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An Aurelius Augustinus

 

Hl. Augustinus,

seit Wochen trage ich mich mit dem Gedanken, Dir diesen Brief zu schreiben, und jetzt, wo ich dieses Vorhaben in die Tat umsetzen will, weiß ich nicht mehr, wo ich beginnen soll mit all den Fragen, die mich bedrängen bei der Lektüre Deiner Schriften, die ich nicht lesen kann ohne das Wissen um die Wirkung, die Deine philosophisch-theologischen Ideen während Jahrhunderten nicht nur auf das kirchliche, sondern das westliche Denken überhaupt gehabt haben, und die in bestimmten Einstellungen bis heute weiterwirken, besonders in jenen gegenüber den Frauen und der Sexualität. Ja, ich gebe es zu: Ich lese Deine Schriften nicht vorurteilslos – auch wenn ich versuche, die persönlichen und zeitgeschichtlichen Hintergründe Deines Denkens zu verstehen – sondern mit den Augen einer Frau, die auf eine christliche Geschichte der Unterdrückung und Verachtung von Frauen, der Sinnen- und Leibfeindlichkeit zurückblickt, die Du zwar nicht allein verschuldet hast, zu der Du aber wesentliche theoretische Grundsteine gelegt hast. Sexualität und Frauen: ein heikles Thema, mit dem ich Dich hier konfrontiere, ich weiß, hat Dich doch zeitlebens kaum etwas mehr bedrängt, als die Versuchung des «Fleisches», die ungezügelte Begierde, die zu bekämpfen während Jahren ein starker Antrieb Deines Denkens und Handelns war. Beim Lesen der «Bekenntnisse», in denen Du, inzwischen bereits Bischof von Hippo geworden, Deine eben entwickelte Gnadenlehre rückblickend am Beispiel Deines eigenen Lebens verdeutlichst, indem Du Deine Entwicklung von der Kindheit bis zur «Bekehrung» im Alter von 32 Jahren unter dem Motto «die Gnade siegt auch gegen Widerstände» darstellst, ist mir klar geworden, wie sehr Deine «Bekehrung» weniger als Wechsel zu einem christlichen Glaubensbekenntnis denn als Ergebnis eines Kampfes gesehen werden muß, den Du seit Jahren gegen die Eigenmächtigkeit Deiner sexuellen Impulse geführt hast, und den Du mit der Selbstverpflichtung, von jetzt an auf jeden Beischlaf, auf Ehe und Vaterschaft zu verzichten, zu beenden suchtest. Die Bekehrung zum Christentum war für Dich deshalb zunächst eine Bekehrung zur Enthaltsamkeit. Wie sehr Du Dich mit Deiner Geschlechtlichkeit geplagt hast, zeigt auch die Abscheu, mit der Du in den «Bekenntnissen» von Dir und Deiner Begehrlichkeit sprichst: ein Bild ekler Fäulnis, Sumpf fleischlicher Begierde, abgründige Finsternis der Wollust. Eine Abscheu, die wir heute, angesichts Deines keineswegs übermäßig ausschweifenden Lebens, wohl pathologisch nennen würden. Doch dies alles ginge noch an, hätte Dein persönlicher Konflikt, Dein Sexualpessimismus nicht auch Deine theologische Konzeption von der Erbsünde bzw. Gnadenwahl Gottes entscheidend beeinflußt.

 

So laß mich also noch etwas näher auf diese eingehen, da sie nicht nur hinsichtlich der Beurteilung der Sexualität wohl das dunkelste Kapitel des Erbes darstellt, das Du uns hinterlassen hast. Zugrunde liegt ihr, wenn ich Dich recht verstehe, folgender Gedankengang: Die Welt sieht nicht so aus, als komme sie von einem allmächtigen, gerechten Schöpfer. Gott muß aber gerecht sein, also ist der jetzige Weltzustand die Strafe für eine von der Menschheit begangene Sünde. Diese Sünde aber, und dies ist nun Deine ureigene Auffassung, ist von Adam ans ganze menschliche Geschlecht übergegangen und vererbt sich durch unsere menschliche Natur. Sie ist also nicht Sache unseres Willens, unseres richtigen oder falschen Handelns, sondern es war unsere Natur, die im Paradies gesündigt hat, und durch diese Sünde sind «wir alle ein einziger Klumpen Dreck» geworden. «Seitdem gebührt allen, sieht man von der Barmherzigkeit Gottes ab, die ewige Verdammung», wie Du schreibst. Daß nicht alle Menschen dieser Verdammung anheimfallen, sondern einige wenige zum ewigen Heil bestimmt sind, ist allein der Gnade und Barmherzigkeit Gottes zuzuschreiben, der einige Menschen erwählt, während er die Mehrheit der Menschen verdammt. Erlöst wird, wen Gott erlösen will. Eine solche Lehre der göttlichen Vorsehung scheint mir heute ungeheuerlich, ebenso wie das Gottesbild, das darin zum Ausdruck kommt. Dein Gott ist ein grausamer Tyrann, ein Willkürgott, der nicht will, daß alle Menschen gerettet werden, der die Menschheit braucht, um an ihrer Verdammung seine Gerechtigkeit und an der Erwählung einiger weniger seine Gnade zu demonstrieren. Eine Gottesvorstellung, die mit jener Jesu, der einen Gott der umfassenden und bedingungslosen Liebe und Güte verkündet hatte, der über Gerechte und SünderInnen in gleicher Weise die Sonne scheinen und Regen fallen läßt, nichts, aber auch gar nichts mehr gemein hat, sondern eine Theo-Logie vorbereitet, die auf die Frage nach Unrecht und Leid während Jahrhunderten nur eine Antwort zu geben vermag: weil Gott es gewollt hat.

 

Die Weichenstellung, die Du mit Deiner Lehre von der Erbsünde und Gnadenwahl nicht nur für das christliche Gottesverständnis, sondern ebenso für das Menschenbild vorgenommen hast, ist wohl kaum zu überschätzen. Ein negativ-tragischer Humanismus durchzieht von nun an das christliche Abendland: der Mensch ist sündig, durch und durch, und was er an Gutem vermag, ist nicht ihm, sondern der Gnade Gottes zuzuschreiben, die in ihm wirkt. Wie sehr sich gerade hinter dieser Vorstellung Deine eigene Problematik verbirgt – der Du die Eigenmächtigkeit Deiner sexuellen Regungen Deinem Willen nicht unterwerfen konntest und dies als Zeichen Deiner sündigen Existenz gedeutet hast, aus der Dich allein Gott dank seiner Gnade errettet hat – kommt in Deinen Schriften immer wieder zum Ausdruck und macht auch die negative Bedeutung verständlich, die Du der Sexualität im Rahmen Deiner Erbsündenlehre hast zukommen lassen. Denn sexuelle Lust und die Wildheit der sexuellen Regungen sind für Dich ein Beweis der Erbsünde. Sie sind, was Du die böse Begierde, Konkupiszenz, nennst.

 

Die Erbsünde bedeutet den Verlust der ursprünglichen Gnade und damit die Freisetzung «bestialischer Regungen», wie Du wörtlich schreibst, derer der Mensch sich schämen muß. Die Erhebung des Menschen gegen Gott hat die Erhebung des Niederen im Menschen gegen sein Höheres zur Folge. Das «Fleisch» gehorcht nicht mehr dem Willen. Hast Du ursprünglich die Körperlichkeit und unsere Art der Fortpflanzung überhaupt als Folge des Sündenfalls verstanden, so genehmigst Du Adam und Eva später doch einen materiellen Körper und verstehst die Fortpflanzung als von Gott gewollt, auch wenn Du Adam von diesem Privileg nur einen eingeschränkten Gebrauch machen läßt: denn Lust sollte er dabei nicht empfinden, seine sexuellen Impulse sollten keine Eigenmächtigkeit zeigen.

 

Daraus ergibt sich eine höchst merkwürdige Ehelehre: Die Ehe gilt Dir als gottgewollt, da die Fortpflanzung nötig ist, der sexuelle Akt dagegen als schändlich wegen der Lustempfindung und der Eigenwilligkeit der sexuellen Begierde. Deshalb ist alles, was aus dem Beischlaf geboren wird «Sündenfleisch», hat alles, was geboren wird, Teil an der Ursünde. Entschuldigt werden kann der in sich stets sündhafte Beischlaf nur dadurch, daß die Eheleute nicht die Lust, sondern den Zweck der Ehe anstreben: die Fortpflanzung und die Pflichtleistung gegenüber dem Partner. Was uns heute als neurotisch-verdrehte Konstruktion anmutet, hat weittragende Folgen gehabt: Sie hat nicht nur Sexualität und Sünde beinahe gleichgesetzt, körperliche und «geistige» Liebe voneinander getrennt, sondern sie bestimmt in abgeschwächter Form die katholische Ehelehre bis heute und hat die Lebensgeschichte vieler Menschen, vor allem aber unzähliger Frauen bis in die Gegenwart hinein mit quälenden Spannungen und Schuldgefühlen belastet. Dies kann ich Dir schwerlich verzeihen, ebensowenig wie das Bild von uns Frauen, das Du auf dem Hintergrund einer solchen Konzeption entworfen hast. Denn der einzige Zweck, den Du für unsere Erschaffung anzugeben weißt, ist unsere Hilfsfunktion bei der Fortpflanzung, wobei Du unsere Rolle mit derjenigen der Erde vergleichst, die den Samen aufnimmt. Für alle anderen Zwecke dagegen wie die Arbeit, das Zusammenleben und Miteinanderreden wäre Deiner Meinung nach dem Adam mit einem anderen Mann weit besser gedient gewesen. (Es erstaunt mich deshalb nicht, dies nur nebenbei bemerkt, daß Du Deine langjährige Freundin, mit der Du über zehn Jahre zusammengelebt und einen gemeinsamen Sohn, Adeodatus, gehabt hast, in Deinen Schriften nicht einmal mit Namen erwähnst, sondern nur kurz darauf hinweist, daß Du sie auf Drängen Deiner Mutter zwecks einer standesgemäßen Heirat entlassen hast. Und wenn Du Dir später im Hinblick auf diese Entscheidung etwas vorwirfst, dann nicht etwa, daß Du Deine Lebensgefährtin Deiner Mutter und Deiner Karriere geopfert und sie ohne Sohn nach Afrika zurückgeschickt hast, sondern daß Du die Ehe und damit weltliches Glück angestrebt hast.)

 

Da Du in uns Frauen im wesentlichen nur Gebärmaschinen und sündige Geschlechtswesen sehen konntest, können wir für Dich nur in unserer Geistseele Abbild Gottes sein; auf der Ebene des Leiblichen aber sind wir für den Mann geschaffen und ihm unterworfen und Abbild Gottes nur zusammen mit dem Mann. Der Mann dagegen ist für sich allein Bild Gottes so vollkommen und ganz wie in seiner Verbindung mit der Frau. Theomorph ist im eigentlichen Sinne also nur der Mann! Dieses Ergebnis, das sich in unserer westlichen Kultur fast anderthalb Jahrtausende behauptet hat, kann in seiner Auswirkung auf das Frauenbild, auf den geistigen Mord an der Würde und Selbstachtung von Frauen kaum genügend hoch veranschlagt werden. Und es hat eine Tradition der Frauenverachtung und Frauenfeindlichkeit verstärkt, die in den Hexenverfolgungen wohl nur ihren brutalsten Höhepunkt, aber keineswegs ihren Abschluß gefunden hat. Natürlich ist diese frauenfeindliche Wirkungsgeschichte nicht allein Dir anzulasten. Und ich sehe bei aller Empörung auch ein, daß viele Deiner Vorstellungen nicht nur aus Deinem biographischen, sondern ebenso aus dem kulturellen und philosophischen Hintergrund zu verstehen sind. So läßt die extreme Geringschätzung der Sexualität, wie sie etwa in Deiner Erbsündenlehre zum Ausdruck kommt, auch auf ein Nachwirken der manichäischen Lehre schließen, deren extrem dualistisch-leibfeindlicher Philosophie Du immerhin neun Jahre lang angehangen bist, und die Du – trotz Bekehrung zum Christentum – wohl nie ganz überwunden hast. Und auch Deine Leitidee von der Glückssicherung durch Abkehr von der Welt, vom Streben nach der «ewigen Wahrheit», nach Gott, durch die Unterwerfung des Sinnlichen unter das Geistige, ist von philosophischen Strömungen Deiner Zeit beeinflußt. Aber alles zu verstehen, heißt nicht, gleichzeitig auch alles zu verzeihen. So leicht kann und will ich es Dir nicht machen. Gewiß, Du warst ein Kind Deiner Zeit, aber diese Zeit kannte auch andere Kinder. Und ich frage mich, wie die Geschichte des Christentums wohl verlaufen wäre, wenn sich in der Erbsündenlehre beispielsweise die Position Deines Gegners Pelagius durchgesetzt hätte, der meines Erachtens der biblischen Sicht vom Menschen sehr viel näher kam als Du, wenn er an der Freiheit des Menschen festhielt, der nicht nur die Fähigkeit zur Sünde, sondern ebenso die Fähigkeit zum Guten besitzt, und es mit der Gerechtigkeit Gottes für unvereinbar hielt, vom Menschen sittliche Vervollkommnung zu fordern, wenn er dazu außerstande wäre. Diese Sicht, die sich bei Pelagius mit einem ethisch rigorosen Humanismus verband, der Deiner Lehre von der ererbten Schuld und göttlichen Gnadenwahl entgegenstand, hast Du mit allen Mitteln, durch Intrigen und Mobilisierung der Staatsgewalt, so lange bekämpft, bis sie als Häresie verurteilt wurde. Und so bist nicht etwa Du, sondern Pelagius als Häretiker in die Geschichte eingegangen, und Deine unbiblische Sicht des Menschen und der Sünde ist zur orthodox christlichen geworden, auch wenn sie später etwas abgeschwächt wurde.

 

Meine Empörung gilt deshalb nicht nur Dir, sondern stärker noch einer Kirche, die Dich zum Heiligen und Kirchenvater erklärt und damit eine Theologie als wahrhaft christlich sanktioniert hat, die während Jahrhunderten ein Menschen- und Frauenbild prägte, das von der Freiheit eines Christenmenschen und der biblischen Botschaft von der Gottebenbildlichkeit, der Gleichheit und Würde von Mann und Frau in Christi kaum mehr etwas ahnen ließ; einer Kirche, die im Verlauf ihrer Geschichte immer wieder den frauen- und sinnenfeindlichen Traditionen den Vorzug gegeben hat.

 

Und ich empöre mich über meine Kirche, die römisch-katholische Kirche, die bis heute in vielerlei Hinsicht nicht über Deine Ansichten hinausgekommen ist, was ihr Frauenbild und ihre beinahe zwanghafte Fixierung auf die Sexualität bzw. Sexualmoral anbelangt, und die es möglich macht, daß Deine «Bekenntnisse» in gewisser Hinsicht noch immer erschreckend aktuell sind und sich streckenweise wie das Psychogramm des heutigen Klerikerstandes lesen lassen.

 

Ob Du angesichts der Spuren, die Dein Denken hinterlassen hat, angesichts der Leibfeindlichkeit, der Frauen- und Lebens-Verachtung, der Du eine christliche Stimme verliehen hast, wohl den Mut zur Scham aufbringen und ein wenig Erschrecken zeigen würdest über den Gebrauch, den man(n) während Jahrhunderten von Deinen Gedanken zu machen wußte?

 

Mit dieser Frage verbleibe ich,

 

Doris Strahm, Aurelius Augustinus, in: Verehrter Galileo! Briefe an Ketzer und Heilige, hg. Raul Niemann – Gütersloh 1990, 1520

 

© Doris Strahm 1990