklärung zur Frage der Zulassung der Frauen zum Priesteramt von 1976 heisst. Der Körper, das Geschlecht der Frauen wird also zum Gefängnis, das sie von Gott trennt; ihr Fleisch hat nicht Anteil an jenem Menschsein, in das der göttliche Logos eingegangen ist.

Auch wenn das Christentum verkündet hat, dass Gott Fleisch, d.h. Mensch und nicht Mann geworden ist, so wird durch eine männerzentrierte Anthropologie, in der nur der Mann im Vollsinn Mensch und Norm des Menschseins ist, sowie durch die Betonung des geschlechtlichen Mannseins Jesu, wie es die katholische Kirche tut, die Inklusivität der Inkarnation aufgehoben. Wenn das Mannsein für die Inkarnation und Erlösung unabdingbar ist, dann sind, so die Kritik der US-amerikanischen Theologin Elizabeth Johnson, Frauen aus dem Kreis der Erlösung ausgeschlossen und nicht fähig, mit ihrem Fleisch Jesus, den Christus, zu repräsentieren. Nur im Mann ver-körpert sich Gott; nur sein Fleisch ist Träger des Heils.

Die Frau dagegen bleibt, was sie in einer von Männerängsten und Männerprojektionen geprägten christlichen Theologie immer schon war: Eva, Symbol der Sünde, der Verführung, aber auch der Verführbarkeit und der niedrigen Begierden. Eine patriarchale Theologie hat die Frau nämlich nicht nur für das Hereinbrechen der Sünde verantwortlich gemacht, sondern während Jahrhunderten Frausein mit sündhafter Fleischlichkeit, sexueller Verführungskunst und moralischer Schwäche gleichgesetzt und damit eine für Frauen schmerzvolle Geschichte theologisch begründeter Frauenfeindlichkeit zur Folge gehabt.

Diese Geschichte belastet bis heute das Frauenbild von Männern und das Selbstbild von Frauen. "Weibliches Körperschuldbewusstsein" nennt die Psychologin Frigga Haug das diffuse Grundgefühl von Schuld und Minderwertigkeit, das viele Frauen in unseren westlichen Gesellschaften ein Leben lang begleitet hat und in unserer Zeit durch einen quasireligiösen Schönheitskult neu genährt wird.

Ich halte fest: Trotz des ursprünglich positiven Gehalts des Inkarnationsgedankens und der damit verbundenen Abwehr leibfeindlicher Tendenzen hat das Christentum keine körperfreundliche und frauenbejahende Theologie entwickelt. Eher das Gegenteil war der Fall: Leibfeindliche Strömungen der damaligen Umwelt flossen schon sehr bald in die christliche Theologie ein, und die neuplatonische "Scham, im Leibe zu sein" siegte über die positive Sicht vom Fleisch als Träger des Heils. Leidtragende dieser Entwicklung war in erster Linie die Frau, deren Fleisch zur Projektionsfläche all dessen wurde, was männliche Theologen aus ihrem Selbstbild ausgrenzten und abwerteten: die Vergänglichkeit und Sterblichkeit des körperlichen Daseins, die Unkontrollierbarkeit der Triebe, die Begierden und die Sexualität. Körperfeindlichkeit und Frauenfeindlichkeit gingen im Christentum während Jahrhunderten Hand in Hand. Daran hat übrigens auch das theologisch positiv besetzte Bild der Gottesmutter nichts geändert. Als jungfräuliche Mutter, als sündlose, reine, a-sexuelle und himmlische Ausnahme-Frau hat Maria die Abwertung der realen, fleischlichen Frauen eher noch verstärkt.

Diese schmerzliche Geschichte müssen wir uns bewusst machen, bevor wir den Versuch unternehmen, die Lehre von der Inkarnation so auszulegen, dass sie auch die Frauen in ihrem körperlichen Sein einschliesst und für Frauen befreiend ist. Denn diese Geschichte hat uns nicht unversehrt gelassen, und sie hat auch unser Verhältnis zu unserem Frauenkörper zutiefst geprägt. Und es sind nicht zuletzt diese Wunden und Narben, die eine frauenfeindliche christliche Tradition Frauen zugefügt hat, welche in mir und andern Frauen die Sehnsucht wecken nach der Vorstellung von einem Gott, der Fleisch wird in unserem Fleisch.

 

Der Frauenkörper und die Inkarnation Gottes

Doch weshalb diese ausdrückliche Betonung der Inkarnation Gottes im weiblichen Fleisch, werden Sie sich vielleicht fragen. Genügt es denn nicht, dass wir die Menschwerdung Gottes endlich inklusiv verstehen, so dass auch die Frauen als Teil der Menschheit einbezogen sind und dass wir anstelle der exklusiven Inkarnation Gottes im Mann Jesus von Nazaret die incarnatio continua betonen, die weitergehende Menschwerdung Gottes, die Gestalt annimmt in allen Frauen und Männern, die Gott in die Welt hineintragen?

Das Bemühen vieler feministischer Theologinnen, Frauen in die Inkarnationslehre einzubeziehen, indem sie das Menschsein Jesu und das gemeinsame Menschsein von Männern und Frauen betonen, sind zwar wichtig, aber sie greifen zu kurz, meint die englische feministische Theologin Julie Hopkins. Denn indem sie die körperlich-geschlechtliche Dimension des Menschseins von Frau und Mann ausser Acht lassen, schreiben sie den Körper-Geist-Dualismus der christlichen Tradition fort. Dazu kommt, dass die Frau in ihrer Geistseele immer schon in die Gottebenbildlichkeit einbezogen war, während es ihr weibliches, körperliches Sein, ihr Fleisch, ist, das ihre Gottferne und ihren Ausschluss vom Heiligen begründet hat.

Das heisst: Nur wenn Frauen in ihrem konkreten körperlichen Sein und nicht in einem geschlechtslos-abstrakten Menschsein in das Geschehen der Inkarnation Gottes einbezogen sind, nur wenn ihr Geschlecht nicht mehr Zeichen ihres Ausschlusses von der Repräsentanz des Göttlichen und des Heils ist, kann die Lehre von der Inkarnation Gottes auch für Frauen befreiende Impulse freisetzen und die Erlösung realer Frauen auf der Suche nach ihrem Selbst, ihrer eigenen Subjektivität unterstützen, meint Julie Hopkins.[2] Wenn Gott in seiner Fleischwerdung in die Menschheit als ganzes und nicht nur in das männliche Geschlecht eingegangen ist, dann muss es theologisch möglich sein zu sagen, dass das Göttliche sich auch im weiblichen Körper inkarniert, dass auch das weibliche Fleisch gesegnet und geheiligt ist als "Trägerin" des Heils.

Was würde es bedeuten, wenn wir das wirklich sagen und vor allem auch glauben könnten? Was würde es für unser Selbstbild als Frauen bedeuten, wenn unser Körper als Ort der Fleischwerdung des Göttlichen theologisch bejaht und liturgisch gefeiert würde? Wenn wir glauben könnten, es wäre ein Gott, der Fleisch wird im Fleisch einer Frau? Denn eine der schmerzlichen Folgen der jahrhundertelangen theologischen Ausschliessung der Frauen von der Repräsentation des Göttlichen in der Gottessymbolik und der religiösen Sprache ist ja nicht nur eine lange Geschichte der Abwertung und Verachtung von Frauen und der Gewalt am Frauenkörper; eine ebenso schmerzliche Folge ist die Auswirkung, die dies auf das Selbstbild von Frauen gehabt hat: Sie hat das Bewusstsein des göttlichen Selbst von Frauen zerstört – das Bewusstsein darüber, was es heisst, Bild Gottes zu sein als Frau, das göttliche Sein und Werden in uns Frauen zu entfalten. Um unser göttliches Selbst als Frauen zur Erscheinung zu bringen – das, was wir unabhängig vom Mann und seinen Bestimmungen unseres Wesens sind bzw. wer wir sein werden – dazu brauchen wir, so die französische Philosophin Luce Irigaray, die Vorstellung einer weiblichen Transzendenz, einer weiblichen Gottheit, welche die Vollendung unserer Subjektivität darstellt und uns die Perspektive der Transfiguration unseres Fleisches eröffnen würde.[3] Was den Frauen in unserer christlichen Kultur bis heute fehlt, ist ein Spiegel, um Frau zu werden, um die eigene Subjektivität als Frauen entfalten zu können; was Frauen fehlt, ist die Repräsentation eines Weiblich-Göttlichen, ist ein symbolisch-religiöses Bezugssystem, mit dem sie ihrem Wollen und Können in der Geschichte der Menschheit Geltung verschaffen.

In freier Anlehnung an Luce Irigaray würde ich sagen: Um unser göttliches Selbst, unsere Gottebenbildlichkeit als Frauen inkarnieren zu können, brauchen wir ein religiöses Bezugssystem, eine religiöse Sprache und religiöse Symbole, welche diese Gottebenbildlichkeit manifest machen und bestätigen. Doch solche Bilder und Symbole von der Gottebenbildlichkeit und der Christusförmigkeit der Frau fehlen in der christlichen Tradition – jedenfalls in ihrer Hauptströmung.

Viele Mystiker, vor allem aber die grossen Mystikerinnen des Mittelalters haben diesen Mangel gespürt und andere, auch weibliche Bilder des Göttlichen entworfen und gleichzeitig die Gottebenbildlichkeit der Frau in ihren Texten ausdrücklich betont. So hat z.B. Hildegard von Bingen, deren 900. Geburtstag dieses Jahr gefeiert wird, die uneingeschränkte Gottebenbildlichkeit der Frau verfochten – im Unterschied zur männlichen Schultheologie des 12. Jahrhunderts, welche die Gottebenbildlichkeit der Frau gegenüber der männlichen stark herabgemindert hat. Und sie hat, was in unserem Zusammenhang von besonderer Bedeutung ist, den Leib ausdrücklich in die menschliche bzw. weibliche Gottebenbildlichkeit mit einbezogen.

Die unverminderte weibliche Gottebenbildlichkeit wird ein Jahrhundert später auch von Gertrud der Grossen von Helfta betont. Sie sieht diese Gottebenbildlichkeit der Frau auch durch Christus anerkannt und bestätigt. Weiblichkeit ist für sie kein Hindernis für Christus-Ähnlichkeit. Im Gegenteil. In einem von ihr verfassten Gespräch lässt sie Christus zu ihr sagen: "Wie ich das Ebenbild Gottes des Vaters in der Gottheit bin, so wirst du für die Menschheit das Bild meines Wesens sein. Du hast in deine von Gott geschaffene Seele das Wirken meiner Gottheit aufgenommen wie die Luft die Sonnenstrahlen."[4]

Viele Frauen fanden im 13. Jahrhundert gerade über ihren Körper, ihre Körpererfahrung, einen Weg, sich mit Christus bzw. mit dem Leib Christi zu identifizieren, der häufig als weiblich beschrieben wurde. So bezeichnen viele Mystikerinnen Jesus als Mutter; sein Leiden am Kreuz wird mit den Geburtswehen für eine neue Menschheit gleichgesetzt; das Blut, das er am Kreuz für uns vergossen hat und das in der Eucharistie den Gläubigen zur Nahrung wird, wird mit dem Menstruationsblut oder mit der Muttermilch verglichen, also mit weiblichem Bluten und Nähren verknüpft.[5] Indem die Frauen eine Ähnlichkeit zwischen Christus und dem weiblichen Geschlecht festgestellt und sein Menschsein weiblich gedacht haben, war es ihnen möglich, sich mit Christus zu identifizieren, ohne ihren weiblichen Körper verleugnen zu müssen.

Noch einen Schritt weiter gingen die sog. Vilemiten. Diese versuchten, die Heilsgeschichte bzw. die Menschwerdung Gottes zu vervollständigen, d.h. in beiden Geschlechtern sichtbar zu machen. Ihre Anführer, zwei Frauen und ein Mann, wurden um 1300 in Mailand zum Tod durch Verbrennung verurteilt, weil sie geglaubt und verkündet hatten, Gott sei nochmals Fleisch geworden, nur habe er diesmal den Körper einer Frau angenommen. Die Frau, die sie als weibliche Inkarnation, als fleischgewordenen Geist Gottes verehrten, war eine böhmische Königstochter namens Vilemina, die einige Jahre zuvor in Mailand gestorben war und von vielen als Heilige verehrt wurde. Einer der zentralen Glaubenssätze der Vilemiten war laut der Anklage der Inquisition jener, dass "Vilemina die Person des Heiligen Geistes bzw. die dritte Person der göttlichen Dreifaltigkeit und wahrer Mensch (homo) im weiblichen Geschlecht (in sexu feminino) gewesen" sei. Die Vilemiten versuchten also, die Dualität Mann/Frau in die Heilsgeschichte einzuführen, die von Gott selbst in das Schöpfungswerk eingeschrieben worden war: Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde, als Mann und Frau schuf er sie.[6]

Auch wenn keine dieser alternativen Sichtweisen prägend für die kirchliche Tradition geworden ist, so zeigen sie doch, dass die heute von feministischen Theologinnen geäusserte Kritik an einer exklusiv männlich gedachten Fleischwerdung Gottes nicht ganz neu ist und dass schon vor uns Frauen und einige Männer von einer neuen Zeit geträumt haben, in der auch Frauen die erlösenden Dimensionen des Menschseins und die göttliche Weisheit verkörpern.

 

Inkarnation im weiblichen Fleisch: Feministisch-theologische Fragmente

Damit komme ich nun nach diesen einleitenden Gedanken zum Kern des Themas: Inkarnation im weiblichen Fleisch, Menschwerdung Gottes in den Frauen, das Göttliche wird Fleisch in unserem Fleisch – was könnte es heissen, diese Vorstellungen wirklich zu denken, sie zu füllen mit unserem Leben?

Was ich im Folgenden – bruchstückhaft und assoziativ – entfalten möchte, ist keine feministische Inkarnationslehre, ja vielleicht überhaupt nicht im engeren Sinn Theo-logie, sondern eher so etwas wie Theo-phantasie oder Theo-poesie. Ich stelle Ihnen lediglich einige Gedanken vor, eigene, persönliche Gedanken, verwoben mit und genährt von den Gedanken und Texten anderer Frauen, Frauen aus der Ersten und der Dritten Welt, die mich inspiriert haben und die dazu beitragen wollen, die Leerstellen in unserem männlich besetzten religiösen Universum mit Bildern weiblicher Erfahrungswirklichkeit zu füllen. Gedanken, die nicht eine für Frauen unterdrückerische Geschichte übermalen wollen mit dem Versuch, Frauen in die Inkarnationschristologie einzuschreiben, sondern die im Bild von der Inkarnation im weiblichen Fleisch eine Möglichkeit sehen, das Verlangen des tausendfach geschundenen und missachteten weiblichen Fleisches nach Heilung und Heiligung zum Ausdruck zu bringen; unfertige und fragmentarische Gedanken, welche die Vorstellung in verschiedene Richtungen auszubuchstabieren versuchen, dass Gott Fleisch wird in unserem weiblichen Fleisch.

* * *

Von der Inkarnation im weiblichen Fleisch zu reden, heisst für mich zuallererst: von der Sakramentalität und Heiligkeit der Frauenkörper zu reden. Unser Frauenkörper, unser Fleisch und Blut, ist nicht Ort der Sünde, sondern ebenso wie der Körper des Mannes Ort der Gegenwart Gottes. Es heisst: Das Gutsein unserer weiblichen Körper als von Gott geschaffen zu bejahen, als integralen Teil unserer Gottebenbildlichkeit, als "Tempel" des göttlichen Geistes, dessen Verletzung eine Verletzung Gottes ist. Um dies sichtbar zu machen, müssen wir neue Bilder und neue Worte erfinden, die den Fluch bannen, der auf unser Fleisch gelegt wurde jahrhundertelang, Worte finden, die unser Geschlecht feiern und segnen als gute Schöpfung Gottes. Ein Text, der dies versucht, ist z.B. das Gedicht "Und Gott machte eine Frau aus mir", in dem die Frau von Gott geschaffen wird in einem Akt der Liebe. Das Gedicht stammt nicht etwa von einer Theologin, sondern von der nicaraguanischen Dichterin Gioconda Belli.

Und Gott machte eine Frau aus mir,
mit langem Haar,
Augen,
Nase und Mund einer Frau.
Mit runden Hügeln und Falten
Und weichen Mulden,
höhlte mich innen aus
und machte mich zu einer Menschenwerkstatt.
Verflocht fein meine Nerven
Und wog sorgsam
meine Hormone aus.
Mischte mein Blut
Und goss es mir ein,
damit es meinen Körper
überall bewässere.
So entstanden die Gedanken,
die Träume,
die Instinkte.
All das schuf er behutsam
Mit seinen Atemstössen
und seiner bohrenden Liebe,
die tausendundein Dinge, die mich täglich zur Frau machen,
deretwegen ich stolz
jeden Morgen aufwache
und mein Geschlecht segne.[7]

Inkarnation im weiblichen Fleisch heisst für mich: Unser Fleisch wird geliebt, auch von uns selbst. Der ärgste Feind unseres Fleisches sitzt nämlich meist tief in unseren eigenen Köpfen und Herzen: Selbstverachtung, ständige Selbstbeobachtung und Selbstzweifel, Scham, gar Ekel und Hass machen uns fremd in unserem Fleisch. Willig führen wir aus, was man in der heutigen Zeit von uns verlangt: die Zurichtung unseres Körpers entsprechend dem herrschenden, für die Mehrheit der Frauen nie zu erreichenden Körperideal. In unserer Gesellschaft gilt es als Beweis der Selbstliebe, wenn eine Frau aussehen möchte wie jemand anders, habe ich in einem Buch gelesen. Der Anblick des eigenen Körpers wird für eine Frau selten zum Hebel der Selbstliebe, der Selbsterfüllung. Doch "wie mich heiligen wollen, wenn ich nicht ich bin, nicht in mir bin?", schreibt Luce Irigaray.

Das Bild von der Inkarnation im weiblichen Fleisch bedeutet für mich deshalb auch dies: Ich nehme Wohnsitz in meinem Fleisch; ich beginne, in ihm zu Hause zu sein und "die Süsse meines Seins auszukosten" (Audre Lorde). Ich sehe in den Spiegel und spüre: Das bin ich, unverwechselbar ich. Dies ist mein Fleisch, in ihm inkarniert sich meine einmalige Individualität, in ihm lebe, liebe, arbeite, denke, tanze, lache und weine ich. Ich lerne, mich zu lieben in meinem Fleisch. Doch Selbstliebe, Selbstakzeptanz als Frau, das ist fortwährende Arbeit, ist ein Kampf nach aussen und nach innen, das ist nicht nur ein persönlicher Befreiungsprozess, sondern politische Arbeit, ist Widerstandsarbeit. "Selbstbekräftigung ist die tiefstgreifende und schwierigste politische Arbeit, die es gibt", meint die afrikanisch-amerikanische Schriftstellerin Audre Lorde,[8] die als schwarze Frau den Kampf um Selbstachtung und Selbstakzeptanz in vielerlei Hinsicht führen musste und ein Leben lang geführt hat.

* * *

Inkarnation im weiblichen Fleisch – dies meint für mich aber auch: Wir Frauen sind nicht nur Körper, wie uns eine patriarchale Welt jahrhundertelang einzureden versuchte. In unseren Körpern inkarniert sich ein schöpferischer Geist, in und durch unseren Körper wirkt die schöpferische göttliche Kraft: Das Wort wird Fleisch in uns. Aber gleichzeitig auch: Unser Fleisch wird Wort. Das heisst: Unsere Erfahrungen, unsere Gedanken, unsere Kreativität, unsere Wünsche, unsere Wahrnehmungen von uns selbst erhalten endlich eine sprachliche und symbolische Gestalt, werden Teil der Interpretation des Lebens und der Gestaltung der Welt.

* * *

Inkarnation im weiblichen Fleisch: Wir Frauen sind nicht mehr länger Gefäss der Projektionen und Wünsche von Männern. Wir beginnen, unseren Körper mit unserem eigenen Geist zu bewohnen, mit unserem eigenen Begehren und nicht dem Begehren des Mannes, ihn wahrzunehmen mit unseren eigenen Augen und nicht mit dem verinnerlichten "fremden" Blick der Männer, uns selber in ihm Tag für Tag ein Stück mehr entgegenzuwachsen und allmählich, Schritt für Schritt, seine Schönheit zu entdecken: die Schönheit unserer realen Frauenkörper, unserer unvollkommenen Körper, unserer vom Leben, Alter oder Krankheit gezeichneten Körper, die Schönheit unserer von uns selbst mit Lust und Liebe bewohnten Körper. Mit Schönheit sind also nicht die Stereotypen weisser, westlicher Schönheitsnormen à la Cindy Crawford oder Claudia Schiffer gemeint. Schönheit meint vielmehr, so die mexikanische Befreiungstheologin Maria Pilar Aquino, die Epiphanie, die Enthüllung unseres Selbst als Frauen, die Enthüllung dessen, was jede von uns in ihrer Einmaligkeit ausmacht – auch und gerade in ihrer körperlichen Erscheinungsform.

Von der Inkarnation im weiblichen Fleisch zu reden, heisst für mich deshalb auch, der Gewalt der eindimensionalen und genormten Bilder vom weiblichen Körper, die unsere Köpfe kolonisiert und unsere Seelen vergiftet haben, die Vielfalt und Fülle unserer realen, lebendigen Frauenkörper entgegenzustellen, ihre Schönheit solange in Bildern und Texten sichtbar zu machen und zu beschwören, bis wir selber an die Schönheit unserer Körper glauben. Wie zum Beispiel in der folgenden Litanei, verfasst von Mawa, einer Frau aus Chile.

Wir alle sind schön

Klein gross mittelgross
breit und schmal
kahl und behaart

unser Körper ist zart
in jedem Lebensalter
unsere Haut ist schön
in allen Farbtönen

unser Haar ist wundervoll
vielen Wasserpflanzen gleich
glatt gelockt und schillernd
schwarz gelb orange
weiss lila und rosa

wir alle sind schön
können wir es sehen?

Ich bin rund ich bin knochig
Ich bin gross ich bin üppig
Ich bin blass ich bin rot
habe lange Fingernägel oder kurze
ich bin immer eine schöne Frau

deine Brüste gross und klein
mittelgross und hängend
rund und kräftig
immer sind sie prächtig

meine breiten Füsse
deine schmalen
meine rosafarbene Haut
und deine dunkle
mein helles Haar
und dein tiefschwarzes
deine breite Nase
und ihre gekrümmte

die Schönheit ist
in jeder Frau
ob gross dunkel rund
brünett zottelig
knochig breithüftig
wie ein Apfel mit Honig
eine wunderbare riesige Tulpe
eine kleine lockige Nelke

wir alle sind schön
das sagt die Grossmutter Mond
können wir es glauben?[9]

Inkarnation im weiblichen Fleisch heisst auch: unsere Körper zum Sprechen bringen. Denn die Körper von Frauen sind Texte, die Erfahrungen und Erinnerungen in sich tragen, die es zu lesen und entschlüsseln gilt: ihre stummen Klagen, ihre Schreie, ihre Geschichten von tausendfach erlittenen Schändungen und Erniedrigungen, von Verachtung und Selbsthass, aber auch ihr Sehnen nach Würde, nach Gerechtigkeit und Heilwerden. Eine Theologie der Inkarnation müsste von diesen Texten ausgehen, die unsere Körper sind, müsste der Geschichte und den Geschichten, die sich in ihnen ver-körpern, Gehör schenken.

Für asiatische feministische Theologinnen zum Beispiel beginnt eine frauenbefreiende Theologie mit dem Lesen des Textes, der sich in den Körpern der armen, mehrfach unterdrückten asiatischen Frauen ausdrückt. Denn ihre Körper zeigen an, was ihnen in ihrem Leben widerfahren ist; ihre Körper, ihre bodies, erinnern daran, was es heisst, no-body, Niemand, oder some-body, Jemand zu sein. Die Wahrheit der asiatischen Frauen ist, so die südkoreanische Theologin Chung Hyun Kyung, eine Wahrheit, die sich in ihren Körpern inkarniert.[10] Doch nicht nur in Asien, sondern in der ganzen Dritten Welt erzählen die Körper der Frauen die Wahrheit ihres Lebens, erzählen, was es heisst, täglich für ihr Überleben und das ihrer Kinder kämpfen zu müssen, mit dem eigenen Fleisch und Blut für das Leben zu sorgen, es zu nähren und zu schützen. An ihren Körpern wird sichtbar, was es heisst, als Frau in einer Welt von Armut, Hunger, Krieg und Männergewalt zu leben.

Den Körper der Frauen zum Sprechen bringen, meint deshalb: die tatsächlichen und konkreten Erfahrungen von Frauen zur Sprache bringen – und diese Erfahrungen sind für die meisten Frauen der Dritten Welt geprägt von körperlichem Leiden, von Ausbeutung und Gewalt, vom Überlebenskampf und dem Ringen um Würde und ein volles Menschsein. Die Texte zu lesen, die unsere Körper sind, heisst daher auch, die Unterschiede zwischen Frauen wahrzunehmen. Bestimmte Körpererfahrungen, lustvolle und leidvolle, sind uns als Frauen gemeinsam, andere nicht. Die Körper asiatischer oder afrikanischer Frauen erzählen andere Geschichten als die Körper deutscher Frauen. Und auch die Geschichten, die die Körper von deutschen Frauen erzählen, sind vielfältig und verschieden. Es gibt Unterschiede zwischen uns, und wir müssen sie benennen. Auch dies gehört zum Lesen der Texte, die wir selber sind.

* * *

Von der Inkarnation im weiblichen Fleisch zu reden, heisst nicht nur, die Heiligkeit und Schönheit unseres Körper-Selbst zu bestätigen und unsere Körper mit ihren Geschichten zum Sprechen zu bringen; es heisst auch, von der Fleischwerdung Gottes in einem Körper zu reden, der verletzlich und sterblich ist, der uns durch Krankheit, Schmerzen oder Behinderung Grenzen setzt. Die christliche Lehre von der Inkarnation hat daran festgehalten, dass der göttliche Logos nicht in einen Scheinleib eingegangen ist, sondern in einen wirklich menschlichen Leib, d.h. in einen bedürftigen, hinfälligen und sterblichen Körper. So gesehen könnte die Rede von der Inkarnation Gottes auch ein kritisches Korrektiv darstellen gegenüber dem heutigen Wahn- und Trugbild des alterslosen, fiten, schlanken, durchgestylten, letztlich "unsterblichen" Körpers, das unsere westlichen Gesellschaften beherrscht und die realen Körper immer mehr zum Verschwinden bringt.

Zur Realität unserer Körper, die im heutigen Körperkult geleugnet und verdrängt wird, gehört aber nicht nur, dass sie unvollkommen und sterblich sind; zur Realität unserer Körper, vor allem des Frauenkörpers gehört auch, dass er uns immer wieder enteignet wird, instrumentalisiert, ausgebeutet und ausgenutzt und zum Opfer von Gewalt wird: zu Hause, nachts auf der Strasse, im Krieg. Was bedeutet es, von diesem Körper zu sagen, er sei Ebenbild Gottes, in ihm sei Gott gegenwärtig? Bedeutet dies: Gott ist Fleisch im Fleisch einer vergewaltigten Frau? Gott ist Fleisch im ausgezehrten Körper einer afrikanischen Frau, die ums tägliche Überleben ihrer Kinder kämpft? Gott ist Fleisch im Körper eines asiatischen Mädchens, das sich aus wirtschaftlicher Not prostituieren muss? Gott ist Fleisch im Körper einer bosnischen Frau, die von Soldaten gequält und gefoltert wird?

Die Darstellung einer nackten Frau am Kreuz, die in den letzten Jahren an vielen Orten aufgetaucht ist, versucht genau dies auszusagen, versucht diesen gemarterten Leib der Tochter Gottes, der nicht einfach sichtbar geworden ist im leidenden Körper des Gottessohnes, zu vergegenwärtigen, religiös zu versinnbildlichen – als Mahnmal gegen die Gewalt, die weltweit an Frauen geschieht, als Mahnmal ihres Leidens, das nach Beendigung, nach Erlösung schreit.

* * *

Von der Inkarnation im weiblichen Fleisch zu reden, bedeutet daher: vom Schrei nach Erlösung, vom Verlangen nach Heilwerden, von der Heilung und Heiligung der verletzten und erniedrigten Frauenkörper zu reden. Und um dieses Heilwerden von Frauen geht es denn auch feministischen Theologinnen in der ganzen Welt. Als christliche Theologinnen knüpfen sie für ihre Sehnsucht nach einem heilen Leben für Frauen, nach der Unantastbarkeit der Würde des Frauenleibes, an das Zentrum der christlichen Botschaft an: die Vision vom Reich Gottes, das in der Praxis des Jesus von Nazaret und seiner Bewegung Gestalt angenommen hat. Denn die Vision vom Reich Gottes, das Jesus verkündet und in seinem Handeln erfahrbar gemacht hat, bedeutete Heil-sein, umfassendes Schalom. Und dieses Schalom wurde sichtbar im Heilwerden von Menschen, wie die vielen Heilungsgeschichten der Bibel bezeugen. Die Praxis des Heilens – kranke, gedemütigte, dem Tode ausgelieferte Körper werden geheilt – machte den Kern der Sendung von Jesus aus, und sie galt auch den von patriarchalen Strukturen verletzten Frauen.

Die vielen Heilungsgeschichten in den Evangelien und insbesondere die Frauenheilungsgeschichten zeigen, wie die deutsche Theologin Elisabeth Moltmann-Wendel meint, einen Weg auf, die Geschichte von der Inkarnation Gottes neu zu lesen als eine Geschichte, in der Gott und Körper sich begegnen und der Körper, auch der Frauenkörper zum Ort des Heilwerdens, des Heils wird. In den meisten Frauenheilungsgeschichten findet die Heilung, wie sie zeigt, durch eine Berührung statt, wodurch dem in einer patriarchalen Umwelt latent unreinen und verachteten Körper der Frau eine religiöse und soziale Annahme und Bestätigung zuteil wird, die den betroffenen Frauen neue Lebensräume auftut. So haben alle Frauenheilungen sichtbare soziale Folgen wie z.B. Nachfolge, soziale oder religiöse Integration. Und was in unserem Zusammenhang von besonderer Bedeutung ist: An ihren Körpern wird die neue Ordnung des Reiches Gottes sichtbar, das Schalom Gottes, in das die Töchter Gottes genauso hineingenommen sind wie die Söhne Gottes. Ihr gekränkter, entmündigter, eingeschränkter Körper kann sich ausweiten, kann neue Beziehungen und Berührungen erfahren und weitergeben. In diesen Geschichten treten Frauen aus dem Schatten heraus und werden aktiv. "Die Körper der Frauen sind lebendige, beziehungsreiche, aktive, sich verändernde Mitte des Menschen, in denen das Heil Fleisch wird, leiblich wird, sich darstellt."[11]

* * *

Von der Inkarnation im weiblichen Fleisch zu reden, heisst für mich nicht nur, vom leidenden und verletzten Frauenkörper zu reden und sein Heilwerden ins Zentrum der christlichen Botschaft von der Erlösung zu stellen. Es heisst für mich ebenso, vom begehrenden und lustempfindenden Körper zu sprechen, als Frauen eigene Worte und eine eigene Sprache zu erfinden für unser erotisches Verlangen und unsere Leidenschaft; es heisst, zu lernen, "Gesänge auf die wunderbare Lust des Fleisches zu singen" (Gioconda Belli).

Die theologische Bejahung unseres weiblichen Körpers muss verbunden sein mit einer theologischen Neubewertung der Sexualität, deren Unterdrückung und Kontrolle in der christlichen Tradition ja mit jener des Körpers und vor allem des Frauenkörpers einhergegangen ist. Anders als der leidende Körper hat der sexuelle, der lustempfindende und lustvolle Körper bis heute keinen Platz gefunden in der christlichen Theologie oder gar in der Liturgie. Der einzige biblische Text in der jüdisch-christlichen Tradition, der die Schönheit der Körper von Frau und Mann und die Sexualität als fundamentale Dimension unseres göttlichen Geschaffenseins besingt und feiert, das "Hohe Lied der Liebe", wurde von der Kirche während Jahrhunderten allegorisch ausgelegt – als Beschreibung der Liebe Gottes zu den Menschen.

Das "Hohe Lied der Liebe" ist aber in Wahrheit eine Sammlung von erotischen Liebesgedichten, in denen die Schönheit der nackten Körper der Liebenden, ihre Lust, ihre Leidenschaft und Begierde in sehr sinnlichen Bildern beschrieben wird. Und die Frau ist in diesen Gedichten nicht nur Objekt des Begehrens des Mannes, sondern eben so sehr aktives und begehrendes Subjekt, das den Körper des Geliebten lustvoll betrachtet, berührt und schmeckt. Das Hohelied und seine Sprache der erotischen Liebe als "Heiligen Text" wiederzuentdecken, könnte ein möglicher Ansatzpunkt für die Entwicklung einer Theologie der Sexualität und Erotik sein, die sichtbar macht, dass die Lust und erotische Leidenschaft, die unsere Körper durchströmt, auch zur Heiligkeit des menschlichen Lebens und zur Inkarnation des Göttlichen in unserem Fleisch gehört.

Die US-amerikanische feministische Theologin Carter Heyward bezeichnet denn auch die erotische Liebe als eine "heilige" Macht. Denn sie ist die am vollständigsten "ver-körperte", leib-hafte Erfahrung Gottes als Liebe. Als solche ist sie die Quelle unserer Fähigkeit zur Transzendenz, zum Überschreiten der Grenzen des eigenen Ich zu anderen hin; sie ist die tiefste Erfahrung unserer Relationalität, unseres Verbundenseins-mit-anderen. Erotik, erotische Liebe ermöglicht uns, so Carter Heyward, die Erfahrung von Transzendenz und gleichzeitig von Immanenz: Sie lässt uns die Grenzen überschreiten zwischen unseren "Körper-Selbst", verbindet uns zu einem Fleisch und bringt uns zugleich tiefer zu uns selbst; sie ist die Erfahrung ganz bei mir und gleichzeitig ausser mir zu sein.[12] Wunderbar ausgedrückt ist diese Erfahrung für mich in einem Gedicht von Dorothee Sölle mit dem Titel "Die vollkommene Klarheit":

Zwischen der flüchtigen berührung der hände
Dem licht in den augen das einlädt
Und dem erschöpften zurückfallen in sich selber
Auf dem langen weg des ineinandergeratens
gibt es einen augenblick in der zeit
ausserhalb jeder zeit

(...)

ich kann nicht voraussagen wann
oft wenn du in mich kommst manchmal schon eher
aber in jedem akt der liebe
den wir so nennen könnten
findet die klarheit zu uns
in der zeit
ausserhalb jeder zeit [13]

Erotik als "heilige" Macht verkörpert sich nicht nur als Leidenschaft und Transzendenzerfahrung in der sexuellen Begegnung. Erotik, umfassender gedacht, ist überhaupt die Lebenskraft und schöpferische Energie in uns, meint die afrikanisch-amerikanische Dichterin Audre Lorde. Sie ist eine ungenutzte Macht, die in uns allen schlummert und die es als Quelle von Macht und Wissen als Frauen wieder zu entdecken gilt. Erotik ist ein Potential, ein "Lebens-Mittel" in uns allen; sie ist Berührung mit und Wiederentdeckung jener Lebenskraft in uns, die zurückgestutzt worden ist zur Lust der Frau am Mann und für den Mann. Wenn Audre Lorde von Erotik spricht, dann spricht sie von der Bestätigung der weiblichen Lebenskraft – "dieser machtvollen schöpferischen Energie, die wir uns nun zu unserer Erkenntnis und zu unserem Nutzen in unserer Sprache, unserer Geschichte, unseren Tänzen, unserer Liebe, unserer Arbeit und in unserem Leben zurückgewinnen"[14].

Inkarnation des Göttlichen im weiblichen Fleisch hiesse dann also auch: diese erotische, weibliche Lebenskraft wirksam werden lassen in unserem Leben und in der Welt.

* * *

Ein letzter Gedanke: Wenn wir von der Inkarnation, der Menschwerdung des Göttlichen im weiblichen Fleisch reden, dann müssen wir auch vom Anfang des Lebens reden. Jede Menschwerdung geschieht und vollzieht sich im Leib der Frau, selbst die Menschwerdung Gottes, wie das Christentum lehrt. Auch wenn dieser Ursprung des göttlichen Lebens im Schoss einer Frau, von dem die Geburtsgeschichten im Matthäus- und im Lukasevangelium erzählen, im Prolog des Johannesevangeliums (Joh 1, 1-14) bereits verdrängt wird durch den geistlich-väterlichen Ursprung des fleischgewordenen Wortes, das keine Mutter mehr kennt.

Obwohl das Christentum an Weihnachten die Geburt des göttlichen Kindes feiert, vom göttlichen Geist gezeugt und geboren von einer Frau, ist die Geburt, ist das Geborenwerden nicht zu einem zentralen religiösen Symbol des Christentums geworden. Die Geburt stand im Christentum stets im Schatten der Wiedergeburt durch die Taufe, wie Elisabeth Moltmann-Wendel meint, und war lange mit Unreinheit stigmatisiert.[15] Natalität, unsere Geburtlichkeit, war stets weniger wichtig als Mortalität, unsere Sterblichkeit. Die abendländische Philosophie und Theologie rankte sich vor allem um den Tod und die Endlichkeit des menschlichen Lebens und weit weniger um die Geburt und den Ursprung des Lebens.

Der Blick zurück auf diesen Ursprung ist nicht nur ein Blick, der die menschliche Herkunft von einer Mutter, die Bedeutung der Mutter als Ursprung eines jeden Lebens in Erinnerung ruft – wir sind Fleisch von ihrem Fleisch und verdanken ihr unser Leben; der Blick zurück auf den Ursprung des Lebens, auf das Geborenwerden führt auch zu einer anderen Sicht des Lebens selbst: Das Leben wird nicht mehr nur als ein Leben zum Tode hin gesehen, sondern auch als Verheissung eines immer wieder möglichen Neuanfangs.

"Uns ist ein Kind geboren" – so begründet die Philosophin Hannah Arendt, die den Begriff der "Geburtlichkeit" in die Philosophie eingeführt hat, ganz inkarnatorisch diese Weltsicht. Sie spricht von der "Geburtlichkeit, kraft derer jeder Mensch einmal als einzigartig Neues in der Welt erschienen ist" als dem Wiedererscheinen des Anfangs, der jedem menschlichen Lebewesen anzeigt, dass es zur Welt kam, um einen neuen Anfang zu setzen und nicht, um zu sterben. "Weil jeder Mensch auf Grund des Geborenseins ein initium, ein Anfang und Neuankömmling in der Welt ist, können Menschen Initiative ergreifen, Anfänger werden und Neues in Bewegung setzen."[16]

Der Neuanfang ist stets unvermutet, weil jeder neugeborene Mensch eine Überraschung ist. Ein neuer Anfang ist da.

Ein neuer Anfang ist da, ein Neuanfang geschieht, dies sagt auch die Geburt des göttlichen Kindes im Lukas-Evangelium aus, meint die brasilianische feministische Theologin Ivone Gebara. Denn die Geburt des Kindes symbolisiere eine Neuschöpfung der Menschheit, die in diesem Kind ihren Anfang nimmt; die Krippe sei der Geburtsort der Hoffnung und werfe uns Menschen, Frauen und Männer, auf unsere Fähigkeit zurück, dem Göttlichen, der Essenz unseres eigenen Fleisches, zur Geburt zu verhelfen.[17]

Inkarnation im weiblichen Fleisch, dies heisst also auch – und mit diesem Bild möchte ich schliessen – dem göttlichen Werden in uns Gestalt zu geben, einen neuen Anfang zu setzen als Frau, die eben erst geboren wird und noch voller überraschender Möglichkeiten ist.

 

Doris Strahm

 

Fussnoten:

1  Beim vorliegenden Text handelt es sich um eine ergänzte Fassung des Vortrags "Inkarnation im weiblichen Fleisch – Feministisch-theologische Gedanken und Inspirationen" an der Paulus-Akademie Zürich, vom 21. März 1998.

2  Vgl. Julie Hopkins, Feministische Christologie. Wie Frauen heute von Jesus reden können, Mainz 1996.

Luce Irigaray, Göttliche Frauen, in: Dies., Genealogie der Geschlechter, Freiburg i. Br. 1989, 106.

4  Elisabeth Gössmann, Religiös-theologische Schriftstellerinnen, in: Geschichte der Frauen, Bd. 2: Mittelalter, Frankfurt/New York 1993, 505.

5  Vgl. dazu Caroline Walker Bynum, Fragmentierung und Erlösung. Geschlecht und Körper im Glauben des Mittelalters, 79.

6  Vgl. Luisa Muraro, Vilemina und Mayfreda. Die Geschichte einer feministischen Häresie, Freiburg i.Br. 1987.

Gioconda Belli, Wenn du mich lieben willst, Wuppertal 1985, 32.

Audre Lorde, Lichtflut. Neue Texte, Berlin 1988, 71.

9  Aus: Bärbel Fünfsinn u.a. (Hg.), Töchter der Sonne. Unterwegs zu einer feministischen Befreiungstheologie in Lateinamerika, Hamburg 1996, 137-138.

10  Vgl. Chung Hyun Kyung, Schamanin im Bauch – Christin im Kopf, Stuttgart 1992.

11  Elisabeth Moltmann-Wendel, Wenn Gott und Körper sich begegnen, Gütersloh 1989, 43.

12  Carter Heyward, Touching Our Strength. The Erotic as Power and the Love of God, San Francisco 1989.

13  Dorothee Sölle, Verrückt nach Licht. Gedichte, Berlin 1984, 74.

14  Audre Lorde, Vom Nutzen der Erotik: Erotik als Macht, in: Dagmar Schultz (Hg.), Macht und Sinnlichkeit, Berlin 1983, 189.

15  Elisabeth Moltmann-Wendel, Frauenkörper als Ort des Heils, in: FAMA 4/1997, 5.

16  Hannah Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben, München/Zürich 1981, 215.

17  Vgl. Ivone Gebara, The Face of Transcendence as a Challenge to the Reading of the Bible in Latin America, in: Elisabeth Schüssler Fiorenza (ed.), Searching the Scriptures, Vol. 1, New York 1993, 184.

 

 

© Doris Strahm 1998